Der amerikanische Politikstil sorgt bei Menschen in Europa immer wieder für Erstaunen und Kopfschütteln. Die lebhafte bis überbordende Rhetorik, die lautstarken Debatten und ganz allgemein die Intensität der Wahlkämpfe finden sich in dieser Form in keinem europäischen Land. Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass Europa mit ganz ähnlichen Herausforderungen konfrontiert ist wie die USA: Populismus und politische Polarisierung sind inzwischen auch auf dem alten Kontinent an der Tagesordnung.

Der politische Wettbewerb wird immer hitziger, während sich die Wählerschaft vom Politik-Mainstream zunehmend entfremdet. Etablierte Parteien auf beiden Seiten des Atlantiks scheinen ihre Attraktivität zu verlieren und haben Schwierigkeiten, Unterstützung zu mobilisieren. Vielleicht haben Amerika und Europa doch mehr gemein, als wir bislang annehmen?

Die Erosion der Demokratie ist besonders in Regionen sichtbar, die in der Vergangenheit einen rasanten Verfall erlebt haben: Strukturprobleme führten zu Arbeitslosigkeit, sinkenden Lebensstandards sowie Wegzug und zur Entvölkerung ganzer Landstriche. Die Deindustrialisierung hinterließ Narben und Risse im sozialen Gefüge – sei es im industriell geprägten Steel Belt in Nordamerika, in den europäischen Kohlerevieren wie dem Ruhrgebiet und Nordostengland oder im vormaligen „Ostblock“ nach 1989.

Ständige Krisen, Unsicherheiten und eine Veränderungsmüdigkeit führen dazu, dass sich Teile der Bevölkerung von der etablierten Politik abwenden. Beispielsweise fühlt sich in Ostdeutschland die große Mehrheit nach wie vor als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse. EU-weit ist nur etwas mehr als die Hälfte der Menschen damit zufrieden, wie die Demokratie in der Praxis funktioniert. Lediglich 23 Prozent aller Amerikanerinnen und Amerikaner vertrauen ihrer Regierung. Das Demokratievertrauen nimmt vor allem bei Jüngeren ab, während – und das ist besonders besorgniserregend – Wut und Erschöpfung am häufigsten bei politisch engagierten Menschen auftreten.

Die Wahlerfolge der vergangenen Monate und Jahre zeigen, dass Populismus ein wirksames Mittel zur Mobilisierung von Wählern ist.

Entfremdung und Frustration sind mächtige Gefühle. Diese toxische Mischung schafft einen perfekten Nährboden für unterschiedliche Arten von Populismus. Die zunehmende populistische Stimmung macht sich dabei sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite des politischen Spektrums bemerkbar: Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński triumphierten in Ungarn und Polen mit ihren illiberal-konservativen Narrativen. Das BSW greift insbesondere die Angst vor Krieg auf und bewegt sich „zwischen Pazifismus und Populismus“. Die rechtspopulistische AfD und die österreichische FPÖ instrumentalisieren die Sorgen um Migration. In Italien fußt die Unterstützung für Georgia Meloni auf ihrer Person und ihrer Selbstdarstellung als Frau aus dem Volk für das Volk. Und in den Vereinigten Staaten verknüpft Donald Trump mehrere dieser Themen mit nur einem Ziel: sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Kritische Medien bezeichnet er als „fürchterliche Lügner“.

Die Wahlerfolge der vergangenen Monate und Jahre zeigen, dass Populismus ein wirksames Mittel zur Mobilisierung von Wählern ist. Richtig ist aber auch: Wahlen werden gewonnen, indem man eine möglichst breite Wählerschaft anspricht. Folglich stehen alle gemäßigten Parteien der Mitte vor demselben Dilemma: Wie können sie möglichst viele Menschen erreichen, ohne in die Populismusfalle zu tappen?

Wir schlagen eine Strategie vor, die die grundlegenden Ursachen für den Erfolg des Populismus angeht. Vonnöten ist eine kluge und durchdachte Regionalpolitik, eine neue „Politik der Emotionen“ und zugleich eine Entpolarisierung, bei der gemeinsame Interessen statt Unterschiede betont werden.

Politische Unzufriedenheit steht in direktem Zusammenhang mit dem Lebensstandard der Menschen vor Ort. In vielen ländlichen Gebieten und deindustrialisierten Städten schrumpft die Bevölkerung, was wiederum zu Hoffnungslosigkeit und Zukunftsängsten führt. Diejenigen, die in strukturschwachen Regionen und Orten leben, leiden unter den Schlaglöchern in ihren Straßen, dem fehlenden Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung oder baufälligen Schulen. Der anhaltende Brain-Drain sowie die empfundene Benachteiligung im Vergleich zu anderen Orten ebnen den Weg zu Wut und Frustration – trotz der oftmals weiterhin starken lokalen Identität und der Liebe zur Region. Das Gefühl, vergessen oder zurückgelassen zu werden, kann zu Nostalgie, Isolation und Intoleranz führen statt zu Offenheit gegenüber neuen Ideen, neuen Menschen und neuen Chancen. Sind Regionen erst einmal in dieser Lage, fällt es ihnen schwer, sich aus dem Teufelskreis zu befreien. Eine „Geografie der Unzufriedenheit“ und eine Spaltung zwischen Stadt und Land zeigen sich überall in den USA und in Europa.

Kluge Regionalpolitik kann unsere Demokratien stärken.

