Industriepolitik hat in Deutschland einen notorisch schlechten Ruf. Die vorherrschende Auffassung der deutschen Ökonomen zu diesem Thema spiegelt sich in dem jüngsten Bericht des Sachverständigenrates für Wirtschaft gut wider (zu dem ich eine abweichende Meinung formuliert habe): „Um nachhaltig erfolgreich zu sein, sollte ein Innovationsstandort auf eine lenkende Industriepolitik verzichten, die es als staatliche Aufgabe ansieht, Zukunftsmärkte und -technologien als strategisch bedeutsam zu identifizieren. … Es ist unwahrscheinlich, dass die Politik hinreichend über verlässliches Wissen und genaue Kenntnis der künftigen technologischen Entwicklungen oder Nachfrageänderungen verfügt, um dieses Vorgehen zu einer sinnvollen langfristigen Strategie zu machen. Geht es ihr um nachhaltigen Fortschritt, so sollte sie viel eher auf das dezentrale Wissen und die individuellen Handlungen verschiedener Akteure der Volkswirtschaft vertrauen. … Das Potenzial für Fehlschläge ist umso größer, je kleinteiliger und gezielter die Politik vorgeht.“
Vor diesem Hintergrund war es überraschend, dass Annegret Kramp-Karrenbauer – die derzeitige CDU-Vorsitzende und potenzielle Nachfolgerin von Bundeskanzlerin Angela Merkel – in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung im September 2018 einen „echten Paradigmenwechsel“ in der Industriepolitik angekündigt hatte. Dasselbe gilt für den Vorstoß von CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmaier: Er stellte im Februar 2019 eine „Nationale Industriestrategie 2030“ vor. In diesem Dokument formulierte er strategische Leitlinien für eine deutsche und europäische Industriepolitik. Erwartungsgemäß fielen die Reaktion der deutschen Ökonomen und Wirtschaftsverbände fast einstimmig negativ aus.
Das Papier beginnt mit der folgenden Diagnose: „Industriepolitische Strategien erleben in vielen Teilen der Welt eine Renaissance, es gibt kaum ein erfolgreiches Land, das zur Bewältigung der Aufgaben ausschließlich und ausnahmslos auf die Kräfte des Marktes setzt.“ Die Strategie umfasst die folgenden „Orientierungspunkte“: der Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung soll von derzeit 23,2 Prozent auf 25 Prozent ausgebaut werden. Der Industrieanteil in der EU soll bis zum Jahr 2030 auf 20 Prozent steigen; um international erfolgreich zu sein, werden nationale und europäische Champions benötigt: „Größe zählt – Size matters!“; das langfristige Überleben existierender deutscher Champions (Siemens, Thysssen-Krupp, die deutschen Automobilhersteller und die Deutsche Bank) liegt im nationalen politischen und wirtschaftlichen Interesse; bei Unternehmensübernahmen durch ausländische Konkurrenten soll der Staat „in sehr wichtigen Fällen“ selbst aktiv werden und Unternehmensanteile erwerben. Zu diesem Zweck soll eine nationale Beteiligungsfazilität geschaffen werden; im Hinblick auf Batteriezellen, die in dem Papier als sehr wichtig für die Wertschöpfungsketten angesehen werden, ist eine staatliche Förderung sinnvoll, einschließlich der Unterstützung bei der Bildung von Konsortien; bei äußerst wichtigen Themen ist eine direkte Beteiligung des Staates notwendig und gerechtfertigt (Plattformökonomie, künstliche Intelligenz, autonomes Fahren).
Der Impuls von Wirtschaftsminister Peter Altmaier sollte für eine breitere Diskussion über Industriepolitik genutzt werden - in Deutschland und der Europäischen Union.
Mit diesem Maßnahmenkatalog hat sich Peter Altmaier stark angreifbar gemacht. Der Vorschlag eines quantitativen Ziels für den Bruttowertschöpfungsanteil des verarbeitenden Gewerbes ist ebenso fragwürdig wie eine Überlebensgarantie für große Unternehmen. Mit dem sehr allgemein gehaltenen Plädoyer für nationale Champions hat Altmaier zudem die kleineren und mittleren Unternehmen verärgert, die befürchten, dabei benachteiligt zu werden.
