Wie kaum ein anderes Thema je zuvor beherrscht Corona die politische Debatte in Deutschland. Wie fällt eine erste Bilanz aus? Auf der Habenseite steht ein großer Konsens über Parteigrenzen hinweg, wenn es um eine Einschätzung der Lage geht. Die Debatte ist durch ein insgesamt hohes Vertrauen in die Regierung, in andere staatliche Institutionen und die Medien geprägt. Sie ist zum großen Teil sachorientiert. Zudem ist sie keineswegs so stark polarisiert wie etwa in den USA. Die Erkenntnisse der Wissenschaft spielen eine große Rolle. Gleiches gilt für den Blick in die übrigen europäischen Länder; was bei den Nachbarn passiert, ist nicht egal.
Dies sind wichtige Stärken, unbestritten. Doch nach einem Jahr treten auch die Schwächen der hiesigen Debatte klar zutage. Einige Probleme stechen dabei heraus. Die Debatte ist erstens oft oberflächlich. In bislang unbekannter Weise wird sie von Zahlen beherrscht. Diese wirken objektiv und unwiderlegbar, doch sie sind es nicht. Zahlen zu Infektionen, Verstorbenen und – neuerdings – Geimpften sind unbestritten wichtige Gradmesser, aber sie werden häufig unkritisch als bare Münze genommen und nicht in den Kontext gesetzt. Die Anzahl der Corona-Tests etwa wird allenfalls in einem Nebensatz erwähnt, obwohl diese Information entscheidend für das Verständnis der Infektionszahlen ist. Die Infektionszahlen wiederum werden pauschal betrachtet, obwohl es einen großen Unterschied macht, in welchen Altersgruppen das Virus grassiert. Verzögerte Meldungen von Infektionszahlen sind für das Verständnis der Lage wichtig, aber die Debatte nimmt von diesen Verzögerungen kaum Notiz. Zahlen zu Infektionen, Verstorbenen und Impfungen werden zur vermeintlich entscheidenden Größe in der Bewertung von Ländern und politischen Systemen.
Die Debatte wird zweitens von Schlagworten wie „harter Lockdown“ oder „weitere Beschränkungen“ dominiert. Meinungsumfragen erforschen, ob Befragte für oder gegen Maßnahmen sind, die darauf zielen, „das öffentliche Leben herunterzufahren“. Diese abstrakte Debatte erschwert das Abwägen von Alternativen. Wissenschaftlich belastbare Kosten-Nutzen-Analysen von Einzelmaßnahmen fehlen. Stattdessen wird häufig nach dem Motto „Viel hilft viel“ oder „Viel schadet viel“ diskutiert.
Das Gespräch über die Pandemie wird vor allem mit Gleichgesinnten gepflegt. Über die Gegenseite wird ausführlich gesprochen – mit ihr aber nur selten.
Die deutsche Debatte ist zwar drittens nicht so stark polarisiert wie die amerikanische, aber auch sie ist politisiert und emotionalisiert. Das Gespräch über die Pandemie wird vor allem mit Gleichgesinnten gepflegt. Über die Gegenseite wird ausführlich gesprochen – mit ihr aber nur selten. In den sozialen Medien wird geteilt, was die eigene Position bestätigt; gegenläufige Positionen werden zwar verbreitet, zumeist aber nur in der Absicht, sie zu diskreditieren. Es wird akzeptiert, was der eigenen Überzeugung und Lebenswirklichkeit entspricht. Zudem wird die Debatte stark von Einzelschicksalen und wirkmächtigen Bildern geprägt. So gibt es kaum einen Beitrag, der ohne Bilder mit Masken und Schutzanzügen auskommt.
