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Interview von Claudia Detsch

Sie sind Mobilitäts- und Zukunftsforscher und haben sich zuletzt intensiv dem Zusammenhang zwischen digitaler Transformation und Nachhaltigkeit gewidmet. Ist die Digitalisierung ein Treiber für den nachhaltigen Umbau der Volkswirtschaft? Oder ist sie der Sargnagel?

Die Digitalisierung hat das Potenzial, Nachhaltigkeit vollumfänglich möglich zu machen. Voraussetzung ist allerdings, dass wir mit Hilfe digitaler Technologien und Medien neue Lebensstile entwickeln. Das funktioniert aber nicht, wenn wir die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unsere Routinen und Gewohnheiten als Verbraucher, unsere politischen und ökonomischen Institutionen und unsere Raum- und Siedlungsstrukturen so lassen, wie sie heute sind. Es ist ein absoluter Irrglauben, dass die Macht der digitalen Technologien allein bereits ausreicht, um Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Mit dem neuen kostbaren Wein der Digitalisierung in den alten überkommenen Schläuche unserer etablierten Kultur käme es vielmehr zu unvorhergesehenen Wachstumsprozessen an der einen Stelle und zu sozialen Instabilitäten und Verwerfungen an der anderen Stelle. Damit wären wir auf der ‚slippery road‘, die Gesellschaft kommt ins Rutschen, die Demokratien ebenso.

Auf welchen Ebenen müssen wir also ansetzen, damit die Digitalisierung nachhaltige Entwicklung fördert und nicht verhindert?

Ich unterscheide vier Bereiche, um mögliche Schattenseiten deutlich zu machen. Ich nenne sie die „4 R“: die rechtliche Dimension, die gesellschaftlich-ökologische Resilienz, also Widerstandsfähigkeit, drittens die Nutzung der Ressourcen im Bereich digitaler Technologien und Medien sowie viertens die ökonomischen Rebound-Effekte, wenn die Einsparungen durch Effizienzsteigerungen schlicht für weiteren Konsum genutzt werden.

Wir kaufen den Totalitarismus quasi durch die Hintertür mit ein.

 Welche Gefahr sehen Sie konkret, wenn Sie von der rechtlichen Dimension sprechen?  

Es geht einerseits um die Freiheitsrechte des Individuums, aber auch die Frage der funktionierenden Demokratie, der Nichtmanipulierbarkeit von politischen Prozessen. Die Netzwerk- Effekte der großen, algorithmenbasierten sozialen Medien führen dazu, dass diese immer größer und einflussreicher werden. Demokratien werden so leicht manipulativen Effekten und Einflüssen ausgesetzt, die von ganz anderen Interessen geleitet werden, als die einer Repräsentation des Willens des Volkes. Ein Beispiel ist der Skandal um Cambridge Analytica.

Hier entstehen Technologiegiganten, die ihre Angebote immer weiter verbessern, weil ihre Kundengruppen immer größer werden. Die Möglichkeit, dass Konkurrenten nachwachsen können und angreifen, wird immer geringer. Die KI wird immer besser, je größer die Datenmengen sind, die sie nutzen können, um maschinelles Lernen anzuwenden. Es fehlt die ökonomische Gegenmacht. Die Big Five - Apple, Amazon, Facebook, Microsoft und die Google-Mutter Alphabet - sind mittlerweile so groß, dass man sie nur noch über politische Regulierung einhegen kann.

 Was empfehlen Sie konkret?

 Offene Daten-Governance-Systeme in Kommunen beispielsweise. Ab einer bestimmten Größe sollten Unternehmen gezwungen werden, einen Teil ihrer Daten mit anderen zu teilen. Wir müssen die proprietären Daten-Governance-Modelle, die ja von den großen Datenfirmen getrieben werden, ersetzen durch offene Daten-Governance-Ansätze. Andrea Nahles hat diesen Vorschlag ja aufgegriffen und liegt damit ganz richtig. Die Daten der Kommunen stellen wir dann allen zur Verfügung. Auf der Basis dieser Daten ermöglichen wir maschinelles Lernen für Anbieter jenseits von Facebook, Amazon und Google. Diese alternativen Anbieter können dann auch funktionsfähige KI-basierte Serviceangebote entwickeln. Was brauchen sie dafür in erster Linie? Den Rohstoff, nämlich die Daten. Das wären dezentrale Daten-Governance-Ansätze.

 Wo müssen wir bei der Ressourcennutzung umsteuern?

Man kann im Augenblick nicht behaupten, dass von der Wiege bis zur Bahre die Ressourcennutzung im Bereich der digitalen Technologien und der Medien nachhaltig wäre. Das meine ich in allen drei Dimensionen der Nachhaltigkeit: ökonomisch, ökologisch und sozial. Es gibt keine geschlossenen Ressourcenkreisläufe. Die Art und Weise, wie etwa die seltenen Erden im Kongo gewonnen werden, destabilisiert diese Gesellschaft und führt zu neuen Fluchtbewegungen. Wir haben es hier mit neoimperialen Strategien der Ressourcenausbeutung zu tun. Auch die Ressourcengewinnung und ihr Transport werden mit fossilen Energien betrieben. Alles, was mit KI zu tun hat, braucht unheimlich viel Energie. Die muss irgendwoher kommen.