Bei so viel allgemeiner Empörung ist die grundsätzliche Frage, wie sich Deutschland im internationalen Wettbewerb gegen die aggressive Industriepolitik Chinas behaupten kann, kaum diskutiert worden. Es ist interessant, mit welch für einfachen Argumenten der Wissenschaftliche Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie, dem führende deutsche Ökonomen angehören, diese grundlegende Frage vom Tisch wischt: die Industriepolitik Chinas habe zur Konservierung einer hoch subventionierten Schwerindustrie geführt; sie sei von einem Bankensystem finanziert worden, in dem erste Anzeichen einer Überlastung zu beobachten waren, wobei Industriedarlehen ein Minusgeschäft waren; es bleibe abzuwarten, ob die chinesische Industriepolitik auch dann noch erfolgreich sein wird, wenn die Aufholjagd mit dem Westen abgeschlossen ist; Chinas Politik habe nichts mit einer sozialen Marktwirtschaft zu tun.
Insgesamt ist es Peter Altmaier mit seinem Papier bisher leider nicht gelungen, eine konstruktive Diskussion darüber in Gang zu setzen, wie eine erfolgreiche Industriepolitik gestaltet werden könnte. Vielmehr besteht die Gefahr, dass der kurze Frühling der deutschen Industriepolitik bereits zu Ende ist. Trotz einiger Schwächen des Papiers wäre es jedoch fatal, auf das marktverliebte Paradigma der Mehrheit der deutschen Ökonomen zurückzufallen, das sie selbst mit dem seltsamen Begriff der „Ordnungspolitik“ beschreiben.
Es sollte vielmehr darum gehen, den Impuls von Wirtschaftsminister Peter Altmaier für eine breitere Diskussion über Industriepolitik zu nutzen - nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten Europäischen Union. Denn auch auf europäischer Ebene wurde die Debatte über die Industriepolitik in der Vergangenheit nicht besonders leidenschaftlich geführt.
Ist es heute noch sinnvoll, wenn die einzelnen Mitgliedsstaaten der EU mit nationalen industriepolitischen Strategien auf die chinesische Herausforderung reagieren?
Die Industriepolitik der Europäischen Union ist im Wesentlichen von einem horizontalen Ansatz geprägt. Sie zielt darauf ab, einen günstigen Rahmen für Innovationen zu schaffen, vermeidet aber die gezielte Förderung bestimmter Technologien. Dieser Ansatz unterscheidet sich grundlegend von der vertikalen Dynamik des strategischen Plans „Made in China 2025“, wonach einzelne Branchen und Technologien gezielt gefördert werden.
Wie stellt sich das Altmaier-Papier aus europäischer Sicht dar? Schon der Titel „Nationale Industriestrategie 2030“ ist aus dieser Perspektive fragwürdig. Ist es heute noch sinnvoll, wenn die einzelnen Mitgliedsstaaten der EU mit nationalen industriepolitischen Strategien auf die chinesische Herausforderung reagieren? Und ist es der richtige Ansatz, die europäische Strategie aus bestehenden nationalen Strategien abzuleiten, wie im Papier vorgeschlagen?
Darüber hinaus erscheint es nicht optimal, sich auf einzelne Bestandteile von Wertschöpfungsketten zu konzentrieren – etwa die Förderung von Batteriezellen -, anstatt das gesamte Ökosystem zu verbessern. Im Oktober 2017 hat sich die Europäische Union im Rahmen der EU-Batterieallianz ausdrücklich für einen gemeinsamen Ansatz ausgesprochen, der nun erste Erfolge zeitigt. Um die Elektromobilität aber weiter voranzutreiben, wäre es hilfreich, wenn in der gesamten Union ein entsprechendes Netz von Ladestationen zur Verfügung stünde.
Ein solches Netz besteht bislang nur in Nord- und Mitteleuropa. Während China im Jahr 2020 fünf Millionen Ladestationen bereitstellen will, existierten in der EU im Jahr 2018 nur rund 155.000 Stationen. Eine Studie des Verbandes der europäischen Automobilhersteller geht davon aus, dass bis 2025 mindestens zwei Millionen Ladestationen benötigt werden. Ein ganzheitlicher Ansatz würde auch das Energiesystem berücksichtigen, das für eine stärkere Verbreitung der Elektromobilität erforderlich ist, ebenso wie das Potenzial für autonomes Fahren und die Auswirkungen auf die Infrastruktur von Städten.
