Das weltweite Demokratieniveau ist nach aktuellen Daten wieder auf den Stand von 1989 zurückgefallen. Die letzten 30 Jahre des demokratischen Fortschritts sind somit ausgelöscht. Gegenüber dem Rückgang der Demokratien zeichnet sich ein Autokratisierungsprozess in 33 Ländern (mit 36 Prozent der Weltbevölkerung) ab. Ein ähnlicher Prozess ist auch bei einem Fünftel der EU-Mitgliedstaaten zu beobachten, als Beispiel werden vor allem Ungarn und Polen angeführt, gefolgt von Rumänien und Bulgarien, insbesondere was die fehlende Balance der Institutionenkontrolle zwischen Judikative, Exekutive und Legislative betrifft.
Viele Mitgliedstaaten der EU weisen zudem eine große Regierungsfluktuation auf: In 21 Staaten gab es im Zeitraum der letzten beiden planmäßigen Legislaturperioden mindestens einen Regierungswechsel, in Bulgarien vier, sechs in Österreich und sieben in Italien und Rumänien. In fünf EU-Staaten hat die Regierung keine Mehrheit im Parlament. Und damit nicht genug. Die deutsch-französische Achse ist kein Motor mehr für große europäische Themen. Auch sonstige Bündnisse wie „Visegrad“ oder die „Frugalen Vier“ sind mittlerweile erlahmt. Durch diese Heterogenität im Gefüge des Europäischen Rates erscheint es leichter, Entscheidungen zu blockieren.
Gewinner dieser Entwicklung ist die Europäische Kommission. Sie zieht noch mehr als bei den bisherigen Krisen durch neue Mechanismen (Troika, Europäisches Semester, Defizitverfahren) neue Kompetenzen an sich beziehungsweise wird sie damit vom Europäischen Rat betraut. Entlang der Blaupause der vergemeinschafteten Impfstoff-Beschaffung wird dieses Modell auf weitere Sektoren und Produkte ausgeweitet – wie unter anderem im Rahmen der Rohstoffstrategie, bei Rüstungsgütern sowie bei der Beschaffung von Energieträgern. Ein bedenklicher Wandel hin zur Expertokratie.
Die kommenden zwei Jahre werden ein noch größerer Stresstest für das System der EU. Denn die Welt befindet sich in einer „geopolitischen Depression“ durch eskalierende Rivalität von Wirtschafts- und Militärblöcken, die zu einer globalen Aufrüstung selbst von Ländern wie Japan führt, die bisher eine Politik der Beschwichtigung übten. Infolge immer höherer Energiekosten sowie der Inflation ist ein Erstarken radikaler Kräfte zu Ungunsten der demokratischen Mitte nicht unrealistisch. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich im Hinblick auf die Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2024 die Frage, wie sich Europa als demokratische Einheit behaupten kann.
In allen Wahlen fällt die Zunahme der Enthaltung sowie der Erfolg populistischer Parteien auf.
Im Mai 2022 konnte sich Emmanuel Macron zwar nach der Stichwahl mit der Rechtspopulistin Marie Le Pen in Frankreich durchsetzen. Der demokratische Rückhalt für sein Mandat ist jedoch mit einer Wahlbeteiligung von 60 Prozent an einem Tiefpunkt, der zuletzt 1969 erreicht worden war. Macron ist sich dessen bewusst und adressierte ausdrücklich die Nichtwählerinnen und Nichtwähler: „Ihr Schweigen zeugt von einer Weigerung, eine Entscheidung zu treffen. Darauf müssen wir eingehen.“ In Deutschland sieht sich Bundeskanzler Scholz ebenfalls mit Kritik konfrontiert, weil seine demokratische Legitimation lediglich auf 25 Prozent der Wählenden aufbaut. Im Gegensatz zu Frankreich und Deutschland wurde in Italien mit den „Brüdern Italiens“ (Fratelli d’Italia) eine rechtspopulistische Partei in die Regierung gewählt und das mit der niedrigsten Wahlbeteiligung in der Geschichte des Landes, die bei nur 64 Prozent lag. Die Entwicklung geht also in Richtung „exklusiver Demokratie“, in der nennenswerte Teile der Zivilgesellschaft ihr Wahlrecht nicht in Anspruch nehmen.
