Deutschlands Entscheidung, ohne Absprache mit seinen Nachbarn wieder Grenzkontrollen einzuführen, bedeutet einen gefährlichen Rückschritt für die Europäische Union. Sie untergräbt das Fundament der europäischen Einheit zu einer Zeit, in der Europa dieses Fundament mehr denn je braucht, denn der Kontinent ist dabei, unter dem Druck der anhaltenden Zuwanderung von Asylsuchenden zu zerbrechen. Weder einseitige Alleingänge noch ein weiteres Auseinanderdriften werden zu einer echten Lösung führen, sondern die zügige Umsetzung des Migrations- und Asylpakets der EU. Dieses Paket soll die Verantwortlichkeiten gerechter verteilen, solidarische Unterstützung schaffen und das Asylverfahren straffen. Vor allem wegen politischer Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedstaaten und wegen des Widerstands von Ländern, die nicht bereit sind, Mitverantwortung für Asylsuchende zu übernehmen, wurde der EU-Pakt zwar im Grundsatz vereinbart, seine Umsetzung allerdings bis 2026 zurückgestellt­­­­­­­­­. Durch diesen Aufschub verschärft sich die Migrationskrise nur noch weiter. 

Jahrelang war die EU stolz auf ihr Schengener Abkommen, das den freien Personenverkehr im Schengen-Raum ermöglicht. Doch durch die Schließung der Grenzen, die Deutschland kürzlich beschlossen hat, gerät dieses Grundprinzip ins Wanken. Die EU-Länder ziehen nicht mehr an einem Strang. Die Mitgliedstaaten ergreifen unabhängig voneinander Maßnahmen zur Krisenbewältigung, wobei sie sich häufig eher von innenpolitischem Druck als von einem europäischen Solidaritätsgefühl leiten lassen. Mit der Entscheidung – wohl aus Angst vor dem Ruck nach rechts außen bei den Wahlen in Ostdeutschland – sendet Deutschland ein beunruhigendes Signal. Wenn schon Deutschland, die größte Volkswirtschaft der EU und ein politisches Schwergewicht, sich entschließt, die europäische Zusammenarbeit zu umgehen, was soll dann erst andere davon abhalten, dasselbe zu tun?

Auch andere Länder wie etwa Österreich, Zypern und sogar Polen sind dabei, die Grenzkontrollen zu verschärfen.

Das Problem beschränkt sich nicht auf Deutschland allein. Auch andere Länder wie etwa Österreich, Zypern und sogar Polen sind dabei, die Grenzkontrollen zu verschärfen. Oder sie diskutieren über die Abschiebung von Asylsuchenden in Länder wie Syrien oder Afghanistan, in denen Krieg herrscht. Diese „Alleingangmentalität“ greift um sich und gefährdet die mühsam errungene Einheit, die Europa sich über Jahrzehnte hinweg erarbeitet hat. Wir erleben gerade eine gefährliche Entwicklung, in der anstelle von Zusammenarbeit die Schließung von Grenzen und eine nationalistische Politik treten – mit katastrophalen Folgen.

­Im Rahmen der geltenden Dublin-Verordnung sind südeuropäische Länder wie Italien und Griechenland, die zwischen Europa und dem Rest der Welt oft an vorderster Front stehen, für die Bearbeitung von Asylanträgen zuständig. Dadurch werden unhaltbare Zustände geschaffen: überlastete Systeme, überfüllte Lager und menschliches Leid. Und andere EU-Länder wie Deutschland erleben eine Sekundärmigration, weil Asylsuchende auf der Suche nach besseren Zukunftschancen Richtung Norden ziehen.

Der EU-Pakt muss daher dringend schneller umgesetzt werden, damit das Asylsystem gerechter und effizienter wird. Er zielt darauf ab, die Verantwortung für Asylsuchende gerechter auf die EU zu verteilen und den Druck auf die Mittelmeerländer an Europas Außengrenzen zu verringern. Jeder Mitgliedstaat soll verpflichtet werden, eine bestimmte Anzahl an Asylsuchenden aufzunehmen oder jene Länder, die dies tun, finanziell zu unterstützen. Dieser Solidarbeitrag ist unverzichtbar, damit kein Land die Hauptlast der Krise zu tragen hat, während andere einfach ihre Grenzen schließen.

