Als die Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 beschlossen wurde, endete eine jahrzehntelange Praxis, bei der sich die Bundesrepublik bewusst gegen eine reine Berufsarmee entschieden hatte. Nach den Erfahrungen mit der Reichswehr in der Weimarer Republik als einem „Staat im Staate“ sollte das Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Militär neu bestimmt werden. Die Bundeswehr wurde als eine demokratische Einrichtung selbstbewusster Bürger konzipiert. Mit Vollendung des 18. Lebensjahres bekam jeder männliche Bürger eine Einberufung zur Musterung. Wer den Wehrdienst aus Gewissensgründen ablehnte, konnte einen zivilen Ersatzdienst leisten, der zunehmend an Zuspruch gewann und zu einer festen Größe im sozialen Alltag der Bundesrepublik wurde. Sowohl der Wehrdienst als auch der Zivildienst haben in dieser Zeit wesentlich zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beigetragen. Nicht nur aufgrund der militärischen und zivilen Aufgaben, die den jungen Männern übertragen wurden, sondern auch weil sie unabhängig von ihrer sozialen Herkunft eine gemeinschaftliche Erfahrung machen konnten. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht wurde auch der Zivildienst abgeschafft.

Es gibt viele überzeugende Argumente für eine allgemeine Dienstpflicht, die sowohl eine militärische als auch eine zivile Säule umfasst. Das gewichtigste aber betrifft die Grundlagen unseres demokratischen Gemeinwesens. Schon Hegel betonte in seiner Rechtsphilosophie von 1820, dass eine liberale Gesellschaft auf einen starken Staat angewiesen ist – und dass daraus auch eine Pflicht aller Bürger erwächst, dem eigenen Land zu dienen. Seine prinzipiellen Überlegungen zum Verhältnis von Zivilgewalt und Militärgewalt sind angesichts der weltpolitischen Umbrüche und eines gefährdeten gesellschaftlichen Zusammenhalts heute aktueller denn je. Während sich die Zivilgewalt auf die inneren Angelegenheiten bezieht, wird die Militärgewalt – falls nötig – in den Außenbeziehungen wirksam. Aber trotz dieser Trennung gibt es Fälle, in denen die eine Gewalt die Aufgaben der anderen übernimmt: „Bisweilen ist die Zivilgewalt ganz erloschen und beruht nur auf der Militärgewalt, wie zur Zeit der römischen Kaiser und der Prätorianer; bisweilen ist, wie in modernen Zeiten, die Militärgewalt nur aus der Zivilgewalt hervorgehend, wenn alle Bürger waffenpflichtig sind.“ (§ 271, Zusatz)

Mit den „modernen Zeiten“ ist hier vor allem das französische Revolutionsheer gemeint. Dessen personelle Stärke beruhte auf einer allgemeinen Wehrpflicht, und es galt als eine der effizientesten Armeen Europas. Bestand die Militärgewalt bis dahin vorwiegend aus Söldnerheeren, wurde die Pflicht aller junger Männer in Frankreich, sich als potenzielle Rekruten registrieren zu lassen, bald zum Vorbild für Heeresreformen in anderen Ländern. Die Einberufung entwickelte sich rasch zu einem Scharnier zwischen Zivilgesellschaft und Militär. Aus stehenden Heeren wurden Nationalarmeen, und der Wehrdienst galt fortan als eine „Schule der Nation“ und als wichtige Passage des Erwachsenwerdens. Zugleich diente er als Garant dafür, dass sich das Militär nicht zu sehr von der Gesellschaft entfernte. Die junge Bundesrepublik Deutschland hatte dafür die Losung vom „Staatsbürger in Uniform“ gefunden.

Mit der Aussetzung der Wehrpflicht verschwand auch ein wichtiger kollektiver Erfahrungsraum, in dem sich das Ideal des Staatsbürgers konkretisieren konnte.

Nach dem Ende des Kalten Kriegs verlagerte die Bundeswehr ihren Schwerpunkt zunehmend auf Auslandseinsätze im Rahmen der Vereinten Nationen. Diese erforderten andere Fähigkeiten als die einer klassischen Verteidigungsarmee – entsprechend sank der Bedarf an Rekruten pro Jahrgang. Das führte zu einer intensiven Diskussion über die Wehrgerechtigkeit: Warum sollten einige eingezogen werden, während andere verschont blieben? Die Folge war ein Abschied von der Vorstellung eines „Staatsbürgers in Uniform“. Aus der Bundeswehr wurde eine reine Berufsarmee. Als Ersatz für den Zivildienst wurde das „Freiwillige Soziale Jahr“ stärker beworben, das jedoch nur eine begrenzte Anzahl junger Menschen ansprach und die Bedeutung des Zivildienstes für den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht erreichen konnte. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht verschwand auch ein wichtiger kollektiver Erfahrungsraum, der einer fortschreitenden gesellschaftlichen Fragmentierung entgegenwirken und in dem sich das Ideal des Staatsbürgers konkretisieren konnte. Heute versteht sich die Bundeswehr als ein Arbeitgeber wie jeder andere.

