Die Kritik an der verschärften Grenzkontrollpolitik der deutschen Regierung ist sehr vorhersehbar und oberflächlich. Viele konzentrieren sich auf die Art der Durchführung und den sogenannten europäischen Alleingang Deutschlands, ohne die zugrunde liegende Migrations- und Integrationsfrage ausreichend ernst zu nehmen. Die Ampel-Regierung beruft sich zu Recht auf eine „ernsthafte Störung der öffentlichen Ordnung“. Diese ist aufgrund wiederholter terroristischer Messerattacken – ein Symbol für ein dysfunktionales Asylsystem – und des Aufstiegs der rechtsextremen AfD in Gefahr. Für Europa ist es wichtig, dass Deutschland sich erholt und politisch-soziale Stabilität zurückgewinnt.

Groß war die Entgeisterung in den übrigen Ländern Europas, als Deutschland einseitig die Kontrollen an seinen Grenzen ausweitete, um illegale Migration und grenzüberschreitende Kriminalität wirksamer zu bekämpfen. Ausgerechnet Deutschland? Das Land, das sonst immer besonders große Stücke auf Europa hält? Deutschland intensiviert also jetzt – wohlgemerkt: unter einer Mitte-links-Regierung – die Personenkontrollen an seinen Grenzen und geht damit weiter als Länder wie Schweden, die Niederlande oder Italien, in denen radikal rechte Parteien an der Regierung beteiligt sind.

Augenscheinlich steht der deutsche Grenzkontrollplan eindeutig im Widerspruch zu den europäischen Freiheiten und vor allem zum freien Personenverkehr innerhalb des Schengen-Raums. Die Entscheidung wurde ohne große Ankündigungen und ohne nennenswerte Rücksprache mit den europäischen Partnern umgesetzt. Hält jetzt etwa Donald Trumps America First-Mentalität in Deutschland Einzug?

Zynische Beobachter vermuten hinter der Entscheidung ein rein wahltaktisches Motiv als Reaktion auf den Aufstieg der AfD. In der Tat trat der umstrittene Beschluss zu einem Zeitpunkt in Kraft, der nicht ganz zufällig wirkt: genau zwischen den dramatischen Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen, bei denen die AfD und das Bündnis Sarah Wagenknecht den traditionellen Regierungsparteien einen schweren Schlag versetzten, und der Wahl in Brandenburg, die am Ende mit sehr knappem Vorsprung die SPD für sich entscheiden konnte. Mit Blick auf das Kopf-an-Kopf-Rennen in Brandenburg machte die Ankündigung, dass an den Grenzen wieder strenger kontrolliert wird, vielleicht den entscheidenden Unterschied und brachte womöglich ein paar Prozentpunkte ein.

Das europäische Asyl- und Migrationssystem ist dysfunktional und versagt auf der ganzen Linie.

Das Thema Grenzkontrollen ist vielschichtig. Es ist umstritten, ob innerhalb der EU Kontrollen an den Grenzen überhaupt haltbar und juristisch vertretbar sind. Grenzkontrollen sind nur vorübergehend und unter ganz speziellen Voraussetzungen zulässig. Zudem gibt es – unter anderem in der Deutschen Polizeigewerkschaft – Zweifel an der Wirksamkeit der Kontrollen. Lässt sich illegale Migration durch solche Kontrolle überhaupt verhindern? Interessanterweise geht in der allgemeinen Aufregung unter, dass derartige Grenzkontrollen keineswegs neu sind. Bereits im vergangenen Herbst beschloss Deutschland, zur Eindämmung der illegalen Zuwanderung an den Grenzen zu Polen, der Tschechischen Republik und der Schweiz Kontrollen durchzuführen. An der Grenze zu Österreich gibt es sie schon seit Jahren.

Deutschlands Verschärfung der Grenzkontrollen dürfte vor allem ein Versuch sein, wieder die Kontrolle darüber zu bekommen, wer oder was in die Bundesrepublik gelangt. Trotz dieses Versuchs wird eine gewisse Ohnmacht bleiben, weil die tieferen Ursachen für das allgemeine Missmanagement in der Migrationspolitik woanders liegen. Das europäische Asyl- und Migrationssystem ist dysfunktional und versagt auf der ganzen Linie. Mindestens genauso sehr fällt ins Gewicht, dass die Aufnahme- und Integrationsfähigkeit der demokratischen Wohlfahrtsstaaten in Europa vollkommen überstrapaziert ist.

