In Deutschland wird seit Monaten intensiv über ein Verbot der AfD diskutiert. Eine Gruppe von 113 Bundestagsabgeordneten aus nahezu allen Parteien hat kürzlich einen Antrag eingebracht, um ein Verbotsverfahren einzuleiten. Der Bundestag soll das Bundesverfassungsgericht anrufen, um die Verfassungswidrigkeit der AfD feststellen zu lassen.

Wie gehen andere Länder in Europa mit Parteiverboten um? Obwohl es Unterschiede gibt, lassen sich fünf grundsätzliche Muster erkennen:

Erstens: In Europa sind Parteiverbote äußerst selten. Zwischen 1945 und 2024 haben die 46 Mitgliedstaaten des Europarats etwa 150 Parteiverbotsverfahren durchgeführt – im Schnitt knapp zwei pro Jahr. Die meisten der verbotenen Parteien waren klein und hatten geringen Wählerzuspruch. Verbote größerer Parteien sind eine Ausnahme. Beispiele dafür sind das Verbot der Vorgängerparteien der AKP in der Türkei und der baskisch-nationalistischen Partei Herri Batasuna in Spanien.

Zweitens: Parteiverbote kommen in autoritären Staaten deutlich häufiger vor als in Demokratien. Russland führt mit Abstand die Statistik an: Zwischen 2007 und 2022 wurden dort 53 Parteien verboten – das entspricht mehr als einem Drittel aller Parteiverbote, die in den Mitgliedstaaten des Europarats bisher verhängt wurden. An zweiter Stelle folgt die Türkei mit 23 Parteiverboten. In Demokratien hingegen sind Parteiverbote selten. Die Mehrheit der Europaratsmitglieder hat bislang keine Parteien verboten. Nur in Frankreich (13 Verbote) und Rumänien (neun Verbote) gab es relativ viele. Deutlich weniger Parteiverbote gab es in Spanien (vier), Italien (drei), den Niederlanden (drei), Belgien (drei), Deutschland (zwei) und Österreich (zwei). In Norwegen, der Slowakei, Lettland, Litauen, Estland, Moldawien, Tschechien, Kroatien, Bulgarien, im Vereinigten Königreich und in Griechenland wurde jeweils nur eine Partei verboten.

Parteiverbote kommen in autoritären Staaten deutlich häufiger vor als in Demokratien.

Drittens: Parteiverbote gab es häufiger in Phasen des politischen Umbruchs oder in Ausnahmesituationen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden beispielsweise in den Niederlanden, Italien, Deutschland und Österreich faschistische Parteien verboten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion trafen Parteiverbote die kommunistischen Parteien Lettlands, Litauens, Moldawiens und der Ukraine. In der Ukraine gab es nach dem russischen Überfall 2022 viele Parteiverbote, nämlich 17.

Viertens: Verbote betrafen Parteien aller Couleur, aber vor allem Parteien, die den jeweiligen Staat in seiner Existenz infrage stellten und Gewalt befürworteten. Separatistische und nationalistische Parteien mit Verbindungen zu terroristischen Gruppen fallen etwa in diese Kategorie. Beispiele sind Sinn Féin, das im Vereinigten Königreich 1956 verboten wurde, oder Herri Batasuna und deren Nachfolgeparteien, die in Spanien 2003 verboten wurden.

Fünftens: Parteiverbote sind ein zweischneidiges Schwert. Sie können dazu beitragen, die Demokratie zu schützen, aber auch das Gegenteil bewirken. Das Verbot der Herri Batasuna trug beispielsweise zur Deeskalation des Konflikts im Baskenland bei und leistete einen wichtigen Beitrag zur Beendigung des ETA-Terrors. Demgegenüber wurde in der Türkei die AKP durch die Verbote ihrer Vorgängerparteien und das Verbotsverfahren gegen sie selbst gestärkt. Diese Verfahren waren für die AKP und ihre Anhänger Beweis, dass die türkische Justiz parteiisch und undemokratisch sei und in ihrem Sinne umgebaut werden müsse. Die schwache Beweisführung in diesen Verfahren hat die Demokratie in der Türkei zusätzlich geschwächt.

Diese Muster lassen sich nicht eins zu eins auf die Debatte um ein AfD-Verbot in Deutschland übertragen – zu groß sind die Unterschiede zwischen den Ländern –, aber es gibt Punkte, die auch für die deutsche Debatte wichtig sind.

Parteiverbote sind in Europa selten, insbesondere in den EU-Mitgliedstaaten. Sie betreffen noch seltener Parteien mit großem Wählerzuspruch. Parteiverbote sind in den EU-Mitgliedstaaten aber nicht nur selten, es gibt dort auch keine größeren Diskussionen zum Verbot von Parteien. Daraus ergeben sich Fragen: Inwiefern unterscheidet sich die Widerstandsfähigkeit der deutschen Demokratie beispielsweise von der in Frankreich, Italien, den Niederlanden, Österreich oder Spanien? Und wie groß sind die Unterschiede zwischen der AfD und Parteien wie dem Rassemblement National, den Brüdern Italiens, der Partij voor de Vrijheid, der FPÖ oder Vox? Zwar ist die AfD in vielen Punkten extremistischer als diese Parteien, aber sind die Unterschiede so groß, dass sie ein Verbot der AfD erforderlich machen?