Warum ist die Frage der gesellschaftlich-ökologischen Widerstandsfähigkeit, also der Resilienz bedeutsam?

Neben sozialer, ökonomischer und ökologischer Dimension braucht es die Resilienz als eine weitere Kategorie der Nachhaltigkeit. Wir werden es in Zukunft zunehmend mit der Frage der fehlenden Widerstandsfähigkeit von Infrastruktursystemen, von gesellschaftlichen Systemen zu tun haben. Alles, was digitalisiert wird, wird angreifbar. Im Sinne destruktiver Effekte kaputtmachbar, zerstörbar. Das sollten wir uns dringend vor Augen führen angesichts der Smart-City-Konzepte und der Smart-Mobilitäts-Konzepte. Wenn wir diese Konzepte zur Grundlage von nachhalten Gesellschaftssystemen machen wollen, müssen wir das Problem der großen Verwundbarkeit lösen.

 Und das letzte R?

Das letzte R wäre das große Thema der Rebound-Effekte, die ökonomische Dimension. Wenn ich alles so lasse, wie es ist, wenn ich bei einer wachstums-, leistungs- und konkurrenzorientierten Politik und Ökonomie bleibe, dann bekomme ich, wenn ich die Instrumente noch schärfer, mächtiger mache, im Ergebnis sogar noch beschleunigtes Wachstum, beschleunigten Ressourcenverbrauch. Das kann ja nicht das Ziel sein: Mit Hilfe digitaler Effizienz Dinge nachhaltiger zu machen und diese Nachhaltigkeitsoptionen dann zu nutzen, um weiteres Wachstum zu erzeugen.

 Wo lauern für Sie die größten Gefahren?

Wir dürfen Technologien nicht nur danach bewerten, ob sie Mobilität oder Energiesysteme nachhaltiger und im Sinne von Nutzungseffizienz schlagkräftiger machen. Es besteht die Gefahr, dass wir beim Versuch, nachhaltiger und energieeffizienter zu werden, in Richtung totalitärer ökonomischer Ansätze oder politisch-motivierter Regulierungssysteme laufen. Wir kaufen den Totalitarismus quasi durch die Hintertür mit ein. Im Ergebnis hätten wir plötzlich Oligopole oder Monopole, die keiner mehr regulieren kann. Ich glaube, dass der Zug in China und in Nordamerika schon abgefahren ist. Wir haben in Europa die große Chance, einen anderen Weg zu gehen.

 Europa kann also zum Gegenbeispiel werden?

Das ist meine Hoffnung. Und mein Narrativ: Die einzige Chance, die wir haben, ist zu versuchen, in Europa einen dritten Weg zu gehen. Dazu müssen wir versuchen, freiheitliche Demokratien, sozial hinterlegte Marktwirtschaften und die klassischen europäischen Sozialmodelle als Leitbilder zu stärken. Wir müssen digitale Technologien und Medien nutzen, um unser Modell aufrechtzuerhalten. Wir nutzen sie nicht, um nur ökonomisches Wachstum zu steigern, wie es in Kalifornien passiert oder auch in China. Und wir nutzen sie auch nicht, um die Bevölkerung zu kontrollieren. Diese Chance haben wir aber nur, wenn ganz Europa gut miteinander kooperiert.

Wie gut ist Deutschland Ihrer Meinung nach aufgestellt, wenn es darum geht, die Digitalisierung für eine nachhaltige Entwicklung zu nutzen?

Deutschland ist ja noch nicht einmal gut aufgestellt, in den Mainstream-Themen mitzuhalten. Ein Beispiel: Deutschland möchte 3 Milliarden für künstliche Intelligenz ausgeben und hat die illusorische, fast naive Vorstellung, man würde sich damit an die Weltspitze der KI-Forschung stellen. Aber wenn in einer Provinz in China allein das Zehn- bis Hundertfache für KI ausgegeben werden kann, dann sieht man die Machtverhältnisse und die Verhältnisse in ökonomischen Spielräumen. Allein diese Zahl sagt doch aus, worum es geht, welche Rolle Europa de facto spielen kann.

Unsere einzige Chance ist, in Europa einen dritten Weg zu gehen.

Aber dennoch plädieren Sie für eine europäische Lösung?

Es geht jetzt um Umwälzungen, die so groß sind, dass man einen Schulterschluss braucht. Das hat die deutsche Autoindustrie inzwischen zumindest ansatzweise verstanden, man sieht es an der Kooperation zwischen BMW und Daimler. Eigentlich wäre es nötig, irgendwann einen Verbund der europäischen Gesamtautoindustrie zu haben. Das wäre dann vergleichbar mit dem, was in China gerade geplant wird.