Dasselbe Bild zeigt Europa insgesamt. Waren es in Westeuropa 1975 noch durchschnittlich 82 Prozent, so gingen 2012 nur noch 75 Prozent der Wahlberechtigten zu den Wahlen. In Osteuropa ist der Wählerrückgang noch dramatischer: Von 72 Prozent im Jahr 1991 sank die Wahlbeteiligung 2012 auf 57 Prozent. Die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen fiel von 62 Prozent im Jahr 1979 auf 51 Prozent im Jahr 2019.
In allen Wahlen fällt die Zunahme der Enthaltung sowie der Erfolg populistischer Parteien auf. Ein Hinweis darauf, wie unwichtig die politische Beteiligung an der „res publica“ für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger geworden ist. Steht also der Kollaps der Demokratien bevor, oder stehen die reifen Demokratien heute doch besser da als vor 50 Jahren? Einerseits hat sich die Situation von Frauen, Minderheiten und liberalen Rechten sicherlich stark verbessert. Andererseits haben sich die Privilegierten zu gut eingerichtet in ihrer Zweidritteldemokratie. Denn das untere Drittel wurde wirtschaftlich, sozial und kulturell abgehängt. Dies ist das gebrochene Versprechen der Demokratie, die neben der Freiheit immer auch auf der Gleichheit ruhen muss. Ist dies nicht der Fall, wird dieser Zustand treffend als defekte Demokratie bezeichnet.
Menschen, die unzufrieden mit demokratischen Institutionen sind, sind nicht zwangsläufig systemfeindlich.
Dabei zeigt eine Umfrage, dass die Zustimmung für die Idee der Demokratie in Europa hoch ist. Im Gegensatz dazu ist die Zufriedenheit mit ihrer Funktionsweise deutlich niedriger. Menschen, die unzufrieden mit demokratischen Institutionen sind, sind demnach nicht zwangsläufig systemfeindlich, sondern enttäuscht von ihrer Leistungsfähigkeit. Das eigentliche Problem ist dabei nicht die Höhe der Wahlbeteiligung an sich, sondern die mit ihr einhergehende soziale Selektivität. Denn als empirisch gesicherte Faustregel kann gelten: Mit sinkender Wahlbeteiligung steigt die soziale Exklusion.
Die Kombination von Globalisierung und Deregulierung der Märkte hat in den entwickelten Gesellschaften die Spaltung der Gesellschaft befeuert: in arm und reich, gebildet und ungebildet, mobil und immobil. Die Verteilung der Lebenschancen basiert meist nicht primär auf eigener Leistung, sondern unterliegt vor allem der Zufallskuratel ungleicher Herkunft. Die unteren Schichten haben jeden Grund, dem Gleichheitsversprechen unserer Demokratie zu misstrauen.
Und die ökonomische Spaltung der Gesellschaft findet ihre Parallele im öffentlichen Diskurs. Dieser ist von den kosmopolitischen Meinungseliten und den gebildeten Mittelschichten unserer Gesellschaft geprägt. Sie treten für offene Grenzen ein: offen für Güter, Dienstleistungen, Kapital und Menschen, seien sie Arbeitskräfte oder Geflüchtete. Sie sind bereit, nationalstaatliche Souveränitätsrechte aufzugeben, um auf europäischer oder globaler Ebene transnationale Probleme unter Umständen auch supranational zu lösen. In diesem für unselbständig Beschäftigte unsicheren Umfeld steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie kommunitaristischen Positionen zuneigen. Diese beschreiben traditionelle Werte, die Verankerung in einer überschaubaren Gemeinschaft, das Vertrauen in den Nationalstaat bei gleichzeitigem Misstrauen gegenüber supranationalem Regieren wie in der EU. Rechtspopulistische Parteien eignen sich diese Konfliktlinie an, indem sie kulturelle Vorurteile darauf projizieren.
