Wahlen sind selten unkompliziert – zumal dann, wenn viel auf dem Spiel steht. Das gilt für Rumänien in besonderer Weise. In dem EU-Mitgliedstaat am Schwarzen Meer mit der längsten Grenze zur Ukraine, der bisher ein treuer Verbündeter der USA und ein zuverlässiges NATO-Mitglied war, macht sich nach der plötzlichen Annullierung der Präsidentschaftswahlen am vergangenen Freitag tiefe politische Verunsicherung breit.
Die Wahlen wurden für ungültig erklärt, nachdem Geheimdienste aufgedeckt hatten, dass ein „staatlicher Akteur“ sich in den Wahlprozess eingemischt hatte, um einem rechtsextremen Kandidaten den Rücken zu stärken, mit dem keiner gerechnet hatte. Allgemein wird davon ausgegangen, dass es sich bei dem staatlichen Akteur um Russland handelt. Das Verfassungsgericht schaltete sich ein und ordnete an, dass das gesamte Wahlverfahren wiederholt wird. Wäre man unter diesen Umständen den nächsten Schritt gegangen und hätte die Stichwahl abgehalten, wäre diese Stichwahl de facto zu einem verdeckten Referendum über Rumäniens prowestliche Ausrichtung geraten.
Doch die Krise ist längst nicht überwunden. Das demokratische Lager im Land ist nach den Wahlturbulenzen zersplittert und steht vor schwierigen Entscheidungen. Die Wirtschaft stabilisieren, die Folgen der politischen Krise abfedern, eine tragfähige parlamentarische Mehrheit bilden – das sind jetzt die wichtigsten Aufgaben.
Der Fall Rumänien liefert wertvolle Erkenntnisse für andere europäische Nationen, vor allem was die destabilisierende Wirkung von Social-Media-Plattformen wie TikTok auf demokratische Wahlen betrifft. Russland nutzt diese Plattformen, um Ängste in der Bevölkerung zu schüren und politische Gräben zu vertiefen. Um diese von Russland betriebene hybride Kriegsführung einzudämmen, braucht es ein schnelles und koordiniertes Vorgehen auf europäischer Ebene.
Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Rumänien sollten nacheinander zwischen dem 24. November und dem 8. Dezember stattfinden, wobei die Parlamentswahlen zwischen den beiden Runden der Präsidentschaftswahlen angesetzt waren. Der plötzliche Aufstieg des unabhängigen Kandidaten Călin Georgescu, der noch vor Kurzem eine Randfigur war und in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen zu einem aussichtsreichen Konkurrenten wurde, löste einen Rechtsruck aus. Die Ergebnisse der Parlamentswahlen, die eine Woche später stattfanden, zeigten die Schwäche der demokratischen Mitte gegenüber der radikalen Rechten, womit vor wenigen Wochen noch niemand gerechnet hatte.
Georgescus überraschender Sieg in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen versetzte den traditionellen Parteien Rumäniens – den Sozialdemokraten (PSD) und den zur rechten Mitte gehörenden Nationalliberalen (PNL), die seit 2021 die Regierungskoalition bilden – einen schweren Schlag. Nicht nur unterlagen die Kandidaten beider Parteien, Premierminister Marcel Ciolacu (PSD) und Senatspräsident Nicolae Ciucă (PNL), dem Herausforderer Georgescu. Auch die Parteien verloren gegenüber den früheren Wahlen jeweils fast zehn Prozent.
Die Sozialdemokraten fuhren ihr historisch schlechtestes Ergebnis ein und erhielten 22 Prozent der Stimmen. Damit haben sie statt bisher 157 nur noch 123 Sitze im Parlament. Sie bleiben zwar stärkste politische Kraft in Rumänien, aber ob sie eine stabile Mehrheit bilden können, ist fraglich. Die Nationalliberalen verloren die Hälfte ihrer Sitze und erhielten nur 72 Mandate. Für die andere Mitte-rechts-Partei, die Union Rettet Rumänien (USR), lief es nicht besser: Sie fiel von 90 auf 59 Mandate zurück, obwohl ihre Kandidatin Elena Lasconi es in die Stichwahl um das Präsidentenamt gegen Georgescu schaffte.
Insgesamt stellen die rechtsradikalen Fraktionen fast 35 Prozent der neuen Legislative.
In krassem Gegensatz dazu stehen die Zugewinne der radikalen Rechten. Die Allianz für die Union der Rumänen (AUR) erobert mit 18 Prozent der Stimmen den zweiten Platz; zwei weitere, kleinere rechtsextreme Parteien – SOS Rumänien und die Partei der jungen Menschen (POT) – kamen erstmals über die Fünf-Prozent-Hürde. Insgesamt stellen die rechtsradikalen Fraktionen damit fast 35 Prozent der neuen Legislative.
Wer ist der rechtsextreme Kandidat, der die Politik Rumäniens durcheinanderwirbelt? Der 62-jährigeCălin Georgescu ist ein selbsternannter Experte für nachhaltige Entwicklung mit Verbindungen zu jener ultra-religiösen und ultra-nationalistischen Bewegung, die 2020 auch der Allianz für die Union der Rumänen den Einzug ins Parlament ermöglichte. Georgescus Beziehung zur AUR war jedoch nur von kurzer Dauer, da einige seiner kontroversen Äußerungen selbst für diese Partei zu extrem waren.
Von manchen wegen seiner Putin-freundlichen Haltung „Kreml-Georgescu“ genannt, bindet Georgescu sich nicht mehr an eine Partei. Viele sehen darin einen entscheidenden Faktor für seinen Erfolg, weil in Rumänien das Vertrauen in politische Parteien sich auf einem historischen Tiefstand befindet. Seine schonungslose Haltung zur Parteipolitik lässt sich in einem kurzen Satz zusammenfassen: „Die politischen Parteien sind am Ende“, lautete sein Fazit nach den Parlamentswahlen vom 1. Dezember.
Schon im April dieses Jahres hatte er gewettert: „Politische Parteien sind die Schindmähren, die man vor den goldenen Streitwagen des rumänischen Volkes gespannt hat. Es wird in diesem Land keine politischen Parteien mehr geben. Keine einzige!“ Auf Nachfrage meinte Georgescu, er habe lediglich den rumänischen Philosophen Petre Țuțea zitiert. Țuțea war Mitglied der Eisernen Garde, einer faschistischen, ultra-nationalistischen Organisation in Rumäniens Zwischenkriegszeit. Der Wortlaut des Țuțea-Zitats lässt erst recht erschaudern: „Politische Parteien sind die Pferde, die den goldenen Streitwagen der rumänischen Geschichte ziehen; wenn sie zu Schindmähren geworden sind, schickt das rumänische Volk sie zum Schlachthof.“
Georgescu erteilte nicht nur der Parteipolitik eine Abfuhr, sondern stellte auch die Grundpfeiler der rumänischen Außenpolitik infrage – die Mitgliedschaft in NATO und EU sowie den Sicherheitsschirm der USA. Georgescu hält die NATO als Verteidigungsbündnis für ineffektiv. Kürzlich nannte er das Raketenabwehrsystem Deveselu Aegis Ashore, das seit 2015 auf rumänischem Territorium stationiert ist, eine „Schande für die Diplomatie“. Während andere Präsidentschaftskandidaten Rumäniens Engagement für die Ukraine bekräftigten, warb Georgescu mit dem Versprechen, „Frieden“ durch eine Annäherung an Russland zu schaffen, was zu seiner Wertschätzung für die „russische Weisheit“ in der Außenpolitik passt.
Seine Einstellung fand Zuspruch bei den Wählerinnen und Wählern, die sich zunehmend Sorgen über die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Auswirkungen des Krieges machen. Wegen seiner langen gemeinsamen Grenze mit der Ukraine bekommt Rumänien die Folgen des Krieges deutlich zu spüren: steigende Energiepreise, einen Zustrom von Geflüchteten und massive Störungen des Handelsverkehrs. Die Stimmung in der Öffentlichkeit kippte in den letzten Monaten, was zum Teil an den in den USA geführten Debatten über die Beendigung des Krieges in der Ukraine lag. Mit seiner populistischen Rhetorik, die durch die Wiederwahl von Donald Trump noch beflügelt wurde, konnte Georgescu aus diesen kriegsbedingten Ängsten Kapital schlagen und sich in Stellung bringen als eine Stimme, die den Status quo infrage stellt.
Georgescus überraschender Aufstieg wirft ein Schlaglicht auf die tiefe Spaltung der rumänischen Gesellschaft.
Georgescus überraschender Aufstieg wirft ein Schlaglicht auf die tiefe Spaltung der rumänischen Gesellschaft und auf die wachsende Enttäuschung über das politische und wirtschaftliche Establishment. Besonders großen Rückhalt genießt er bei den Wählerinnen und Wählern in ländlichen und wirtschaftlich benachteiligten Regionen, die sich seit den postkommunistischen Reformen vernachlässigt fühlen. In einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung wurden diese Gebiete 2021 als „ländliche Altindustriegebiete mit erheblichen sozioökonomischen Problemen“ beschrieben, in denen viele Bewohner den Übergang zu Demokratie und Kapitalismus als frustrierend, demütigend und ungerecht erlebt haben.
In diesen Regionen kam Georgescus Wahlprogramm „Nahrung, Wasser, Energie“ bei der Wählerschaft gut an. Das Programm sieht Maßnahmen vor, die nicht mit den EU-Normen vereinbar sind, wie zum Beispiel Verstaatlichungen und Steuervergünstigungen für einheimische Unternehmen. Bei Kleinbauern und Firmeninhabern, die mit steigenden Produktionskosten und der Konkurrenz durch billige Getreideimporte aus der Ukraine zu kämpfen haben, stießen diese Pläne auf Zustimmung. Für zusätzlichen Unmut sorgten die als Belastung empfundenen Umweltvorschriften der EU. Wie groß die Unzufriedenheit ist, zeigten die Proteste zu Beginn dieses Jahres, bei denen rumänische Landwirte Grenzübergänge zur Ukraine und zu Moldawien blockierten.
Georgescus Rhetorik stieß auch bei Rumänen, die im Ausland arbeiten, auf offene Ohren, weil viele von ihnen sich vom Staat im Stich gelassen fühlen. Seit Jahrzehnten profitieren die urbanen Zentren überproportional stark von EU-Mitteln und ausländischen Investitionen, während die Randgebiete sich selbst überlassen blieben. Dementsprechend brachte Georgescu sich als Fürsprecher der vergessenen Mehrheit in Position und gab denjenigen eine Stimme, die sich von der postkommunistischen Erfolgsgeschichte Rumäniens ausgeschlossen fühlen.
Die „Geheimwaffe“, die Georgescu ins politische Rampenlicht beförderte, war TikTok.
Die „Geheimwaffe“, die Georgescu ins politische Rampenlicht beförderte, war TikTok. Noch wenige Wochen vor den Wahlen war er der Öffentlichkeit so gut wie unbekannt, doch seine verdeckte TikTok-Kampagne verschaffte ihm innerhalb weniger Tage eine enorme Reichweite. Laut Dokumenten, die der rumänische Geheimdienst freigegeben hat, wurde Georgescus TikTok-Netzwerk mit 25 000 Accounts angeblich von einem „staatlichen Akteur“ massiv unterstützt. Auffällig ist, dass rund 800 dieser Konten bereits 2016 eingerichtet worden waren und bis zwei Wochen vor den Wahlen weitestgehend inaktiv blieben. Das zeigt, wie anfällig die heutige Politik für Manipulationen mit Hilfe von Social-Media-Plattformen ist.
Die Beliebtheit von TikTok in Rumänien – 47 Prozent der Bevölkerung haben ein Konto – macht die Plattform zu einem mächtigen Instrument. Zum Vergleich: In Frankreich haben nur 36 Prozent der Bevölkerung ein Konto bei TikTok, in Deutschland sind es weniger als 27 Prozent. Bei den 18- bis 24-jährigen Wählerinnen und Wählern, die diese Plattform hauptsächlich nutzen, konnte Georgescu 30 Prozent der Stimmen für sich gewinnen – weit mehr als bei älteren Bevölkerungsgruppen. Diese Altersgruppe hat laut einer aktuellen Jugendstudie der FES die größte Angst vor Gewalt und Krieg (56 Prozent), hält Korruption für Rumäniens größtes Problem (72 Prozent) und stimmt der Aussage zu, dass für Rumänien eine starke Führungspersönlichkeit, die sich nur wenig um Parlament und Wahlen schert, gut wäre (41 Prozent).