Das Resultat: An Europas Außengrenzen bestimmen Schlepper und Schleuser das Geschehen. Der Preis dafür ist hoch; viele Menschen bezahlen mit ihrem Leben. Und wer es einmal nach Europa geschafft hat, wird kaum wieder ausreisen – das gilt für echte Flüchtlinge ebenso wie für Wirtschaftsmigranten oder Terroristen.

Durch die Migration geraten die sozialstaatlichen Einrichtungen und ihr Leistungsangebot und besonders auch der Wohnungsmarkt unter Druck. Die Folge sind harte Konflikte in den unteren Bevölkerungsschichten, welche zu Spaltung führen, die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit verschärfen sowie gesellschaftlich und psychologisch für noch mehr Ressentiments sorgen. Bei alledem darf man die Migration und die Migranten trotzdem nicht über einen Kamm scheren. Menschen migrieren, weil sie Asyl suchen, aber zum Beispiel auch aus Liebe und aus Studiengründen. Viele Migranten sind sehr gut in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft integriert und leisten einen unverzichtbaren Beitrag zu unserer Volkswirtschaft.

Generell scheinen zu viele Migranten nicht willens oder in der Lage, sich an die elementaren Grundregeln des Miteinanders im Westen zu halten.

Es gibt aber zu viele negative Vorfälle, die den Rückhalt der Allgemeinheit für Migration massiv schwächen und das existenzielle Grundgefühl von öffentlicher Sicherheit gefährden. Im Extremfall ist dabei Terrorismus – speziell dschihadistischer oder islamistischer Terrorismus – im Spiel, der nach Einschätzung der Nachrichtendienste vermehrt mit der Zuwanderung aus dem Nahen Osten hierhergelangt. So erschütterten die jüngsten Messerangriffe in Solingen, Mannheim und Essen (oft ausgelöst durch eine Kombination aus terroristischen Motiven und wahnhaften psychischen Störungen) den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland.

Generell scheinen zu viele Migranten nicht willens oder in der Lage, sich an die elementaren Grundregeln des Miteinanders im Westen zu halten (also den demokratischen Rechtsstaat, die Menschenwürde und die wohlfahrtsstaatlichen Rechte und Pflichten zu respektieren, keine Straftaten zu begehen, den eigenen Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen und zuverlässig für eine angemessene Kindererziehung zu sorgen). So gesehen, können zu viele Migranten dem zugeordnet werden, was ich „negative Integration“ nenne. Dies belastet in Ländern wie Deutschland und den Niederlanden die Gesellschaft so stark, dass dort inzwischen mehr als 80 Prozent der Bevölkerung dafür sind, die Zuwanderung zu begrenzen.

In seinem Buch Politik der Würde lobt der israelische Philosoph Avishai Margalit den Wohlfahrtsstaat, gibt aber zu bedenken, dass er nur dann eine Zukunft habe, wenn er unnachgiebig und nicht naiv sei. Besonders gründlich haben das die Sozialdemokraten in Dänemark verstanden (wofür sie jedoch von anderen Sozialdemokraten in Europa verachtet werden).

Dänemarks sozialdemokratischer Minister für Zuwanderung und Integration, Kaare Dybvad Bek, erklärt: „Wir beobachten, dass die Menschen mit den niedrigsten Einkommen, also die Arbeiterschicht, von Belastungen durch Asylsuchende am stärksten betroffen sind. Sie konkurrieren mit Migranten um Arbeitsplätze und Wohnraum und manchmal um die soziale Absicherung. Diese Gruppe ist unsere Wählerschaft, für die wir uns verantwortlich fühlen. Darum meinen wir: Wenn der Politik die Arbeiterschicht am Herzen liegt, muss sie unter anderem sicherstellen, dass der Zustrom von Asylsuchenden kontrolliert wird. Deshalb wollen wir nicht mehr Menschen aufnehmen, als wir in unsere Gesellschaft integrieren können, indem wir ihnen ein Dach über dem Kopf und Arbeit geben.“