Vor dem Hintergrund der Globalisierung können wir die deutschen Probleme nicht mehr innerhalb von Deutschland lösen. Wir können sie nur innerhalb von Europa lösen. Aber politisch und kulturell sind die Bevölkerungen noch tief in der nationalstaatlichen Welt. All das sind tatsächlich Reflexe auf Globalisierung. Aber die werden wir nicht beantworten können, indem wir uns wieder nationalstaatlich abschließen und zurückgehen, sondern nur, indem wir versuchen, innerhalb von Europa einen eigenen europäischen Weg im global-ökonomischen und global-politischen Konzert zu gehen. Das wäre mein Angebot: die europäischen Schultern schließen. Was ich aber derzeit in Europa sehe, ist das exakte Gegenteil.

Sie sprachen an, dass sich völlig neue Lebensstile seitens der Bevölkerung, der Konsumenten entwickeln müssten. Wie gewinnt man die Bevölkerung dafür?

Ich glaube, dass man die Bevölkerung nur bis zu einem bestimmten Grad ködern kann. Die sogenannte moralische Überzeugungsarbeit wird als soft policy immer wieder im Kanon politischer Maßnahmen geführt. Sie hat ihre Grenzen da, wo es um Gewohnheiten oder auch soziale Gerechtigkeitsvorstellungen geht. Ich glaube, der einzige Weg ist politische Regulierung und ein starker Staat, der wieder den Mut hat, bestimmte Themen anzugreifen, zu sagen: Wir regulieren jetzt. Ich glaube nicht, dass der private Konsum die Welt rettet, weil die Abhängigkeiten so groß sind, auch die Bequemlichkeit der Bevölkerung.

Sind autoritäre Staaten hier im Vorteil, weil sie radikaler umsteuern können?

Ich möchte lieber demokratisch untergehen, als eine Nachhaltigkeitsdiktatur zu erleben. Mir ist Klimawandel immer noch lieber als Freiheitsverlust. Wir werden irgendwann über die Zukunft der Demokratie in Europa diskutieren vor dem Hintergrund dessen, was in China und Nordamerika gerade passiert. Je weiter wir in die Enge der klima- und umweltpolitischen Nöte geraten, desto eher wird es legitim sein, demokratische Grundinstitutionen zu diskutieren.

Es gibt aber kein richtiges Leben im Falschen, das kennen wir von Adorno. Das trifft in diesem Fall tatsächlich zu: Wir dürfen uns nicht über diktatorische, totalitäre Maßnahmen die Zukunft der Ökologie erkaufen.

 Wo sehen Sie die größten Gefahren einer Destabilisierung in den nächsten Jahren?

In der Migrationsentwicklung in Afrika. Die deutsche Politik wie die deutschen wissenschaftlichen Eliten machen sich überhaupt keine Vorstellung davon, was sich gerade in Afrika vorbereitet. Der demografische Wandel ist gigantisch. Wenn man die derzeitige ökonomische Einbindung Afrikas seitens der EU betrachtet, muss man sagen: Wir erzeugen die Fluchtursachen selber. Wir gucken nur nicht hin. Ob es nun Rüstungsexporte sind oder Erdölimporte oder die Frage, wo die digitalen Ressourcen für die Smartphones herkommen. Da ist keine Solidarisierung zu sehen. Deswegen werden wir durch diese Kombination von Klimawandel, digitalem Ressourcen-Mining und Bevölkerungsexplosion einen so starken Druck von Afrika erleben, das wird die südeuropäischen Länder derartig destabilisieren, dass die EU auseinanderbrechen könnte.

 Wie ließe sich gegensteuern?

Europa wäre gut beraten, mit Hilfe digitaler Technologien und Medien und fairen Handelsbeziehungen ein eigenständiges afrikanisch-europäisches Kooperationsmodell aufzubauen und zu versuchen, Afrika auf den Weg einer nachhaltigen Moderne zu bringen, mit europäischer Technologieunterstützung.

Das wäre sozusagen das Alternativmodell: Schulterschluss mit Afrika auf einer humanitären Basis und mit fairen Handelsbeziehungen. Da könnte man tatsächlich ein eigenes Digitalmodell, ein eigenes Gesellschaftsmodell exportieren. Stattdessen aber beginnt China, sich Afrika zu erschließen. Das ist für Afrika eine Hoffnung, bedeutet aber, dass China sein Modell exportieren wird. Dann haben wir vielleicht irgendwann einigermaßen stabile Verhältnisse in Afrika, die vielleicht sogar die Migrationsfrage tangieren. Das ist für Afrika gut, was die ökonomische Entwicklung angeht. Was die politische Entwicklung angeht, überhaupt nicht. Und was die global-ökonomische und geopolitische Machtverteilung angeht, wird der Einfluss Europas dadurch noch viel kleiner.

 

Die Fragen stellte Claudia Detsch.