Zwei Wochen nach der Parlamentswahl in Österreich ist immer noch nicht klar, welche Parteien die nächste Regierung bilden werden. Die rechtsextreme Freiheitliche Partei (FPÖ) hat die Wahlen mit fast 29 Prozent der Stimmen klar gewonnen, doch die mit 26 Prozent zweitstärkste konservative Volkspartei (ÖVP) schließt eine gemeinsame Koalition aus, solange Herbert Kickl die FPÖ anführt. Bei den Freiheitlichen scheint es jedoch bislang keine Option, einen Spitzenkandidaten fallenzulassen, der das beste Ergebnis in der Parteigeschichte eingefahren hat. Daher wird die ÖVP wohl eher eine Koalition mit den Sozialdemokraten (SPÖ) eingehen, die mit 21 Prozent den dritten Platz erreichten, und möglicherweise auch die NEOS einschließen, die mit neun Prozent der Stimmen auf dem vierten Platz landeten.
Die ÖVP hat in der Wirtschafts- und Migrationspolitik zwar größere Übereinstimmungen mit den Freiheitlichen, steht jedoch bei Rechtsstaatlichkeit und Außenpolitik der SPÖ und den NEOS näher. Zudem könnte sie in dieser Konstellation den Kanzler stellen, statt als Juniorpartner der FPÖ zu regieren. Dieses breitere Bündnis, die „Koalition der Verlierer“ (Kickl) ist allerdings auch kein Stabilitätsversprechen: Die deutsche Ampelregierung gilt allen bürgerlichen Parteien als warnendes Beispiel, wie schwierig grundlegende Entscheidungen – etwa in der Wirtschaftspolitik – in einer so breiten Koalition werden können.
Robert Misik schrieb vor ein paar Tagen in Social Europe, ÖVP und SPÖ (sowie NEOS) stünden nunmehr in der Verantwortung, durch die Bildung einer Koalition die Rechtsextremen zurückzudrängen. Man kann seine Bedenken durchaus verstehen, aber der Aufbau einer Brandmauer um die Wahlsieger könnte in demokratischer oder taktischer Hinsicht auch die falsche Strategie sein. Zumal die ÖVP im Wahlkampf ein Bündnis mit der FPÖ (ohne Kickl) nicht ausgeschlossen hatte und damit 26 Prozent der Stimmen erzielte. Das lässt darauf schließen, dass 55 Prozent der österreichischen Wählerinnen und Wähler keine apokalyptischen Befürchtungen angesichts einer FPÖ-Regierungsbeteiligung hegen und sich betrogen fühlen könnten, wenn man ihnen sagt: „Es ist ja schön, dass Sie von Ihrem demokratischen Wahlrecht Gebrauch gemacht haben, aber Sie haben falsch abgestimmt.“ Der Ausschluss von der Regierungsbildung und die Sparpolitik, die in den nächsten Jahren nötig sein wird, um das Haushaltsdefizit aufzufangen, könnten die Rechtsaußenpartei noch weiter stärken, mit dem Ergebnis, dass sie in den anstehenden Landtagswahlen und der nächsten Nationalratswahl in fünf Jahren noch mehr Stimmen gewinnen würde.
Karl Nehammer, der amtierende Bundeskanzler und Chef der ÖVP, gab zu verstehen, sein Widerstand gegen eine Koalition mit Kickl habe nicht mit dem FPÖ-Programm zu tun. Am Wahlabend erklärte Nehammer, die ÖVP nehme die Sorgen der fast 30 Prozent, die für die FPÖ gestimmt hatten, „ernst, sehr ernst“. Es gehe ihm um die Methoden, mit denen der Populist Kickl die Probleme des Landes lösen will.
Allerdings ist die Partei nicht so viel anders als ihr Vorsitzender, und in zwei von drei Bundesländern, in denen die FPÖ als Juniorpartner gemeinsam mit der ÖVP regiert, sitzen enge Weggefährten Kickls in den Landesregierungen. Daher erscheint eine „FPÖ ohne Kickl“ weder politisch noch ideologisch als realistische Option. Im Wahlkampf wollte die ÖVP womöglich – offenbar erfolglos – mit diesem Motto die Kickl-Gegner unter den ÖVP-Wählern halten und nicht allzu radikale Wählerinnen und Wähler von der FPÖ gewinnen. Doch für eine Annäherung an SPÖ und NEOS im Namen von Verantwortung und Stabilität, um nicht als „Sicherheitsrisiko“ (Nehammer über Kickl) zu erscheinen, könnte der Ansatz „FPÖ ja, Kickl nein“ einen Weg nach vorne weisen.
Das Wahlergebnis zeigt, dass es keiner der anderen Parteien gelungen ist, die Motive der FPÖ-Wähler zu verstehen.