Der deregulierte globale Kapitalismus höhlt die demokratische Gestaltungskraft der Nationalstaaten aus.
Aus gewerkschaftlicher Sicht ist die Ursache für die Krise der Demokratie in der ökonomischen Ungleichheit zu suchen. Seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts nahm die Finanzialisierung der Weltwirtschaft bei gleichzeitiger Einkommens- und Vermögensungleichheit eklatant zu. So besitzen in Europa zehn Prozent der wohlhabendsten Haushalte die Hälfte des Vermögens, während die 40 Prozent am wenigsten Wohlhabenden lediglich drei Prozent des Vermögens besitzen (OECD 2017). Diese ökonomische Ungleichheit könnte über distributive Verteilung ausgeglichen werden, die aber mangels staatlicher Gestaltungskraft und dank der Lenkung durch Finanzeliten unzureichend stattfindet. Das politische Ungleichgewicht manifestiert sich dadurch, dass in der gesamten OECD der durchschnittliche Anteil der Arbeiterklasse im nationalen Parlament fünf Prozent beträgt, verglichen mit einem Anteil von 58 Prozent an der Gesamtbevölkerung.
Die politische Ungleichheit zu Gunsten von Vermögenseigentümern findet auch über die Entpolitisierung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik in den letzten Jahrzehnten statt. Die Entscheidungsfindung in diesen Bereichen funktioniert über Institutionen, die keine direkte Verantwortlichkeit gegenüber Wählern haben. Der deregulierte globale Kapitalismus höhlt die demokratische Gestaltungskraft der Nationalstaaten aus. Beispiel dafür sind unter anderem Zentralbanken, deren Einfluss im Umgang mit der Finanzkrise gewachsen ist und der als ,,autoritärer Liberalismus“ beschrieben wird.
Der Kampf auf der Straße, verursacht durch die Aufkündigung von sozialem Dialog und Sozialpartnerschaft wie gerade in Großbritannien und Frankreich, darf kein Vorbild für das europäische Modell werden. Denn: Gewerkschaften und betriebliche Mitbestimmung sind ein wichtiges demokratisches Element, um die Transformationsprozesse sozial verträglich zu gestalten. Die 2024 anstehenden Europawahlen sind daher ein Lackmustest für die Widerstandsfähigkeit der europäischen Demokratie und ihre Mobilisierungskraft, aber auch für den Zusammenhalt der Europäischen Union.
Die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen 2019 fiel äußerst unterschiedlich aus – von 60 Prozent in Deutschland bis zu 29 Prozent in der Slowakei. Das Europäische Parlament hat als ersten Schritt 2020 eine Reform des Wahlrechts auf den Weg gebracht, das eine Stärkung des Spitzenkandidatenprinzips sowie die Einführung einer Zweitstimme vorsieht, mit der über länderübergreifende Wahllisten europäische Kandidatinnen und Kandidaten gewählt werden können. Diese Reformen sowie die Stärkung des Europäischen Parlament zum Gesetzgeber der Europäischen Union sind ein wichtiger Baustein zur Einbeziehung des demokratischen Souveräns, nämlich der europäischen Bürgerinnen und Bürger.
Doch für die Rückholung der Wähler braucht es mehr: Das Dialogformat im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas könnte ein zweiter Schritt sein, die Inhalte, die den Bürgern unter den Nägeln brennen, in den politischen Diskurs zu bringen. Die Stärkung der Sozialpartnerschaft sowie der betrieblichen Mitbestimmung in den Mitgliedstaaten wäre ein weiterer Schritt, die Nöte und Sorgen von unterschiedlichsten Berufsgruppen und Bevölkerungsschichten Eingang in die politische Welt finden zu lassen, also Politik von unten nach oben, statt Oktroi von oben nach unten.