Die etablierten Parteien halten schon zu lange krampfhaft an der Political Correctness fest – mit der Folge, dass die radikale Rechte in ganz Europa auf dem Vormarsch ist, von Italien bis Schweden, von den Niederlanden bis nach Deutschland. Dazu hätte es nie kommen dürfen. Die Regierungsparteien der politischen Mitte hätten von sich aus anbieten müssen, das schlechte Management der Migrations- und Integrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte zu korrigieren. Hier versagen sie aber bislang. Und diejenigen, die es zumindest versucht haben, wurden von links-progressiven, großstädtischen und akademischen Kräften, die die Deutungshoheit haben, als Brandstifter diffamiert und in die rechtsextreme und fremdenfeindliche Ecke gestellt.

Wie ein Tsunami macht sich in Europa der Populismus breit.

Jetzt ist der Schaden da. Wie ein Tsunami macht sich in Europa der Populismus breit und wirbelt überall die Parteienlandschaft der Nachkriegsordnung durcheinander. Das passiert in Skandinavien, den Niederlanden, Italien und neuerdings in Deutschland.

Die Bundesrepublik ist in Bezug auf die Herausforderung durch den Populismus vielleicht ein Nachzügler, aber jetzt kommt alles auf einmal zusammen und summiert sich zu einer Gesamtkrise. Das gesamte nachkriegsdeutsche Fundament steht unter Druck: Das „Nie wieder Krieg“ wird durch die Kriege in der Ukraine und in Israel infrage gestellt, das „Nie wieder“ nach Deutschlands brauner Vergangenheit durch das massive Erstarken der AfD und das „Nie wieder Antisemitismus“ durch den Zustrom von Menschen aus der arabischen Welt nach Deutschland getreu der Maxime „Wir schaffen das“. Es findet eine Erosion und Zersplitterung der Volksparteien aus der Nachkriegsära statt, und damit löst sich eine Schutzwand auf, die für die Stabilisierung der Demokratie wichtig ist. Die deutsche Automobilindustrie, die wirtschaftliche Basis des Landes, steckt in der Krise. Wegen Putin (Invasion der Ukraine) und der Grünen (Atomausstieg) ist die Industrie mit Energieunsicherheit konfrontiert. Und nicht zuletzt gibt es verteidigungspolitisch eine Verunsicherung, was den militärischen Schutz durch die USA und die NATO betrifft (der „Trump-Faktor“).

Wenn in einer solchen Situation, die von existenzieller Verunsicherung mit Blick in die Zukunft bestimmt ist, eine große Mehrheit der Bevölkerung eine Begrenzung der Zuwanderung fordert, sind Grenzkontrollen – die auch ein eindringliches Signal an die EU-Kommission und die europäischen Partner sind, die Gemeinsame Asylpolitik jetzt wirklich ernsthaft umzusetzen – sehr wohl vertretbar.

Vor allem muss Deutschland wie andere europäische Staaten eine nationale Antwort auf die Fragmentierung und die Polarisierung finden, die unsere demokratischen Gesellschaften unter Druck setzen und aushöhlen. Dazu gehört, dass besser regiert wird und die verloren gegangenen Bindekräfte in der Gesellschaft wiederhergestellt werden – zwischen Menschen mit hohem und niedrigem Bildungsstand, zwischen den Großstädten und dem ländlichen Raum, zwischen denen, die schon lange hier leben, und den Migranten, zwischen Establishment und Anti-Establishment.

Für Europa ist es wichtig, dass gerade Deutschland wieder auf die Beine kommt und politisch und gesellschaftlich seine Stabilität zurückgewinnt. Das Credo muss sein: Nehmt nicht mehr Menschen auf, als unter zivilisierten Bedingungen aufgenommen werden können. Nehmt nicht mehr Menschen auf, als ihr integrieren könnt.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Lesen Sie zu diesem Thema auch den IPG-Beitrag „Allein, Allein“ von Lika Kobeshavidze.