Die Vollendung der Europäischen Kapitalmarktunion steht derzeit hoch auf der Agenda der europäischen Politiker. So stellten Emmanuel Macron und Olaf Scholz in einem gemeinsamen Gastbeitrag für die Financial Times fest: „Wir müssen das volle Potenzial unserer Kapitalmärkte ausschöpfen. Zu viele Unternehmen, die nach Wachstumsfinanzierung suchen, wenden sich über den Atlantik hinweg an andere Märkte. Zu viele europäische Ersparnisse werden im Ausland investiert, anstatt in die vielversprechenden Start-ups und Scale-ups Europas zu fließen.“ Auch in den Beschlüssen des Europäischen Rates, des ECB Governing Council sowie im Letta-Bericht wird der Kapitalmarktunion eine zentrale Bedeutung für die europäische Wettbewerbsfähigkeit beigemessen. Bei den im Grundsatz einleuchtenden Forderungen nach einer Vertiefung der Kapitalmarktunion stellt sich unmittelbar die Frage, wie groß die noch bestehenden Hindernisse für die Finanzströme sind. Denn bereits seit dem 1. Juli 1990, mit dem Eintritt in die erste Stufe der Währungsunion, wurden sämtliche Kapitalverkehrsbeschränkungen innerhalb der EU abgeschafft. Hierfür bieten die regelmäßig von der EZB erstellten Indikatoren zur „preisbasierten“ und „mengenbasierten“ finanziellen Integration eine gute Grundlage. Diese Indikatoren reichen von null (vollständige Fragmentierung) bis eins (vollständige Integration). Der preisbasierte Indikator misst die Unterschiede bei den Renditen von Vermögenswerten zwischen den Ländern, zum Beispiel die länderübergreifende Standardabweichung bestimmter Zinssätze. Er fasst zehn Indikatoren für Geld-, Anleihe-, Aktien- und Retailbanking-Märkte zusammen. Der mengenbasierte Indikator aggregiert Daten zu grenzüberschreitenden Beständen verschiedener Anlageklassen (zum Beispiel Anleihen oder Aktien) in verschiedenen Sektoren und umfasst fünf Indikatoren für die gleichen Marktsegmente mit Ausnahme des Retailbanking.
Von Mitte der 1990er Jahre bis 2006 erreichte die Finanzmarktunion ein sehr hohes Niveau. Der preisbasierte Indikator kam schon sehr nahe an den Wert von eins, der eine perfekte Integration signalisiert. Die Finanzkrise hat diese Entwicklung, die nicht ohne Probleme gewesen war, gestoppt und wieder zu einer stärkeren Segmentierung der Finanzmärkte innerhalb der Währungsunion geführt. Grundsätzlich eröffnen die bestehenden Regelungen also ein hohes Maß an finanzieller Integration innerhalb Europas. Im Letta-Bericht wird die finanzielle Fragmentierung Europas wie folgt begründet: „Ein besorgniserregender Trend ist die jährliche Abwanderung von rund 300 Milliarden Euro an Ersparnissen europäischer Familien von den EU-Märkten ins Ausland, hauptsächlich in die amerikanische Wirtschaft, aufgrund der Fragmentierung unserer Finanzmärkte.“ Bei diesem Betrag handelt es sich um den Leistungsbilanzüberschuss Europas.
Die Finanzkrise hat wieder zu einer stärkeren Segmentierung der Finanzmärkte innerhalb der Währungsunion geführt.
Angesichts der zentralen Faktoren, mit denen man Salden in der Leistungsbilanz erklären kann (Unterschiede im Wirtschaftswachstum, Wechselkurse, Lohnkosten), erscheint es schon etwas naiv, wenn man diese auf Hemmnisse für innereuropäische Finanzströme zurückzuführen versucht. In Anbetracht des bereits erreichten, hohen Maßes an Finanzmarktintegration ist daher zu fragen, inwieweit von den jetzt diskutierten Maßnahmen noch ein qualitativer Sprung zu erwarten ist. Bei den derzeit diskutierten Vorschlägen geht es vor allem um drei Bereiche. So soll der Markt für die Verbriefung von Bankkrediten wiederbelebt werden. Die Securitisation hat bei der Finanzkrise der Jahre 2007/08 eine unrühmliche Rolle gespielt. Sie ermöglicht es Banken, Kredite aus ihrer Bilanz zu nehmen und diese in gebündelter und verbriefter Form an Investoren zu verkaufen. Problematisch ist dabei, dass damit für die Banken ein Anreiz geschaffen wird, weniger sorgsam bei der Auswahl ihrer Kreditnehmer zu sein, da sie die Möglichkeit haben, die Kredite an Dritte zu veräußern. Wenn jetzt diskutiert wird, die regulatorischen Anforderungen für diese Instrumente zu lockern, muss man darauf achten, dass die damit verbundenen Moral Hazard-Probleme nicht erneut geweckt werden. Der oft gehörte Vergleich, dass der US-Markt für Verbriefungen um ein Vielfaches größer ist als der europäische, sollte differenziert betrachtet werden: Der Großteil der US-Verbriefungen betrifft private Immobilienkredite, die durch quasi-staatliche Institutionen wie Fannie Mae und Freddie Mac garantiert sind. Beim Vergleich mit den übrigen US-Verbriefungen liegt Europa aufgrund seiner Fokussierung auf Pfandbriefe sogar vor den Vereinigten Staaten.
