Argentinien und Brasilien sind die größten Volkswirtschaften in Südamerika. Beide sind Mitglied der G20 – und Argentinien wurde kürzlich vom BRICS-Verbund, dem Brasilien und andere große Schwellenländer angehören, zum Beitritt eingeladen. Beide sind wichtige Rohstoffproduzenten. Beide haben, nachdem sie jahrelang von Militärdiktaturen mit harter Hand regiert worden waren, mittlerweile 40 Jahre Demokratieerfahrung. Beide Länder haben ein Faible für Telenovelas und holten eine Menge WM-Titel. Und beide treiben intensiv Handel mit China.

Der Seidenstraßen-Initiative (Belt and Road Initiative, BRI), mit der Chinas Präsident Xi Jinping den Infrastrukturausbau in weiten Teilen des Globalen Südens mit Hilfe von Krediten in großem Stil finanziell unterstützt, trat jedoch nur Argentinien bei, während Brasilien auf Abstand bleibt, obwohl es zu den großen Empfängerländern chinesischer Direktinvestitionen und zu Chinas wichtigsten Rohstofflieferanten gehört. Warum ist das so?

Meine These lautet: Der Seidenstraßen-Initiative schließt ein Land sich nur an, wenn es sich davon erhebliche Vorteile verspricht oder aber befürchtet, durch einen Verzicht auf den Beitritt erhebliche Nachteile zu erleiden. Brasilien unterhält mit China Handelsbeziehungen, die von wechselseitigen Abhängigkeiten bestimmt sind, und hat größere Spielräume als Argentinien, das sich im Dauerkrisenmodus befindet und dringend harte Devisen braucht.

Die BRI wurde 2013 von Xi Jinping ins Leben gerufen. Während der Frühphase des Programms herrschte in Brasilien politisches Chaos, und unter der Führung oder vielmehr unter der Misswirtschaft der linken Präsidentin Dilma Rousseff war das Land tief in die Rezession gerutscht. Heute ist Dilma Rousseff übrigens Chefin der New Development Bank (NDB), der in Schanghai ansässigen Entwicklungsbank der BRICS-Staaten. In den späten Jahren von Rousseffs Präsidentschaft und auch während der Regierungszeit ihres Nachfolgers Michel Temer hätte Brasiliens gebeutelte Wirtschaft Unterstützung aus dem Ausland gut gebrauchen können.

Auf Temer folgte Jair Bolsonaro. Aufgrund seiner China-Phobie, die bei ihm ähnlich ausgeprägt ist wie bei Donald Trump, war unter seiner Führung jede Annäherung an China undenkbar. Seit Januar 2023 ist nun aber Rousseffs Mentor Luiz Inácio Lula da Silva (meist nur Lula genannt) wieder an der Macht, nachdem er von 2003 bis 2011 schon einmal Präsident war. Kurz nach seinem Amtsantritt reiste Lula sogleich zu einem Besuch nach China. 

Außenpolitisch fährt Brasilien einen pragmatischen und nicht wertegeleiteten Kurs. Brasiliens führende Politiker sind dafür bekannt, dass sie wenig Berührungsängste mit üblen Diktatoren haben und sich nicht scheuen, brutalen Regimen von Ländern wie Kuba oder Venezuela Legitimität zu verschaffen oder Irans und Saudi-Arabiens Aufnahme in den Club der BRICS-Staaten zu begrüßen.

Brasilien ist eine der wenigen großen Volkswirtschaften, die im Handel mit China durchweg Handelsbilanzüberschüsse erzielen.

Hinzu kommt, dass Brasilien stark auf China angewiesen ist. China ist seit 2009 Brasiliens wichtigster Handelspartner und importiert von dort wichtige Güter wie Sojabohnen, Eisenerz und Erdöl. Allein während Bolsonaros Regierungszeit von 2019 bis 2022 stieg Brasiliens Ausfuhrvolumen nach China von 63 auf 89 MilliardenUS-Dollar. Brasilien ist eine der wenigen großen Volkswirtschaften, die im Handel mit China durchweg Handelsbilanzüberschüsse erzielen, und erhält im großen Stil Investitionen und Kredite aus China.

Vor diesem Hintergrund mag es verwundern, dass Brasilien sich von der Seidenstraßen-Initiative fernhält. Nach einer Meldung über einen möglichen bevorstehenden Beitritt schauten Brasiliens chinafreundliche Kreise mit gespannter Erwartung nach Peking, als Lula im April 2023 dorthin reiste, doch ihre Erwartung erfüllte sich nicht.

Außenhandelspolitisch ist Argentinien deutlich weniger von China abhängig als Brasilien.

Ganz anders verhält es sich mit Argentinien, das im Februar 2022 eine Absichtserklärung über den Beitritt zur BRI unterzeichnete. Außenhandelspolitisch ist Argentinien deutlich weniger von China abhängig als Brasilien. Argentiniens wichtigster Handelspartner ist nicht China, sondern Brasilien, das auch zu Argentiniens Partnern im Handelsblock Mercosur zählt, der allerdings auf der Stelle tritt. Der Zufluss von ausländischen Direktinvestitionen (ADI) nach Argentinien ist von 2019 bis 2022 deutlich gestiegen – wenn auch von einem niedrigen Niveau aus. Neuere Daten über die ADI in Argentinien sind schwer zu bekommen, aber bislang zählt China nicht zu den Großinvestoren in Argentinien.