Das ist jedoch nur ein kleiner Teilaspekt. Die sozialen Medien spielten für Georgescus Erfolg definitiv eine Rolle, weil sie ihn über Nacht aus der Bedeutungslosigkeit ins Rampenlicht beförderten. Aber es kamen weitere Faktoren hinzu, die mit dem Versagen und mit Fehlentscheidungen der etablierten Parteien zu tun haben.
Das Unvermögen der etablierten politischen Parteien Rumäniens, die Ängste, Sorgen und Beschwerden der Wählerschaft ernst zu nehmen und sich ihnen zu stellen, hat viele Wählerinnen und Wähler verprellt.
Das Unvermögen der etablierten politischen Parteien Rumäniens, die Ängste, Sorgen und Beschwerden der Wählerschaft ernst zu nehmen und sich ihnen zu stellen, hat viele Wählerinnen und Wähler verprellt. Angesichts der wachsenden Sorge über einen drohenden Konjunktureinbruch und die sich verschlechternde Lage in der Ukraine schien die politische Führungsriege den Bezug zur Realität verloren zu haben. Obwohl sie mit einer großen Koalition regierten, gaben die Sozialdemokraten und die Nationalliberalen sich im Wahlkampf vor allem mit belanglosen Kontroversen und sinnlosen Streitigkeiten ab, statt sich mit den Themen zu befassen, die die Wählerinnen und Wähler wirklich umtreiben.
In diesem ständigen Hickhack gingen die beachtlichen Erfolge der Regierung vollkommen unter, die sich durchaus sehen lassen können: enorme Fortschritte bei Infrastrukturprojekten, wie es sie in den vergangenen 20 Jahren noch nie gegeben hat, die Aufnahme Rumäniens in das US-Programm für visumfreies Einreisen und ein signifikanter Durchbruch auf dem Weg zum vollständigen Schengen-Beitritt.
Hinzu kam, dass die blassen Präsidentschaftskandidaten der etablierten Parteien bei den Wählerinnen und Wählern für Frustration sorgten, sodass viele von ihnen sich nach Alternativen umschauten. Aus Selbstüberschätzung begnügten die Sozialdemokraten sich mit einer schlampigen Wahlkampfplanung, setzten in ihrer Wahlstrategie einzig und allein auf den Kandidaten Marcel Ciolacu und gingen davon aus, dass er in der Stichwahl um das Präsidentenamt gegen den rechtsextremen AUR-KandidatenGeorge Simion antreten würde. Diese Strategie wurde durch Georgescus unerwarteten Aufstieg zunichtegemacht.
Zudem trug die „kompromissfreundliche Haltung“ der Sozialdemokraten gegenüber der Allianz für die Union der Rumänen – sie gründet in der von der Sozialdemokratischen Partei favorisierten transaktionalen Politik des Gebens und Nehmens – dazu bei, rechtsextreme Narrative salonfähig zu machen, die sich auf ethnischen Nationalismus und christlichen Konservatismus stützen. Dieser Kurs schwächte nicht nur das demokratische Lager, sondern schuf auch einen fruchtbaren Boden für die radikale Rechte, die dadurch an Legitimität gewann und mehr Durchschlagkraft entwickelte.
Da Rumänien mit dem größten Haushaltsdefizit seit Jahren zu kämpfen hat und die politische Verunsicherung wächst, wird es in den kommenden Wochen darauf ankommen, ob es den demokratischen Kräften gelingt, sich neu zu formieren und eine stabile Mehrheit zu bilden. Bisher haben alle Parteien des demokratischen Spektrums einschließlich der Sozialdemokraten signalisiert, dass ihnen bewusst sei, wie wichtig eine stabile Mehrheit ist. Wenn diese stabile Mehrheit nicht zustande kommt, könnten die extremistischen Kräfte weiter gestärkt und der pro-europäische Kurs des Landes destabilisiert werden.
Aus dem Englischen von Christine Hardung