Aus Donald Trumps Entscheidung, der übrigen Welt den Zollkrieg zu erklären, lassen sich zwei strategische Schlussfolgerungen ziehen. Einerseits könnte er beabsichtigen, die gesamte Weltwirtschaft nach den Interessen der USA umzustrukturieren, die Exportmodelle zahlreicher Schwellenländer und Volkswirtschaften des Globalen Südens zu zerstören sowie die Welt in eine Rezession zu stürzen. Andererseits kann es aber auch sein, dass er lediglich hofft, unter Androhung dieser Maßnahmen Zugeständnisse in der Wirtschaftspolitik anderer Länder zu erreichen, die für die USA und den Dollar von Vorteil und für den Rest der Welt letztendlich nicht katastrophal wären.
In der Geopolitik konnten wir bereits ein ähnliches Dilemma beobachten. Nachdem Trump seine Vertreter Pete Hegseth und J.D. Vance im Februar vorgeschickt hatte, um die Ramstein-Gruppe und dann die Münchner Sicherheitskonferenz aufzumischen, fragten sich die europäischen Sicherheitsexperten: Will Trump sich ganz aus der gemeinsamen Sicherheitsarchitektur zurückziehen? Oder ist es ein Trick, um uns zu zwingen, mehr Geld für die Verteidigung auszugeben, mehr Verantwortung für die europäische Sicherheit zu übernehmen und die Ukraine stärker zu unterstützen? Die politischen Entscheidungsträger stehen somit sowohl in der Sicherheits- als auch in der Handelspolitik vor den gleichen Fragen und Problematiken. Dies sagt etwas Wesentliches über die Trump-Regierung aus: Sie will ihre Ziele durch das Schüren von Unsicherheit erreichen.
In den vergangenen Wochen habe ich jeden Entscheidungsträger, den ich traf und der Zugang zu Geheimdienstinformationen hat, gefragt: Wissen Sie, was Trumps eigentliche Ziele sind? Die meisten mussten zugeben, dass sie keine Ahnung haben. Einige spekulierten, Washington sei in Verteidigungsfragen in zwei Lager gespalten: Ein Teil wolle sich nur auf die Konfrontation mit China ausrichten, der andere sei hingegen bereit, dafür strategische Abkommen mit Russland zu schließen, Europa aus den Friedensgesprächen über die Ukraine sowie vom Zugang zur Arktis auszuschließen und Putin zu erlauben, seine potenziellen nächsten Ziele im Baltikum, im hohen Norden oder im Schwarzen Meer zu bedrohen.
Aus der Makroökonomie liegen mir Analysen vor, in denen es heißt, die Zölle seien wahrscheinlich nur symbolisch und würden wieder aufgehoben werden – egal, welche Auswirkungen dieses Vorgehen auf die Aktienmärkte hat. Seit Trump wieder an der Macht ist, lautet meine Devise mit Blick auf die MAGA-Truppe daher: Konzentriere dich auf das, was sie tun, nicht auf das, was sie sagen. Die Flut an Beschimpfungen, Beleidigungen und Falschinformationen ist im Sinne der modernen Staatsführungskunst eine Ablenkungstechnik, mehr nicht.
Die Trump-Regierung ist gewillt, Maßnahmen zu ergreifen, die ihre Verbündeten sowohl wirtschaftlich als auch sicherheitspolitisch destabilisieren.
Wir erleben ein konsistentes und erkennbares Handlungsmuster: Die Trump-Regierung ist gewillt, Maßnahmen zu ergreifen, die ihre Verbündeten sowohl wirtschaftlich als auch sicherheitspolitisch destabilisieren, sowie Unsicherheit und Desinformation als Waffen einzusetzen, um dieses Ziel zu erreichen. Als Reaktion darauf gibt es für Liberale, Grüne und Sozialdemokraten in Europa nur eine vernünftige Vorgehensweise: sich auf US-amerikanische Autarkie und Isolationismus vorzubereiten sowie gleichzeitig Europa zu stärken und selbst „great“ zu machen. Alles andere wäre fahrlässig.