Grenzschließungen sind ein kurzfristiger Notbehelf, der die Spaltung zwischen den EU-Mitgliedstaaten nur vertiefen und die nationalistische Rhetorik auf dem gesamten Kontinent anheizen wird.

Ferner sieht das EU-Migrations-und-Asylpaket Maßnahmen vor, die das Asylverfahren straffen, damit es schneller und ausgewogener wird. Durch die Verkürzung der Bearbeitungszeiten von Asylanträgen und durch die Einführung klarerer Regeln für Abschiebungen bei abgelehnten Anträgen lassen sich Engpässe und Bearbeitungsrückstände vermeiden, die das System belasten. Jedes EU-Land wäre für die Bearbeitung von Asylbewerbern mitverantwortlich. Dadurch würde sichergestellt, dass nicht bestimmte Nationen unverhältnismäßig belastet werden.

Der Zeitplan für die Umsetzung bis 2026 ist entschieden zu langsam. Die Krise ist jetzt akut, und die EU-Staats- und -Regierungschefs müssen schnell handeln. Den Pakt bereits jetzt in Kraft zu setzen, würde nicht nur überlasteten Grenzstaaten sofortige Entlastung bringen, sondern auch den Zerfall der europäischen Einheit verhindern, den wir derzeit unmittelbar miterleben. Grenzschließungen sind ein kurzfristiger Notbehelf, der die Spaltung zwischen den EU-Mitgliedstaaten nur vertiefen und die nationalistische Rhetorik auf dem gesamten Kontinent anheizen wird.

Zudem gibt es auch eine moralische Verpflichtung. Die EU gibt sich gerne stolz als Bastion der Menschenrechte und demokratischen Werte. Doch wenn sie das bestehende desolate Asylsystem nicht reformiert, riskiert sie, diese Werte preiszugeben. Die extreme Rechte, die „Migranten“ pauschal als Bedrohung für die europäische Sicherheit und Kultur diffamiert, gewinnt gerade deshalb an Boden, weil es den führenden Politikerinnen und Politikern der Mitte und der progressiven Parteien nicht gelingt, eine klare und einvernehmliche Lösung zu präsentieren. Eine sofortige Umsetzung des Pakts wäre ein sehr wirkungsvolles Signal dafür, dass Europa in der Lage ist, seine Grenzen zu schützen und dennoch weiterhin für die Menschenrechte einzutreten.

Diese Krise wird nicht verschwinden. Doch man kann sie durch koordinierte Maßnahmen so in den Griff bekommen, dass die Gründungsprinzipien der EU gewahrt bleiben.

Hier geht es nicht nur um politische Opportunität, sondern um Europas Selbstverständnis. Will Europa ein Kontinent sein, der sich gegen die Schutzbedürftigsten abschottet, statt seinen Idealen von Mitgefühl, Solidarität und Zusammenarbeit treu zu bleiben? Deutschlands Grenzkontrollen sind symptomatisch für ein viel grundlegenderes Problem: Es fehlt eine einheitliche und umfassende Politik für den Personenverkehr.

Aber noch ist es nicht zu spät, den Kurs zu ändern. Die EU sollte den Pakt jetzt zügig umsetzen, die Verantwortlichkeiten gerechter verteilen, die Länder an den Außengrenzen durch eine solidarische Finanzierung entlasten und das Asylverfahren straffen. Diese Krise wird nicht verschwinden. Doch man kann sie durch koordinierte Maßnahmen so in den Griff bekommen, dass die Gründungsprinzipien der EU gewahrt bleiben. Sollte dies nicht gelingen, bestärkt dies nur diejenigen, die Europa spalten und all das unterhöhlen wollen, was von so vielen hart erarbeitet wurde. Die Zeit für kurzfristige, reaktive Maßnahmen ist vorbei. Gebraucht wird jetzt eine gemeinsame, gerechte und menschliche Lösung, die zum einen die Integrität der Europäischen Union wahrt und zum anderen die Würde der Menschen schützt, die in dieser Union Zuflucht suchen.

Dieser Artikel wurde zuerst auf Social Europe veröffentlicht.

Aus dem Englischen von Christine Hardung

Lesen Sie zu diesem Thema auch den IPG-Beitrag „An der Grenze“ von René Cuperus.