Nicht erst seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine – und nicht nur in Deutschland – wird diskutiert, ob die Aussetzung der Wehpflicht ein Fehler war. Denn möglicherweise waren die damit verbundenen Erwartungen an die Zukunft falsch. Mehrere europäische Länder haben die Wehrpflicht inzwischen wieder eingeführt. Doch die Diskussion über eine allgemeine Dienstpflicht reicht weiter zurück – und ist grundsätzlicher: Sie betrifft nicht nur die Sicherheit, sondern den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Für Hegel war es selbstverständlich, dass Bürger im Ernstfall zur Verteidigung ihres Landes herangezogen werden konnten. Als Privatbürger kommen sie in den Genuss ihrer individuellen Freiheit, die ihnen der moderne Rechtsstaat garantiert. Als Staatsbürger haben sie jedoch auch Pflichten diesem Staat gegenüber, zu denen der Erhalt seiner Selbständigkeit gehört. Diese Pflichten resultieren daraus, dass Bürger über ihre gesellschaftlichen Beziehungen hinaus auch eine politische Gemeinschaft bilden. Wer sich diesen Pflichten entzieht, konnte für Hegel zwar Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft sein, aber keinen Anspruch auf politische Mitbestimmung erheben.

Leitet man die Wehrpflicht aus dem Prinzip politischer Mitbestimmung ab, dann gilt sie nur für den Verteidigungsfall. Sie begrenzt die Massenaushebung, wie sie erstmals bei der Organisation des französischen Revolutionsheeres vorgenommen wurde, auf den Ernstfall einer äußeren Bedrohung. Nur in diesem Fall sind die Bürger waffenpflichtig, und nur dann geht die Militärgewalt aus der Zivilgesellschaft hervor. Ansonsten beruht die Armee auf einem Berufsstand, wie andere Professionen auch. Auslandseinsätze, wie sie die Bundeswehr im Rahmen der Vereinten Nationen durchgeführt hat, würden unter dieser Logik ausschließlich von Berufssoldaten übernommen. Doch ein Verteidigungsfall erfordert heute weit mehr als militärische Mittel, um die Selbständigkeit des Staates aufrechtzuerhalten. Deshalb ist es geboten, die traditionelle Wehrpflicht in eine allgemeine Dienstpflicht zu überführen, die sowohl Männer als auch Frauen umfassen muss. Denn gleichen Rechten entsprechen auch gleiche Pflichten.

Von den bestehenden Modellen einer allgemeinen Dienstpflicht kommt das schwedische System diesem Ideal des Staatsbürgers am nächsten.

Von den bestehenden Modellen einer allgemeinen Dienstpflicht in Europa kommt das schwedische System diesem Ideal des Staatsbürgers am nächsten, für das sich auch Verteidigungsminister Boris Pistorius bereits ausgesprochen hat. Wie in Deutschland wurde auch in Schweden die Wehrpflicht im Jahr 2010 ausgesetzt – und angesichts veränderter Bedrohungslagen 2017 wieder eingeführt. Seit 2023 gilt zusätzlich eine Pflicht zum Zivildienst. Seitdem sind alle Männer und Frauen, die in Schweden leben, dazu verpflichtet, mit einem „nationalen Dienst“ ihren Beitrag zur Landesverteidigung zu leisten – sei es innerhalb der Streitkräfte, beim Schutz der Zivilbevölkerung oder zur Aufrechterhaltung gesellschaftlich relevanter Funktionen, etwa in der Kinderbetreuung. Im Unterschied zum früheren deutschen Modell ist der Zivildienst in Schweden kein Ersatzdienst, sondern eine eigenständige Säule der Wehrhaftigkeit. Anders als die frühere deutsche Musterung ist die schwedische sehr umfassend. Sie ist nicht nur auf die Tauglichkeit ausgerichtet, sondern fragt auch die Befähigungen und vor allem die Bereitschaft zum Dienst ab.

Die weltpolitische Lage zwingt Europa gegenwärtig dazu, seine Verteidigungsfähigkeit zu überprüfen und vielerorts überhaupt erst aufzubauen. Diskussionen über eine europäische Verteidigungsgemeinschaft, einschließlich einer europäischen Armee, gibt es schon seit den 1950er Jahren. Dabei geht es längst nicht nur um militärische Fähigkeiten. Im Zentrum steht auch die Frage nach dem politischen und sozialen Zusammenhalt – sowohl zwischen den Mitgliedstaaten innerhalb der Europäischen Union als auch auf nationaler Ebene. Die weit verbreitete Überzeugung in Schweden, dass alle etwas für die Gemeinschaft leisten müssen, spiegelt sich auch in der konkreten Ausgestaltung der allgemeinen Dienstpflicht wider. Dazu gehören neben einer zwölfmonatigen Dienstzeit auch Auffrischungskurse und regelmäßige Übungen. Dieses Modell stärkt nicht nur die Wehrfähigkeit, sondern auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt – und schützt zugleich die individuelle Freiheit, weil die Last der Verantwortung auf viele Schultern verteilt wird.