Die EU macht zusammen mit den Ländern des pazifischen Freihandelsabkommens CPTPP, mit Südkorea und Norwegen 35 Prozent der weltweiten Importnachfrage aus. Auf die USA entfallen lediglich 15 Prozent. Die besagten Länder verfügen daher über eine immense finanzpolitische Schlagkraft und institutionelle Stärke. Dennoch stehen wir vor enormen Herausforderungen: Welche direkten Maßnahmen wir auch immer ergreifen – seien es Vergeltungszölle, industrielle Strategien zur Rückverlagerung von Produktion oder im Verteidigungsbereich das Streben nach technologischer Souveränität –, letztlich werden es die langfristigen Folgen von Trumps Handlungen sowie unsere Reaktion darauf und die Chinas sein, die diese Hälfte des 21. Jahrhunderts entscheidend prägen.
Ein Blick zurück: Als 1930 mit dem Smoot-Hawley Act ebenfalls US-Zollschranken gegen den Rest der Welt errichtet wurden, ergriffen weder das Vereinigte Königreich noch Frankreich Gegenmaßnahmen. Großbritannien war fest entschlossen, die letzte Freihandelsmacht zu bleiben. Doch als die Exporte nach Amerika innerhalb eines Jahres um ein Drittel einbrachen und die Zahlungsbilanz ins Minus rutschte, sah sich die Labour-Regierung von Ramsay MacDonald gezwungen, ein Austeritätsprogramm aufzulegen. Dies führte zu einer Meuterei in der Marine, einem Aufstand der parlamentarischen Hinterbänkler und letztlich zur Bildung einer „Nationalen Regierung“. Diese gab sowohl den Goldstandard als auch den Freihandel auf, da die längerfristigen Auswirkungen des Smoot-Hawley Act – nämlich der Anstieg billiger Importe in die „ungeschützte“ britische Wirtschaft – schlicht nicht aufzuhalten waren.
Wie John Maynard Keynes es ausdrückte: Die Fakten ändern sich, also müssen wir entsprechend unser Denken und unsere Ansätze ändern. Für die Sozialdemokratie in Europa stellt sich heute die doppelte Herausforderung, dass schnell aufgerüstet werden soll, während gleichzeitig die globalen Lieferketten rapide umstrukturiert werden. Um diese Aufgaben zu bewältigen, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Europäerinnen und Europäer proaktiv vorgehen und sich fragen – wie es auch die Generation von Keynes während des Zweiten Weltkriegs tat –, wie die Welt aussehen soll, wenn wir gewinnen. Die unheilvollste Haltung, die wir einnehmen könnten, ist die des passiven Opfers, welches das Ende der regelbasierten Ordnung betrauert und lediglich auf das Handeln anderer Länder reagiert, aber nie selbst handelt.
„Gewinnen“ kann dabei nicht länger bedeuten, den Status quo zu verteidigen. Vielmehr geht es darum, sich einen neuen Status quo vorzustellen, der erreicht werden soll, sobald das Trump-Experiment gescheitert ist. Es geht darum, eine Allianz mit Ländern zu bilden, deren Bevölkerungen weiterhin in einer Welt leben wollen, die vom Völkerrecht sowie von universellen Konzepten von Recht und Gerechtigkeit bestimmt wird. Und es geht darum, die arbeitenden Menschen der Welt – deren Fabriken in Ländern wie Kambodscha, Sri Lanka und Nicaragua bald geschlossen werden könnten – aufzurufen, sich uns in einem neuen Projekt für freien und fairen Handel, Menschen- und Arbeitsrechte anzuschließen. Die globale Arbeiterklasse ist größer als je zuvor; und ihre Industrieregionen werden nun zu Schauplätzen von Klassenkämpfen, wie es sie in der Ära der Globalisierung in dieser Intensität noch nie gegeben hat.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen von Trumps Zöllen dürften rasch spürbar werden.
Was Trump seit seiner Machtübernahme getan hat – sowohl in Bezug auf die Sicherheitsagenda als auch auf den Handel –, ist Ausdruck reinen nationalen Eigeninteresses. Er wischt das Spielbrett vom Tisch, weil Amerika drauf und dran war, zu verlieren. Von nun an sollten sich der europäische Liberalismus, der zentristische Konservatismus und die Sozialdemokratie auf ein Projekt einigen, das nicht nur die Verteidigung ihrer Wohlfahrtsstaaten, des europäischen Binnenmarktes und der kollektiven Sicherheit zum Ziel hat. Sie sollten die größtmögliche Zusammenarbeit gleichgesinnter demokratischer Länder anstreben, um ihre offenen und progressiven Systeme über Kontinente und Ozeane hinweg auszudehnen und zu festigen.