Parteiverbote sind in Europa selten.

Verbote großer Parteien gab es in der EU bisher nur in Ausnahmesituationen. Deutschland befindet sich jedoch nicht in einer solchen Ausnahmesituation. In der deutschen Diskussion wird oft auf die Weimarer Republik Bezug genommen, doch dieser Vergleich ist irreführend. Mit dem Grundgesetz, der Mitgliedschaft in der EU und einer freieren, emanzipierteren und toleranteren Gesellschaft ist die Demokratie in Deutschland heute wesentlich stabiler als vor 100 Jahren.

Verbote von Parteien haben sehr große politische Bedeutung. Diese wächst mit der Größe der Partei, gegen die ein Verbotsverfahren geführt wird. Solche Verfahren gehören zu den sensibelsten Momenten in Demokratien. Der case gegen eine Partei muss deshalb sehr stark sein. Die Beweisführung muss nicht nur vor Gericht Bestand haben, sondern gerade auch in der politischen Auseinandersetzung. Dabei geht es nicht nur darum, die eigenen Anhängerinnen und Anhänger zu überzeugen, sondern auch breite gesellschaftliche Mehrheiten und, idealerweise, Teile der Anhängerschaft der zu verbietenden Partei. Dafür müssen belastende und entlastende Aspekte nachvollziehbar abgewogen und alle Seiten gleichermaßen gehört werden. Der case für ein Parteiverbot darf nicht primär das Ergebnis einer Debatte unter Gleichgesinnten sein.

Hier hat die deutsche Debatte Verbesserungsbedarf. Sie ist oft selbstreferenziell und eher daran interessiert, bestehende Meinungen zu bestätigen, als sie infrage zu stellen. Häufig ist die Diskussion zudem überhastet. So wird die AfD derzeit vom Verfassungsschutz als „Verdachtsfall“ und nicht als „gesichert extremistische Bestrebung“ eingestuft. Die deutsche Debatte blendet zudem häufig wichtige Aspekte aus. Beispielsweise spielen die Programme der AfD nur eine geringe Rolle, obwohl diese für die politische Debatte und für Gerichtsverfahren wichtig sind, wie das Bundesverfassungsgericht im NPD-Verbotsverfahren gezeigt hat.

Darüber hinaus müssen für das Verbotsverfahren zentrale Dokumente in jeder Hinsicht überzeugen. Dies ist nicht immer der Fall. So hat der im Bundestag eingebrachte Verbotsantrag Schwächen. In der Begründung wird behauptet, dass „zahlreiche AfD-Funktionäre“ an der von Correctiv aufgedeckten „Potsdam-Konferenz“ teilgenommen hätten. Tatsächlich waren es nur vier – neben zwei CDU-Mitgliedern. Zudem war die Konferenz keine AfD-Veranstaltung. Solche Ungenauigkeiten sind keine Lappalien, sondern Fehler, die in einer politisch höchst sensiblen Frage wertvolle Glaubwürdigkeit kosten.

Die Überzeugungen und die Wählerschaft der AfD werden durch ein Parteiverbot nicht verschwinden. Ein Verbot führt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu mehr Polarisierung, Wut und Radikalität. Viel spricht dafür, dass – wie Joachim Gauck meint – „verunsicherte konservative Bürger, die die AfD wählten, bei einem Verbot der Partei den Staat als Feind erleben würden“. Die politische Diskussion muss sich mehr mit diesem Punkt befassen. Was passiert, wenn knapp 20 Prozent der Wählerinnen und Wähler den Staat als Feind betrachten? Was sind Anreize, damit die AfD moderater wird und ihre Wählerschaft sich nicht weiter vom Staat abwendet? Sind allein Sanktionen geeignet, damit sich die AfD von ihren radikalen Teilen distanziert? Auch in dieser Hinsicht ist ein Blick zu den europäischen Nachbarn interessant. 

Da sehr viel auf dem Spiel steht, bedürfen diese Punkte einer tieferen gesellschaftlichen Diskussion – gerade auch mit der AfD und ihren Anhängern. In dieser Diskussion geht es nicht darum, eine Brandmauer um eine Partei zu bauen, sondern um undemokratische Positionen – wie sie Führungsleute der AfD vertreten, wichtige Teile der Partei sie bejubeln und der Rest der Partei sie toleriert. Diese Diskussion muss zuerst kommen, dann möglicherweise der Ausschluss der AfD von der Parteienfinanzierung oder das Verbot ihrer radikalen Teile. Das Verbot der Gesamtpartei kommt am Ende.