Millionen Russen erhielten im April dieses Jahres über das staatliche Online-Portal Gosuslugi einen elektronischen Brief: Man solle durch Spenden an Veteranen „Dankbarkeit zeigen“ – eine Initiative der Stiftung „Erinnerung an Generationen“, unterstützt von der Sberbank. Es sei „ein Zeichen des Respekts und der Anerkennung gegenüber denen, die uns die Zukunft geschenkt haben“, hieß es in der patriotisch aufgeladenen Botschaft.
Diese Aktion ist nur ein Beispiel von unzähligen Projekten, Konzerten, Flashmobs, Wettbewerben, Film- und Theatervorführungen, Schulolympiaden, Umzügen und sogar Online-Spielen, die in diesem Jahr in ganz Russland stattfinden. Denn am 9. Mai – in Russland wird der Sieg über Nazi-Deutschland an diesem Tag gefeiert, weil die Kapitulation spätabends am 8. Mai 1945 unterzeichnet wurde, nach Moskauer Zeit also bereits am 9. Mai – jährt sich der Triumph der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland zum 80. Mal. In Russland ist dieser Tag als „Tag des Sieges“ ein staatlich gefeiertes Großereignis.
Der 9. Mai war für Generationen von Russen ein zutiefst emotionales Datum – ein Symbol des gemeinsamen, ungeheuren Leidens und des historischen Sieges über den Nationalsozialismus. 27 Millionen Menschenleben kostete dieser Krieg, der in Russland „Großer Vaterländischer Krieg“ genannt wird. Es waren unaussprechliche Verluste: Keine Familie blieb vom Trauma verschont. Auch ich bin mit dieser Bedeutung aufgewachsen. Ich erinnere mich, wie wir an diesem Tag jedes Jahr meinen Großvater besuchten. Im Krieg war er ein einfacher Fahrer gewesen. Er überlebte, kehrte 1945 heim. Mehr weiß ich leider nicht – denn er konnte nie darüber sprechen. Ich erinnere mich nur, dass er an jedem 9. Mai weinte. Und an seine zitternden Hände, als er schweigend das obligatorische Gläschen Wodka auf seine gefallenen Kameraden hob.
Wie es in einem alten sowjetischen Lied heißt, das die meisten Russen heute noch auswendig kennen: „Tag des Sieges – es ist Freude mit Tränen in den Augen.“ Die Wunde, die der Große Vaterländische Krieg in Russland hinterlassen hat, ist auch nach 80 Jahren nicht geheilt. „Der Krieg ist immer weiter entfernt, doch mein Herz schmerzt nur noch stärker und stärker“, schrieb ein russischer Dichter.
Was einst Trauerarbeit war, dient heute der Machtdemonstration.
In den letzten Jahren ist allerdings mit wachsendem Unbehagen zu beobachten, wie sich dieser Gedenktag verändert – wie er zunehmend politisch vereinnahmt, medial inszeniert, ideologisch aufgeladen und von staatlicher Propaganda überformt wird. Statt die Wunde zu heilen, wird sie regelrecht aufgerissen. Was einst Trauerarbeit war, dient heute der Machtdemonstration. Der 9. Mai soll Loyalität mobilisieren – das kollektive Erinnern verwandelt sich in einen staatlich durchinszenierten Kriegsfetisch.
Ein Paradebeispiel dafür ist die Bewegung „Das unsterbliche Regiment“, die 2012 in der sibirischen Stadt Tomsk von lokalen Journalisten als Graswurzel-Initiative ins Leben gerufen wurde. Damals zogen Bürger mit Porträts ihrer Vorfahren, die im Krieg gekämpft hatten, durch die Straßen – still, würdevoll, ganz ohne Parolen. Es ging um Familiengeschichten, um eine kollektive Chronik des Schmerzes. Das Projekt gewann schnell an Popularität. Bereits 2015 nahmen rund zwölf Millionen Russen an den Friedensmärschen des „Unsterblichen Regiments“ in verschiedenen Städten teil. Doch mit dem Erfolg kam die staatliche Vereinnahmung.
Heute organisiert der Staat das „Unsterbliche Regiment Russlands“ – mit Pathos, Bühnenprogramm und zentralen Marschrouten. Das ursprüngliche Projekt ist kaum noch zu erkennen. Viele Menschen wissen gar nicht mehr, welcher Bewegung sie folgen. Statt Trauer und Dankbarkeit dominieren nun nationale Stärke und Kampfgeist.