Das Ziel sollte eine ‚grüne Industriepolitik‘ für Europa sein, die ein Gleichgewicht anstrebt zwischen Wettbewerbsfähigkeit und der ehrgeizigsten Form der Dekarbonisierung, die möglich ist.
Ein gemeinsamer europäischer Ansatz würde sich auch zur Förderung der künstlichen Intelligenz eignen. Nur auf diesem Weg können Synergien zwischen Forschung und industrieller Anwendung angemessen genutzt werden. Bei digitalen Plattformen – beispielsweise Zahlungssystemen – sind einseitige nationale Ansätze von vornherein ausgeschlossen.
Altmaiers Strategie leidet jedoch nicht nur an einer unzureichenden europäischen Dimension und einem eingeschränkten Blick auf Wertschöpfungsketten. Sie ist auch zu eindimensional auf das Ziel ausgerichtet, industrielle Arbeitsplätze zu erhalten. Nichts bringt dies deutlicher zum Ausdruck als die Aussage: „Die falsche Unterscheidung in ‚alte schmutzige‘ Industrien und ‚saubere neue‘ Industrien führt in die Irre.“
Das Ziel sollte eine ‚grüne Industriepolitik‘ für Europa sein, die ein Gleichgewicht anstrebt zwischen Wettbewerbsfähigkeit und der ehrgeizigsten Form der Dekarbonisierung, die möglich ist. Hierzu hat kürzlich Michel Barnier einen anregenden Vorschlag gemacht. Er forderte einen „Nachhaltigkeitspakt“ für den neuen Politikzyklus der EU, der in gewisser Hinsicht ebenso wichtig sei wie der Stabilitäts- und Wachstumspakt. Barnier drückt es so aus: „Unsere ökologischen Schulden geben nicht weniger Anlass zur Sorge als unsere finanziellen Schulden.“
Der Pakt würde konzertierte Maßnahmen in den Bereichen Klima, Handel, Steuern, Landwirtschaft und Innovation erfordern – und massive Investitionen. Barnier zitiert Schätzungen der Europäischen Kommission, wonach die EU jedes Jahr zusätzliche Investitionen in Höhe von 180 Milliarden Euro (203 Milliarden Dollar) aufbringen müsste, um seine Verpflichtungen im Rahmen des Pariser Klimaabkommens einzuhalten.
Wir brauchen keine nationalen Industriepolitiken. Im Gegenteil muss Europas gesamtes Potenzial identifiziert werden, um daraus die Handlungsmöglichkeiten auf nationaler Ebene abzuleiten.
Der Wirtschaftswissenschaftler Paul de Grawe hat vor kurzem ein interessantes Modell vorgestellt, wie eine ambitionierte grüne Politik finanziert werden könnte. Demnach wäre die Europäische Investitionsbank (EIB) berechtigt, Umweltinvestitionen zu finanzieren. Die EIB würde Anleihen emittieren, um diese Investitionen zu refinanzieren. Die Europäische Zentralbank könnte diese Anleihen in einer Geschwindigkeit kaufen, die durch das Auslaufen der alten Anleihen in ihrer Bilanz bestimmt wird. Auf diese Weise könnte die EZB „grünes Geld“ produzieren, ohne die Inflation anzufachen.
Kurz gesagt: Altmaiers Papier ist wichtig, weil es in Deutschland erstmals zu einer lebendigen Diskussion über Industriepolitik geführt hat. Weil zu befürchten ist, dass dieser Impuls in den deutschen Mainstream einsinken wird, ist es entscheidend, die Diskussion auf die europäische Ebene zu heben. Und dafür sind zunächst einmal keine nationalen Industriepolitiken erforderlich, von denen dann eine europäische Strategie abgeleitet wird.
Im Gegenteil muss Europas gesamtes Potenzial identifiziert werden, um daraus abzuleiten, welche Handlungsmöglichkeiten auf nationaler Ebene bestehen. Und es kann nicht in erster Linie darum gehen, um jeden Preis Arbeitsplätze in der Industrie zu sichern. Das Ziel muss es sein, die unvermeidliche ökologische Transformation so zu gestalten, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit Europas und seiner Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigt wird. Eine grüne Industriepolitik könnte sich dabei positiv auf Beschäftigung und Wachstum auswirken.
Aus dem Englischen von Michael Miebach.
Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.