Das Wahlergebnis zeigt, dass es keiner der anderen Parteien gelungen ist, die Motive der FPÖ-Wähler zu verstehen, oder eine Alternative zu formulieren und glaubwürdig zu vertreten. Das ist nicht nur ein österreichisches Problem; wir haben in den letzten Jahren Ähnliches in verschiedenen europäischen Ländern erlebt, was zeigt, wie hilflos die demokratischen Eliten dem Aufschwung der Rechtsextremen gegenüberstehen.
Das Ergebnis der SPÖ muss bitter für die materialistisch orientierte Linke sein. Unter der Führung von Andreas Babler konnte die Partei im Vergleich zu 2019 keine Zugewinne erzielen (sie verlor 0,1 Prozentpunkte) und kaum FPÖ-Wähler und Nichtwähler anlocken. Nach der aktuellen Wahlanalyse stammen von über einer Million SPÖ-Stimmen nur 29 000 von Menschen, die 2019 FPÖ gewählt hatten, und 54 000 von Nichtwählern. Zugleich verlor die Partei 65 000 Stimmen an die FPÖ. 18 000 Menschen, die 2019 die SPÖ gewählt hatten, gingen in diesem Jahr nicht zur Wahl. 50 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter stimmten für die FPÖ.
Babler war ein glaubwürdiger Kandidat für eine materialistische Vision. Er stammt aus dem Gewerkschaftsmilieu und hatte Arbeitskämpfe ausgefochten. In einem Interview gab er sogar zu, Marxist zu sein – jedoch kein orthodoxer Marxist, der alle Themen jenseits von Arbeit als „dumme Identitätspolitik“ abtut. Es gelang ihm, feministische, ökologische und Zuwanderungsthemen als Klassenfragen zu formulieren, sich auf die Probleme der weniger Privilegierten zu konzentrieren und sich an die Seite der Arbeitenden und Entrechteten zu stellen, ob in der Produktion oder in der Gesundheitsversorgung. Er präsentierte konkrete Vorschläge zu Umverteilung, Integration und einem sozial gerechten ökologischen Wandel. Die Parteimitglieder, die Babler unterstützten, hofften darauf, Wut und Ängste der FPÖ-Wähler von „Migranten“ und der „Covid-Diktatur“ auf die „oberen zwei Prozent“ umlenken zu können. Auf diese Oberklasse zielte auch Bablers Wahlversprechen einer Vermögens- und Erbschaftssteuer, doch damit irritierte er lediglich die Wirtschaftseliten, vermochte aber nicht die politische Fantasie der FPÖ-Wähler und der Nichtwähler anzuregen.
Allerdings erhielt er auch kaum Unterstützung – weder von den Medien, denen es vor allem um die Frage der Darstellung von Politikerinnen und Politikern ging, noch von seiner eigenen Parteiführung, die sein Programm in einer geleakten internen Mail mitten im Wahlkampf als „unseriös“ abqualifizierte. Trotz seiner genauen Kenntnis der alltäglichen Kämpfe der Arbeitenden stellte man ihn als Traditionalisten dar, der noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen sei. Diese Ereignisse aus den letzten Wahlkampfwochen können jedoch auch nicht erklären, warum sein Programm seit seiner Wahl zum Parteivorsitzenden im Juni 2023 außerhalb der Parteibasis keinerlei Zugkraft entwickeln konnte. Kurzfristig muss er nun in den Koalitionsverhandlungen mit ÖVP und NEOS, die wirtschaftlich eher rechts ausgerichtet sind, seine linke Vision bewahren. Mittelfristig stellt sich die Frage, ob die Parteieliten der anderen Fraktionen versuchen werden, Babler zu verdrängen. Langfristig werden sich ideologische und strategische Fragen von Neuem stellen.
2022 verdreifachte sich die Zahl der Asylanträge in Österreich und erreichte einen neuen Höchststand.
Dies alles wird man in den kommenden Jahren analysieren und bedenken müssen, und ein Element dieser Überlegungen wird das Thema Migration sein. Zur großen Enttäuschung der SPÖ, die sich im Wahlkampf auf Eigentumsfragen, Arbeitsbedingungen, Inflation und Umverteilung konzentrieren wollte, ging es den Wählerinnen und Wählern vor allem um die Zuwanderung. In Umfragen vor Wahlkampfbeginn erklärten 43 Prozent der Befragten, Migration und Asyl seien die wichtigsten Probleme, mit denen sich die Politik befassen solle. Sie seien die Ursache für soziale und kulturelle Spannungen, die nicht allein in Klassenbegriffen formuliert werden könnten.
Das Thema kam in Österreich nicht vorrangig durch die Medien auf die Agenda, sondern durch seine spürbare Präsenz im Alltag der Menschen: 2022 verdreifachte sich die Zahl der Asylanträge in Österreich und erreichte einen neuen Höchststand seit 2015; 2023 gab es immer mehr Familienzusammenführungen für Syrerinnen und Syrer; der Anteil der Kinder, die bei der Einschulung kein Deutsch sprechen, stellte die staatlichen Schulen vor beachtliche Probleme; in den migrantisch geprägten Vierteln Wiens kam es verstärkt zu Messerstechereien und Bandenkriegen; erst vor ein paar Wochen musste ein Konzert von Taylor Swift nach einer Terrordrohung abgesagt werden, der Anschlag wurde vereitelt.