Europa muss die von Trump ausgegebenen Regeln, sei es bei digitalen Diensten, Schwangerschaftsabbrüchen, Hate Speech oder Chlor-Hühnchen, nicht einfach akzeptieren. Und: Wenn die Europäische Union weiterhin eigene Regeln gemäß den liberal-internationalistischen Werten, auf denen sie gegründet wurde, aufstellen will, muss sie auch dem Vereinigten Königreich ein Angebot machen, das es nicht ablehnen kann. Sicher, es gibt milliardenschwere Pro-Trump-Medien, die versuchen, die politische Agenda des Vereinigten Königreichs zu bestimmen; es gibt Musk und X sowie unablässige russische Hybridoperationen, die auf die britische Zivilgesellschaft abzielen. Doch nichts davon dürfte stark genug sein, Großbritannien zu einem Akt strategischer Selbstzerstörung zu zwingen – und genau das wäre eine weitere Annäherung an Trump. Selbst die Konservative Partei (die inzwischen von MAGA-Fanboys und -girls durchsetzt ist) würde es meiner Einschätzung nach nicht ertragen, wenn das Vereinigte Königreich zu Trumps Wirtschaftskolonie würde.
Europa hat langjährige Erfahrung mit staatlicher Lenkung. So gibt es in den nordischen Ländern überaus wertvolles Know-how in Bezug auf staatliche Industriestrategien. Europa verfügt über starke nationale und supranationale Institutionen. Vor allem aber hat Europa eine Bevölkerung, deren Mehrheit sich bislang dem Ethno-Nationalismus widersetzt und weiterhin das europäische Projekt als das höhere Gut betrachtet. Deswegen ist es sowohl in Handels- als auch in Sicherheitsfragen nun an Europa, die Welt um seine eigenen strategischen Interessen herum neu zu ordnen – und es ist an den Briten, Teil dieses Projekts zu werden, statt Teil des Problems.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen von Trumps Zöllen dürften rasch spürbar werden. Wie schon 2008 werden die finanziellen Folgen jedoch erst dann absehbar sein, wenn klar wird, wie viel Risiko im globalen Bankensystem im Verborgenen schlummert – und wie anfällig dieses System gegenüber Handelskonflikten tatsächlich ist. Was bislang jedoch kaum angemessen thematisiert wurde, sind die daraus resultierenden Klassenkämpfe. Hinter jedem prognostizierten Rückgang der US-Importe steht eine Fabrik in Bangladesch, Sri Lanka, Honduras oder auch in China, die schließen muss. Auch in der Digitalwirtschaft ist es kaum vorstellbar, dass der Handelskrieg nicht auf globale Marken, Social-Media-Plattformen, geistige Eigentumsrechte und gesetzliche Regelungen zur Meinungsfreiheit durchschlägt.
Wenn Trump nun tatsächlich den roten Knopf zur Sprengung der Globalisierung gedrückt hat, dann ist das Positivsummenspiel, das die Welt bisher gespielt hat, vorbei. Kurzfristig bedeutet dies, dass die Sozialdemokratie an eine Welt des Nullsummenspiels angepasst werden muss. Um ein erneutes Positivsummenspiel zwischen den Konsumenten Europas und den Produzenten des Globalen Südens zu schaffen, muss die heutige Generation von Mitte-links-Politikern etwas tun, wofür sie nicht ausgebildet wurde: einen Systemkonflikt führen und diesen gewinnen – erstens gegen Russland in der Ukraine, zweitens gegen die USA in der Zollfrage und drittens gegen die Kommunistische Partei Chinas in Sachen Demokratie. Ich erwarte von den Machthabern in Europa unbedingte Klarheit bei der Auswahl und Festlegung dieser Ziele.
Dies ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.
Aus dem Englischen von Tim Steins