Der Abbau regionaler Ungleichheiten ist daher ein wichtiges politisches Ziel, um Wähler zurückzugewinnen. Kluge Regionalpolitik kann unsere Demokratien stärken und populistische Ressentiments mittel- und langfristig eindämmen. Hinzu kommt: Gute Regionalpolitik ist beliebt. Eine kürzlich vom Progressiven Zentrum durchgeführte Umfrage ergab, dass 76 Prozent der Deutschen mehr Investitionen des Bundes zur Stärkung benachteiligter Regionen befürworten. Aus ähnlichen Gründen hatte der amerikanische Präsident Joe Biden im Jahr 2022 den Inflation Reduction Act ins Leben gerufen, mit dem der amerikanische Staat Milliarden Dollar in abgehängte Gebiete investiert.

Regional- und Kohäsionspolitik ist jedoch nur ein wichtiger Aspekt. Die Wählerinnen und Wähler emotional anzusprechen, ist der andere. Jede Region hat ihre eigene Geschichte von Wohlstand und Niedergang. Um eine positive Identität aufzubauen, muss man die Vergangenheit verstehen und sie mit einer Zukunftsvision verknüpfen.

Beispiel Detroit: Der frühere Erfolg der „Motor City“ wird heute als Grundlage für das Ziel einer zukünftigen „Tech City“ verstanden. „Detroit never left“ wird dort auf T-Shirts gedruckt – „Detroit war nie weg“. Im Nordosten Englands ist man derweil stolz auf die glorreiche Kohlebergbau-Vergangenheit und zelebriert das Arbeitsethos und die Solidarität der Menschen. Auch in Ostdeutschland entsteht eine neue Identität, in die die realsozialistische Vergangenheit, die harten Wendejahre der 1990er sowie die Leistungen und Erfolge der Ostdeutschen im vereinten Deutschland einfließen.

Die Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft sollte mit einem stärkeren Fokus auf die Solidarität vor Ort einhergehen. Der jüngste Deutschland-Monitor – eine groß angelegte jährliche Meinungsumfrage zu politischen Einstellungen in Deutschland – hat ergeben, dass viele Menschen Solidarität in der Gesellschaft im Allgemeinen vermissen. Gleichzeitig ist die Mehrheit aber der Meinung, dass eine solche Solidarität in ihrer persönlichen Umgebung sehr wohl noch existiere. Progressive Politik muss diese Diskrepanz thematisieren – und vor allem gute Voraussetzungen für lokale Solidarität schaffen.

Der Abbau regionaler Ungleichheiten und die Stärkung einer lokalen Solidarität sind mögliche Mittel gegen populistische Tendenzen.

Der Abbau regionaler Ungleichheiten und die Stärkung lokaler Solidarität sind mögliche Mittel gegen populistische Tendenzen. Darüber hinaus sollten alle demokratischen Parteien darüber nachdenken, wie sie mit Themen umgehen, die Populisten regelmäßig ausschlachten: Migration, Klima, die Coronavirus-Pandemie sowie weltanschauliche Fragen. Ist es wirklich die richtige Strategie, sich vor diesen Themen zu drücken? Kamala Harris hat in ihrem Wahlkampf kritische Punkte wie Migration und Inflation offensiv angesprochen, obwohl viele Wählerinnen und Wähler der Ansicht waren, dass Donald Trump als früherer Unternehmer und Ex-Präsident in diesen Fragen mehr Durchsetzungskraft besitzt.

Politiker der Mitte haben allen Grund, selbstbewusster aufzutreten: Sie sollten sich bewusst machen, dass radikale Positionen zwar Aufmerksamkeit erregen, die meisten Menschen aber nach wie vor der „relativ stabilen, ideologiefreien Mitte“ angehören. Diese Mehrheit hat ziemlich eindeutige Ansichten zu zentralen Themen wie Klimawandel und Ungerechtigkeit (negativ) sowie Migration und Diversität (weitgehend positiv, wenn auch mit Einschränkungen). Die meisten Menschen wünschen sich keinen polarisierten Diskurs, im Gegenteil: Er macht ihnen Angst. Eine gute Politik der Mitte muss daher mehr über gemeinsame Werte, geteilte Ansichten und eine solidarische Gesellschaft sprechen, in der die Menschen aufeinander vertrauen können.

Die Lösung besteht also darin, mehr positive Emotionen – wie Solidarität, Sehnsüchte und Hoffnung – zuzulassen. „Hope“ und „Change“ waren die zentralen Schlagworte des erfolgreichen Wahlkampfs von Barack Obama. Die aktuelle Harris-Walz-Kampagne zielt darauf ab, „voranzukommen“ und Chaos und Hass hinter sich zu lassen. Die demokratischen Parteien sollten vor großen politischen Herausforderungen nicht zurückscheuen, aber ganz anders über sie sprechen als die Populisten. Der Schlüssel zum Erfolg liegt darin, ein überzeugendes, inklusives und positives Narrativ über die Zukunft zu entwickeln. Migration ist gut für die Wirtschaft und belebt die Gemeinschaften vor Ort. Maßnahmen gegen den Klimawandel fördern den technologischen Fortschritt. Der Schutz der bürgerlichen Freiheiten garantiert jeder und jedem das Recht, nach ihren Werten zu leben – ob konservativ oder progressiv.

Populisten instrumentalisieren wichtige Themen für schnelle politische Zugewinne. Progressive sollten darauf reagieren, indem sie Brücken statt Mauern bauen. Sie müssen das Gemeinschaftsgefühl wiederherstellen und dafür sorgen, dass die Grundbedürfnisse der Menschen erfüllt werden und sie unabhängig vom Lebensort gleiche Chancen haben. Positive Zukunftsvisionen werden nur dann überzeugend sein, wenn sich dabei alle sicher sein können, nicht abgehängt oder zurückgelassen zu werden.