Auch die Ereignisse in Deutschland beeinflussten die Stimmung in Österreich: Ende August erstach ein abgelehnter Asylbewerber bei einem Stadtfest in Solingen drei Menschen, und Anfang September schoss ein Österreicher bosnischer Herkunft auf das israelische Generalkonsulat in München – in beiden Fällen waren die Täter radikalisierte junge Männer mit Verbindungen zum Islamischen Staat.
Die genannten Beispiele zeigen, dass das komplexe Thema Migration viele miteinander verknüpfte Probleme umfasst: Spannungen durch illegale Grenzübertritte, kulturelle Barrieren bei der Aufnahme von Geflüchteten sowie Folgen für die Sozialsysteme, die naturgemäß Zwietracht zwischen den Menschen am unteren Ende der sozialen Leiter erzeugen. Damit verbunden ist die Frage, auf welche Sozialleistungen Geflüchtete Anspruch haben sollten, damit Österreich nicht – wie Kickl sagt – zum „Asylmagnet“ wird. Das Risiko, bei einer Terrorattacke getötet zu werden, ist statistisch gesehen zwar sehr gering, doch es ist verständlich, dass solche Angriffe Angst auslösen.
Alle Herausforderer der FPÖ haben sich im Wahlkampf ernsthaft mit illegaler Einwanderung und mit Sicherheitsfragen beschäftigt.
Asyl, Arbeitsmigration, Integration, Kriminalität, Islamismus, Terrorismus und die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums sind sehr unterschiedliche und komplexe Themen. Man muss sorgfältig mit ihnen umgehen und die legitimen Sicherheitsbedenken der Bevölkerung ernst nehmen, ohne die Probleme zu sehr zu vereinfachen und Sündenböcke zu benennen. Alle Herausforderer der FPÖ haben sich im Wahlkampf ernsthaft mit illegaler Einwanderung und Sicherheitsfragen beschäftigt und diese Themen nicht per se als „rechts“ oder „rassistisch“ eingeordnet. Doch die Wahlergebnisse legen nahe, dass sie offenbar nicht den Eindruck erwecken konnten, sie hätten Antworten auf diese Probleme. Eine Partei, die einen bloßen „Asylstopp“ fordert, hat es da natürlich einfacher. Zweifelsohne handelt es sich um ein komplexes Problem, das in den nächsten Jahren gelöst werden muss.
Angesichts der konkreten Realität vieler Menschen, in der sie kulturelle und gesellschaftliche Spannungen erleben, die nach wirksamen und nachhaltigen Lösungen schreien, scheint weder die Einordnung gesellschaftlicher Konflikte und wahlentscheidender Themen als Klassenfragen noch ein rein an Menschenrechten orientierter Diskurs von Ein- und Ausschluss zu funktionieren.
Ruşen Timur Aksak, Kolumnist des linksliberalen österreichischen Wochenmagazins Falter, fasste es nach den Wahlen kurz und bündig zusammen: „So muss ich mir die Frage stellen, ob die politischen Mitbewerber der FPÖ – vor allem links der Mitte – überhaupt erkennen wollen, dass die Themen Migration, Asyl, aber auch Islamismus nun einmal wichtige Themen für die Bevölkerung sind und bleiben werden. Fast möchte ich in meiner Verzweiflung brüllen: ‚It’s the migration, stupid!‘ Doch dann sehe ich Bilder von spontanen Anti-FPÖ-Demos in Wien und fürchte, dass die etablierten Kräfte aus Politik, Gesellschaft und Kunst auch dieses Mal gewillt sein werden, nichts aus ihren eigenen Versäumnissen zu lernen.“
Rufe nach einer Brandmauer gegen Extremismus und Proteste gegen eine Partei oder ein Wahlergebnis erscheinen demnach wie Verblendung, wie Strategien, die nur der Selbstvergewisserung oder den Interessen der Eliten dienen, aber nicht geeignet sind, Wählerinnen und Wähler zu überzeugen, wie man an den Erfolgen der deutschen AfD sehen kann. Im Gegenteil, solche Aktionen gießen eher noch Öl ins Feuer. Wenn die Eliten abgekoppelt scheinen von den Problemen, die viele Teile der Wählerschaft erleben, dann werden anti-elitäre und anti-pluralistische Parteien zu einer brauchbaren Alternative. Wenn Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten diesen Trend umkehren wollen, werden sie sich glaubwürdiger und nicht allein in Klassenbegriffen mit der konkreten, materiellen Realität befassen müssen.
Dies ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.
Aus dem Englischen von Sabine Jainski