Seit Elon Musk in der vergangenen Woche Twitter übernahm, wird ausgiebig darüber spekuliert, welche Pläne er hat und insbesondere, ob er Gebühren zum Beispiel für Verifizierungsabzeichen einführen wird. Das sind die blauen Häkchen, die verraten, ob sich hinter einem Account auch wirklich die angegebene Identität verbirgt. Bislang wurde das Abzeichen in einem undurchsichtigen Verfahren überwiegend namhaften Usern zugesprochen: Stars, Staatschefs, Behörden, Medienschaffenden.
Der Gedanke, Gebühren zu verlangen, löste einigen Spott aus, und manche argumentierten, damit würden Redefreiheit und Gleichheit untergraben. Sie sagten voraus, Musk werde entgegen seinen Ankündigungen auf Druck der Werbekunden – die sich seit seiner Übernahme aus Twitter zurückziehen – die Moderation der Website wohl fortsetzen müssen, um der Hassrede Einhalt zu gebieten. Kritische Stimmen kündigen an, Twitter zu verlassen, sollten Gebühren fällig werden, und fordern andere auf, es ihnen gleichzutun. Doch auch wenn viele der Plattform den Rücken kehren, wird Twitter den Nachrichtenjournalismus und die Kultur insgesamt wohl auch künftig prägen, zumal Medienschaffende stark von Twitter beeinflusst werden.
Dass uns die Werbewirtschaft im Alleingang vor Hassbotschaften und dem weiteren Verfall der sozialen Medien bewahren wird, ist reines Wunschdenken. Eine überwiegend werbefinanzierte Website ist weder frei noch vorteilhaft. Dass große Bereiche unserer Öffentlichkeit im Netz – Facebook, YouTube, TikTok, Instagram und Twitter – auf Werbung setzen, hat vielmehr gesellschaftliche Spaltung, Hassrede und Überwachung in verheerendem Ausmaß befördert. In werbefinanzierten Internetmedien sind die Werbepartner die wahre Kundschaft. Sie bezahlen dafür, möglichst lange möglichst viel von unserer Aufmerksamkeit zu bekommen, und sie kaufen unsere Daten, um ihre Werbung präziser zu platzieren. Damit die User möglichst lange auf einer Website bleiben, sorgen Ausgestaltung und Algorithmen dafür, dass sie sich intensiver damit befassen. Häufig geschieht dies mittels falscher, hetzerischer oder spaltender Inhalte, die sich, wie die Forschung belegt, in sozialen Medien besonders leicht ausbreiten.
Menschen neigen dazu, sich, wie es in der Soziologie heißt, einer Eigengruppe zuzuordnen und gegen Fremdgruppen abzugrenzen – „mein Team gegen dein Team“. Im besten Fall lenkt eine Zivilisation diese Dynamik positiv in Sportwettbewerbe oder in den Stolz auf die Leistungen des eigenen Landes, nicht aber in Krieg, ethnischen Hass und Xenophobie. Man kann eine Gruppe von Menschen gut bei der Stange halten, indem man ihren Wettbewerbsgeist herausfordert, und genau das lässt sich in den sozialen Medien beobachten, häufig in nicht sonderlich erfreulicher Weise. Hier geht es nicht so sehr zu wie in einer Echokammer, in der unterschiedliche Gruppen nichts voneinander mitbekommen, sondern eher wie in einem Fußballstadion, in dem wir uns verbünden, indem wir die Fans der Gegenseite anbrüllen.
Für eine gezieltere Platzierung der Werbung sammeln die Plattformen unermüdlich unsere Daten.
Unabhängig vom Thema pushen Ausgestaltung und Algorithmen sozialer Medien deshalb oft besonders negative und kontroverse Inhalte, gepaart mit einhelligen Reaktionen und bekräftigenden Inhalten, die die Bindung innerhalb der Eigengruppe stärken. Das sind zwei Seiten einer Medaille, und das Ganze funktioniert in etwa wie in einer Cafeteria, in der zu jeder Mahlzeit stark verarbeitete Nahrungsmittel mit viel Fett, Zucker und Salz serviert werden: Man nutzt die Schwäche der Menschen, um sie zu ködern.