Insgesamt spricht nichts dagegen, noch bestehende Hemmnisse für die finanzielle Integration in Europa zu reduzieren.
Die finanzielle Integration in Europa soll zudem durch eine europäische Harmonisierung des Insolvenzrechts vorangetrieben werden. Das mag hilfreich sein für den Markt für Verbriefungen. Für Investoren, die Aktien erwerben oder sich an Start-ups beteiligen möchten, dürfte das Insolvenzrecht nicht im Vordergrund stehen. Es schützt die Gläubiger, nicht aber die Aktionäre oder in anderer Form am Eigenkapital beteiligte Investoren. Zudem soll „ein einfaches und effektives grenzüberschreitendes Anlage- und Sparprodukt für alle“ entwickelt werden. Die EZB erhofft sich davon ein „unfreezing“ eines Teils der unproduktiven Einlagen der Haushalte im Euroraum. Die Haushalte des Euroraums könnten ihre Ersparnisse innerhalb der Bankenunion effizienter anlegen und als Kleinanleger aktiver an den Kapitalmärkten teilnehmen. Doch die privaten Haushalte können schon seit 1991 ihre Ersparnisse ungehindert in allen Mitgliedstaaten investieren. Mit Instrumenten wie Exchange Traded Funds (ETFs) beispielsweise auf den EuroStoxx 50 oder den Stoxx Europa 50 können sie sich in diversifizierter Form an Aktiengesellschaften im Euroraum beziehungsweise der gesamten EU beteiligen. Insgesamt spricht nichts dagegen, noch bestehende Hemmnisse für die finanzielle Integration in Europa zu reduzieren. Aber man sollte nicht glauben, dass es sich dabei um einen Game-Changer handelt, der wesentliche realwirtschaftliche Impulse auslösen wird. Erstaunlicherweise wird bei der Diskussion über die Kapitalmarktunion in der Regel ein Bereich ausgespart, bei dem tatsächlich ein qualitativer Sprung möglich wäre. Wie der Letta-Report feststellt, leidet der Kapitalmarkt des Euroraums darunter, dass der Markt für Staatsanleihen nach wie vor national segmentiert ist. Es fehlt ihm also die Tiefe und damit die Liquidität des Marktes für US-Staatsanleihen, der diese für internationale Investoren, insbesondere auch für Notenbanken besonders attraktiv macht. Dies führt auf einen Vorschlag, der vor vielen Jahren von Jacques Delpla und von Jakob von Weizsäcker in die Diskussion gebracht wurde: „Die Länder des Euroraums sollten ihre Staatsverschuldung in zwei Teile aufteilen. Die ersten Teile, bis zu 60 Prozent des BIP, sollte als ‚Blaue Anleihen‘ mit vorrangigem Status gemeinsam und gesamtschuldnerisch von den teilnehmenden Ländern garantiert werden. Alle darüber hinausgehenden Schulden sollten als rein nationale ‚Rote Anleihen‘ mit nachrangigem Status ausgegeben werden.“ Auch wenn der Vorschlag nicht ohne Probleme ist – insbesondere die Vorstellung, dass für die red bonds ein Insolvenzrisiko bestehen soll – könnte damit grundsätzlich ein großer integrierter europäischer Kapitalmarkt für sichere Assets geschaffen werden. Dessen Vorteile werden von der EZB wie folgt beschrieben:„Sichere Anlagen spielen eine zentrale Rolle für die finanzielle Widerstandsfähigkeit und Stabilität. Eine breitere Verfügbarkeit sicherer Anlagen, auch auf EU-Ebene, würde die geldpolitische Transmission erleichtern, die Finanzierung öffentlicher Güter in der EU unterstützen und die finanzielle Stabilität und Integration fördern.“ Wie NextGenerationEU zeigt, könnte natürlich auch durch eine gemeinsame Finanzierung von Investitionsprojekten in Europa ein größerer Markt für sichere Anlagen geschaffen werden, der den ökologischen und technologischen Wandel in Europa fördert. Insgesamt leidet die Diskussion über eine Europäische Kapitalmarktunion darunter, dass sie den Anschein erweckt, dass mit kleinteiligen institutionellen Änderungen ein qualitativer Sprung gegenüber dem schon erreichten, sehr hohen Maß an Kapitalmarktintegration erreicht werden könne. Demgegenüber blendet sie in der Regel aus, dass der entscheidende Nachteil Europas gegenüber den Vereinigten Staaten in der Fragmentierung der Märkte für Staatsanleihen besteht.