Auf Bannern und Plakaten tauchen nicht mehr nur (Ur-)Großväter auf – sondern auch Stalin, Lenin und neuerdings gefallene Kämpfer aus dem Krieg gegen die Ukraine. Der Held von 1945 verschmilzt mit dem „Verteidiger von 2022“. In Schulveranstaltungen der Regierungspartei „Einiges Russland“ lautet das Motto: „Die Großväter haben gesiegt – wir werden auch siegen!“ Slogans wie „Nach Berlin!“ kleben auf Autos oder sogar Kinderwagen. Die Botschaft ist klar: Russland kämpft wieder gegen den Faschismus – diesmal in der Ukraine.
Der Gedenktag ist heute regelrecht durchtränkt von Militarismus.
Der Gedenktag ist heute regelrecht durchtränkt von Militarismus, wobei die ideologische Aufladung mitunter absurde Formen annimmt. In der Geburtsklinik der sibirischen Stadt Kemerowo wurden Neugeborene zum 9. Mai in winzigen Militäruniformen mit roten Sternen auf der Mütze fotografiert – „Patriotismus von der Wiege an“, titelte die Komsomolskaja Prawda begeistert. In einer Schule in der Region Nischni Nowgorod veranstalteten Schüler ein „Konzert für das Unsterbliche Regiment“ – allerdings nicht für ein Publikum, sondern für eine leere Aula voller Porträts gefallener Soldaten. Herzberührend und ergreifend, nannten das die Organisatoren. In Wladiwostok marschierten Grundschulkinder bei einer Parade unter dem Motto „Urenkel des Sieges“ – gekleidet in Uniformen, die verschiedene Zweige des Militärs darstellen sollten. Darüber berichtete mit Stolz der Gouverneur der Region auf seinem Telegram-Kanal.
Der 9. Mai war über Jahrzehnte hinweg eines der wenigen Symbole, das ein zutiefst gespaltenes Land einte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion blieb der Sieg über den Nationalsozialismus einer der letzten identitätsstiftenden Bezugspunkte für das neue Russland. Doch bereits 1995 begann die schleichende Militarisierung des Gedenktags, als man die Tradition der Militärparaden wieder aufnahm. Und ab 2012 – mit der sichtbar rechtskonservativen Ausrichtung des Kremls – wurde auch die Politisierung des Feiertags intensiviert.
Heute droht der ursprüngliche Sinn des 9. Mai zu verschwinden. Das Motto „Nie wieder Krieg!“, mit dem Generationen sowjetischer Bürger aufwuchsen, ist ersetzt worden durch den Spruch: „Wir können es wiederholen!“ Wie ein russischer Journalist neulich schrieb: „Der wichtigste und heiligste Feiertag für viele Russen ist zu einem Tag der Peinlichkeit geworden.“ Der Kreml hat sich diesen Tag einverleibt – und ihn damit seiner Volkstümlichkeit beraubt.
Viele Russen sind des allgegenwärtigen Kriegsnarrativs überdrüssig.
Doch paradoxerweise beschädigt das Regime damit auch seine letzte symbolische Klammer. Denn viele Russen sind des allgegenwärtigen Kriegsnarrativs überdrüssig. Sie sehnen sich nach einem 9. Mai, der an Frieden erinnert – nicht an neue Fronten. In den russischen sozialen Netzwerken wird der Ton zunehmend kritisch. Ein Kommentar zu einer „patriotischen“ Aktion bringt es auf den Punkt: „Wann werden sie endlich begreifen, dass die Menschen vor 80 Jahren gekämpft haben, damit niemand mehr jemals eine Militäruniform tragen muss?!“ Diese Frage hallt auch in mir nach – lauter als jede Parade.
Laut offiziellen Angaben leben heute gerade einmal noch rund 7 000 Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges. Auch sie werden zunehmend instrumentalisiert – dienen als Staffage oder werden durch junge Männer mit Orden ersetzt, die diese nicht für den Kampf gegen Hitler, sondern für die sogenannte „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine erhalten haben. Die neue Ikonografie des Gedenkens ist vollzogen. Doch der wichtigste Feiertag Russlands droht damit zu einer hohlen Hülle zu werden: laut, pathetisch, zutiefst entkernt.
Es gibt noch eine Tradition am 9. Mai: eine Schweigeminute zum Gedenken an die Gefallenen. Fernseh- und Radiosender kündigen sie mit den Worten an: „Keiner ist vergessen, nichts ist vergessen.“ 60 Sekunden lang hört man nur einen Pulsschlag, sieht die Flamme am Grabmal des unbekannten Soldaten an der Kremlmauer.
In unserer Familie war es üblich, aufzustehen und so der Opfer zu gedenken. Voriges Jahr habe ich mich dabei ertappt, wie ich die Schweigeminute vergessen habe. Vielleicht ein unbewusster Bruch mit einem Ritual, das mir nicht mehr gehört – weil es Teil der Inszenierung geworden ist.