Politisierung und Emotionen sind zur Bewältigung der Pandemie notwendig, und doch sind sie gleichzeitig ein Problem. In einer Debatte, in der es scheinbar für viele entweder Corona-Leugner oder Schlafschafe gibt, können abwägende Äußerungen einen hohen politischen Preis haben. Kritische Selbstreflexion birgt ein hohes politisches Risiko. Lob von der falschen Seite kann zur politischen Hypothek werden. Der Wucht des Einzelschicksals und der Bilder ausgesetzt, werden abwägenden Stimmen schnell Herzlosigkeit, Zynismus und Verantwortungslosigkeit vorgeworfen. Im Ergebnis wird es schwerer, aus Fehlern zu lernen, was angesichts der Komplexität und der Unsicherheiten der Pandemie schwierig ist. Es gibt kaum Stimmen, die über Lagergrenzen hinweg Glaubwürdigkeit ausstrahlen.
Die Debatte ist häufig kurzatmig, gehetzt und strategielos. Seit Ausbruch der Pandemie ist klar, dass wir einen Marathon laufen. Dieses Bild wurde seit März 2020 gepflegt, doch in der Debatte selbst gibt es nur wenige Marathonläufer. Statt ernsthaft über die Gesamtdistanz zu diskutieren und zu planen, werden kurzatmig Zwischensprints eingelegt. Welche Schritte uns gut bis zum Ende der Pandemie tragen könnten, wird dagegen nicht diskutiert. Die öffentliche Debatte hätte stärker an Szenarien ausgerichtet werden, die kommenden Wellen stärker in den Blick genommen werden müssen. Dies ist nicht geschehen. Die Folgen sind oft dramatisch, wie der weiterhin unzureichende Schutz vieler Pflegeheime oder die schleppende Vorbereitung von Online-Unterricht an Schulen zeigen.
Die Debatte ist oft gebetsmühlenartig; sie bleibt in Nebensächlichkeiten gefangen.
Die Debatte ist oft gebetsmühlenartig; sie bleibt in Nebensächlichkeiten gefangen. Corona nimmt einen riesigen Raum in der Berichterstattung ein – nach Untersuchungen der Universität Zürich waren im Frühjahr 2020 über 70 Prozent der gesamten Berichterstattung dem Virus gewidmet. Nie gab es eine derartig monothematische Zeit. Aber der breite Raum hat nicht dazu geführt, dass Vielfalt und Tiefe der Berichterstattung im gleichen Maße zugenommen hätten.
Stattdessen werden bestimmte Aspekte der Pandemie von Medien überrepräsentiert, während andere Themen wenig Aufmerksamkeit finden. Staus auf den Straßen zu Skigebieten oder vermeintliche Privilegien für Geimpfte machen Schlagzeilen, aber der unzureichende Schutz von Pflegeheimen, die drastischen Auswirkungen von Corona-Maßnahmen auf arme Staaten oder die rasante Zunahme der öffentlichen Verschuldung finden vergleichsweise wenig Beachtung. Wie eine Karawane zieht die Debatte von einem Thema zum nächsten – nachdem Schulschließungen zu Beginn des Monats Konjunktur hatten, steht nun das Homeoffice im Mittelpunkt. Zudem korrespondieren die Fülle der Berichterstattung und die Breite unterschiedlicher Expertise nicht: Einige Expertinnen und Experten wurden zu Medienstars, andere kamen nur selten zu Wort. Insgesamt fehlt ein starker Wissenschaftsjournalismus, der selbst recherchiert und in der Lage ist, Experten kritische Nachfragen zu stellen. Meist werden die Meinungen der Fachleute unkommentiert wiedergegeben.
Wir werden nie erfahren, was gewesen wäre, wenn die Corona-Debatte nicht unter diesen Defiziten gelitten hätte. Es ist möglich, dass sie auch ohne diese Probleme zu den Maßnahmen geführt hätte, die letztlich ergriffen wurden. Notwendig ist aber dennoch eine gründliche Aufarbeitung der Pandemie. Sie darf nicht nur die medizinischen Fähigkeiten Deutschlands und die Effektivität des Verwaltungshandelns umfassen. Auch die Qualität der öffentlichen Debatte sollte gründlich beleuchtet werden.