Für eine gezieltere Platzierung der Werbung sammeln die Plattformen unermüdlich unsere Daten und entwickeln mittels künstlicher Intelligenz Modelle, mit denen sich die Interessen und Schwächen der Menschen besser vorhersagen lassen. So entsteht eine gewaltige Überwachungsinfrastruktur, mit deren Hilfe sich feststellen lässt, welche User sich von einer Änderung ihrer Ernährungsgewohnheiten überzeugen lassen könnten oder ob eine Frau schwanger ist und über eine Abtreibung nachdenkt. (Übrigens ist die Werbefinanzierung natürlich nicht gratis, denn die Kosten für die Werbung sind im Preis der braunen Zuckerbrause oder des Waschmittels enthalten.) Diese autoritäre Infrastruktur wurde geschaffen, um Werbung wirksamer zu platzieren. Als Modell für die öffentliche Sphäre im Netz aber ist sie einfach nur schrecklich.
Schlimmer noch: Profitabel ist die digitale Werbung für die Plattformen nur, wenn sie in gigantischem Ausmaß stattfindet – mit Hunderten von Millionen oder gar Milliarden Usern. Um zu wachsen, bieten soziale Medien ihre Dienste auch in armen Ländern an, ohne sich darum zu kümmern, was auf ihrer Plattform geschieht, wenn sie sich dort erst ausgebreitet hat. Im Jahr 2018 berichtete ein Ermittler der Vereinten Nationen, dass in Myanmar über Facebook ethnischer Hass geschürt wurde; in dem Unternehmen beherrschten nur wenige Angestellte Burmesisch – zu wenige im Verhältnis zu den Millionen burmesischsprachiger User.
Dass Werbekunden Plattformen meiden, die ihre Inhalte nicht moderieren, stimmt zwar, doch haben die Unternehmen dabei nicht unbedingt das Wohl der Öffentlichkeit im Sinn. Es mag sein, dass sie einer Plattform, die von schlimmster Hassrede durchzogen ist, den Rücken kehren, aber wahrscheinlich mögen sie es genauso wenig, wenn dort beispielsweise eine starke Anhebung der Unternehmenssteuern propagiert wird. Ich halte es für keine gute Idee, Waschmittel- oder Limonadeherstellern die Verantwortung für den öffentlichen Raum zu übertragen.
Der traditionelle Journalismus bemüht sich nach Kräften, die Werbung aus den Redaktionen herauszuhalten: Mit Richtlinien, ethischen Grundregeln und Handlungsanweisungen soll verhindert werden, dass Werbekunden die journalistische Arbeit beeinflussen. Man kann darüber streiten, wie erfolgreich diese Maßnahmen sind, aber zumindest haben sich viele Redaktionen des Problems angenommen. Auch traditionelle Nachrichtenmedien einschließlich der New York Times bemühen sich um digitale Werbung und sammeln Daten der User, um die Clips besser zu platzieren. Aber da große Zeitungen wie die Times mit digitaler Werbung nur einen geringen Teil ihrer Einnahmen generieren, liegt ihr Schwerpunkt auf den Abonnements.
Profitabel ist die digitale Werbung für die Plattformen nur, wenn sie in gigantischem Ausmaß stattfindet.
Ich war noch nie ein Musk-Fan. Als ich seinen unklugen Abstecher in die Rettung von zwölf Jungs aus einer Höhle in Thailand kritisierte, beschimpfte er in seiner Reaktion auf Twitter einen maßgeblich an der Rettungsaktion beteiligten Taucher als „Pädo“. Musk löschte den Tweet, entschuldigte sich und wurde vom Vorwurf der Verleumdung freigesprochen, doch unter den Aktionären nährte der Vorfall Zweifel an seiner Tauglichkeit als Tesla-Chef.
Wir sollten uns aber nicht für das werbefinanzierte Twitter-Modell stark machen, nur weil wir uns über Musks Eskapaden ärgern. Ohnehin könnte Musk für den Betrieb der Website zu impulsiv sein und sein Projekt gegen die Wand fahren. Nicht zuletzt sollte uns dieser Fall vor Augen führen, wie schädlich es ist, wenn wenige Menschen so großen Einfluss auf die öffentliche Sphäre im Netz haben. Wie wir sehen, können Plattformen den Besitzer wechseln. Darüber den Schiedsrichter zu spielen, ist nicht unbedingt zielführend.
Der Slogan „Geht raus aus den sozialen Medien“ klingt in meinen Ohren etwa so sinnvoll wie der Ratschlag, Kriegsnachrichten im Fernsehen zu meiden: Egal, ob sich die einzelne Zuschauerin davon befreit, tobt der Krieg doch weiter und wirkt sich auf alle möglichen Bereiche aus. So verlockend es sein mag, das Individuum in den Blick zu nehmen: Wir brauchen einen Mix aus regulatorischer Aufsicht, veränderten Geschäftsmodellen, einer Selbstregulierung der Branche und bürgerschaftlichem Engagement.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der New York Times.
Aus dem Englischen von Anne Emmert