Argentiniens Entscheidung, sich der BRI anzuschließen, hat ihren Grund vermutlich in der desolaten Finanzlage des Landes. Argentinien wurde mehrfach vom Internationalen Währungsfonds (IWF) gerettet – zuletzt mit einem 44 MilliardenUS-Dollar schweren Rettungspaket, das 2022 freigegeben wurde. Im Juli 2023 wurde verkündet, dass der IWF mit weiteren Krediten dafür sorgen wird, dass Argentinien seinen Rückzahlungsverpflichtungen an den IWF überhaupt nachkommen kann. Mit China schloss Argentiniens Zentralbank ein Devisenabkommen, das den Handel zwischen Renminbi (Yuan) und der Landeswährung Peso ermöglicht. Es ist allgemein bekannt, dass Argentinien die von China zur Verfügung gestellte Swap-Linie nutzt, um die Schulden bei seinen internationalen Gläubigern, einschließlich des IWF, zu begleichen. 

Im Gegensatz dazu hat Brasilien, trotz seiner massiven Abhängigkeit vom Handel mit China, mehr Auswahlmöglichkeiten. In der Hochphase des chinesischen Auslandskreditprogramms nahm Brasilien in großem Stil Kredite aus China in Anspruch – nach Angaben von Dialogue Leadership for the Americas belief sich das Gesamtvolumen auf rund 31 MilliardenUS-Dollar. Brasilien setzt bei der Finanzierung jedoch stärker auf inländische Quellen als auf externe Gläubiger und nutzt im Gegensatz zu Argentinien seine Yuan-Swap-Linie nicht zur Haushaltsunterstützung.

Zudem befindet sich Brasilien in der kommoden Situation, dass China auf seine Lebensmittel- und Rohstoffexporte angewiesen ist. Nachdem China sich andere große Rohstoffexportländer wie Australien, Kanada und die USA zu Gegnern gemacht hat, kann es sich Streit mit Brasilien nicht leisten, zumal Letzteres sich als zuverlässiger Lieferant und außenpolitischer Partner erwiesen hat.

Aus Argentiniens und Brasiliens unterschiedlicher Haltung zur Seidenstraßen-Initiative lässt sich lernen: Entscheidend ist vor allem die Verhandlungsmacht.

Ungeachtet aller hehren Verlautbarungen über Prinzipien, Multilateralismus und den Wunsch der Schwellenländer nach einer neuen Weltordnung lässt sich aus Argentiniens und Brasiliens unterschiedlicher Haltung zur Seidenstraßen-Initiative zweierlei lernen. Erstens: Entscheidend ist vor allem die Verhandlungsmacht. Argentinien folgt in seinen Beziehungen zu China dem Grundsatz „In der Not frisst der Teufel Fliegen“. Brasilien dagegen nutzt seinen Status als wichtiger Freund, um die Konditionen der bilateralen Beziehungen zumindest teilweise vorzugeben.

Aufschlussreich ist in diesem Punkt ein Vergleich mit Europa: Griechenland ist Mitglied der BRI und erhält reichlich chinesische Direktinvestitionen für seinen Hafensektor. Der Hafen von Piräus ist für China ein wichtiger Stützpunkt, um sich in die Importlogistik der Europäischen Union einzuklinken. Dass Griechenland bei der BRI mitmacht, ist dabei aber unerheblich. Nach dem Kollaps von 2009 und den schwierigen Verhandlungen mit der Euro-Gruppe in den Folgejahren war Griechenland ähnlich verzweifelt wie Argentinien darum bemüht, seine Wirtschaft durch Unterstützung von außen zu stärken, und nahm, was ihm angeboten wurde. 

Italien hingegen – die einzige große Industrienation, die sich der BRI angeschlossen hat – denkt inzwischen darüber nach, aus der Initiative wieder auszusteigen (auf die Gefahr hin, China gegen sich aufzubringen). Italien hat erkannt, dass die BRI ihm nicht viel mehr einbringt als den Argwohn seiner G7-Partner. Im Gegensatz zu den vermeintlichen BRI-Profiteuren in Afrika leidet Italien nicht an Überschuldung, sondern nimmt einfach die nüchterne und abschreckende Tatsache zur Kenntnis, dass kein einziges BRI-Projekt zustande kommt.

Chinas Finanzkraft ist begrenzt.

Damit sind wir bei der zweiten Lehre, die wir aus Argentiniens und Brasiliens unterschiedlicher Haltung zur Seidenstraßen-Initiative ziehen können: Chinas Finanzkraft ist begrenzt. In den vergangenen 20 Jahren glaubten die Schwellenländer über weite Strecken, Chinas Geldbeutel sei unerschöpflich.

Inzwischen zeigt sich, dass das großspurige Werben für die Marke „Neue Seidenstraße“ über das hinaus, was sowieso schon auf den Weg gebracht wurde, nicht per se zu mehr Handel und Investitionen führt. Die wettbewerbsfähigsten Handelsakteure und Zielländer für Investitionen beliefern China weiterhin oder bekommen weiterhin Investitionen aus China – unabhängig von irgendwelchen Etikettierungen.

Brasiliens Entscheidung nimmt sich also inzwischen nicht mehr sonderlich exzentrisch aus. Indem sie sich von der BRI fernhalten, gelingt es Brasilien und auch anderen Schwellenländern, die Balance zwischen China und dem Westen zu wahren, ohne dass sie mühsam beweisen müssten, dass sie keine Ausverkaufsware sind.

© The Diplomat

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld