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In den vergangenen Jahrzehnten hat die Demokratieverdrossenheit dramatisch zugenommen. So heißt es im neuesten „Global Satisfaction with Democracy Report“: „Mitte der 1990er Jahre war die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger mit dem, was ihre Demokratien leisten, zufrieden. Seither ist die Quote derjenigen, die nach eigener Aussage mit der Demokratie unzufrieden sind von 47,9 auf 57,5 Prozent gestiegen. Das ist der höchste Wert, der seit Beginn dieser Erhebungsreihe im Jahr 1995 festgestellt wurde.“

Das vielleicht gängigste Erklärungsmuster für Demokratieverdrossenheit ist das „Bottom-up“-Modell, das die wirtschaftlichen und/oder gesellschaftlich-kulturellen Beschwerden der Menschen in den Blick nimmt. Es gilt jedoch auch die „Top-down“-Ursachen zu untersuchen, die mit der Beschaffenheit oder Funktionsweise der demokratischen Institutionen zu tun haben.

Wohl kaum eine Formulierung dieser Sichtweise hat so große Wirkung entfaltet wie Samuel Huntingtons Studie Political Order in Changing Societies. Darin vertritt Huntington die These, dass der Zerfall politischer Ordnungen die Folge einer Diskrepanz zwischen den Forderungen der Bürger und der Bereitschaft oder Fähigkeit politischer Institutionen ist, auf diese Forderungen einzugehen. Auch wenn Huntington sich in seiner Studie vor allem mit der politischen Ordnung in Entwicklungsländern während der Nachkriegszeit beschäftigt, kann sein Analyserahmen uns helfen, die Demokratieverdrossenheit im heutigen Europa zu verstehen. 

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich in Europa eine Repräsentationslücke aufgetan — eine Entkopplung zwischen den Prioritäten der Wähler und den politischen Profilen und Appellen der Volksparteien. Und wenn in der Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger die politischen Institutionen nicht bereit oder nicht in der Lage sind, auf sie einzugehen, führt dies wahrscheinlich – so würde Huntington prophezeien – zu Unzufriedenheit und in der Folge zum Zerfall der politischen Ordnung.

Die Mitte-Links-Parteien verwässerten allerdings nicht nur ihre wirtschaftspolitischen Positionen, sondern spielten in ihren Appellen auch den Klassenaspekt mehr und mehr herunter.

Die europäischen Volksparteien haben sich in den letzten Jahrzehnten durch die Veränderung ihrer politischen Profile und Appelle von den Präferenzen vieler Wählerinnen und Wähler entfernt. In der Nachkriegszeit hatten die europäischen Mitte-Links-Parteien relativ klare wirtschaftspolitische Profile. Es gehörte zur ihrer Grundüberzeugung, dass demokratische Regierungen die Aufgabe haben, die Bürger vor den nachteiligen Folgeerscheinungen des Kapitalismus zu schützen. Konkret drückte sich das darin aus, dass diese Parteien für den Wohlfahrtsstaat, für Marktregulierung, Vollbeschäftigungspolitik usw. eintraten. Die Mitte-Links-Parteien versuchten zwar auch, neue Wählerstimmen außerhalb der traditionellen Arbeiterschaft zu erobern, doch ihre Identität und ihre Appelle blieben klassenorientiert.

Dies begann sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu wandeln: Die Mitte-Links Parteien bewegten sich wirtschaftspolitisch in die Mitte und warteten mit einer verwässerten oder „zahmeren und schonenderen“ Version jener Politik auf, mit der bislang nur ihre Mitte-Rechts-Konkurrenz hausieren gegangen war. In den späten 1990er-Jahren hatte, wie eine Studie konstatierte, „die Sozialdemokratie mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Hauptkonkurrenten als mit den Standpunkten, die sie selbst rund 30 Jahre zuvor vertreten hatte.“

Die Mitte-Links-Parteien verwässerten allerdings nicht nur ihre wirtschaftspolitischen Positionen, sondern spielten in ihren Appellen auch den Klassenaspekt mehr und mehr herunter. Hinzu kam, dass ihr Führungspersonal immer seltener der Arbeiterschaft und immer häufiger einer Elite mit hohem Bildungsniveau entstammte.

Etwa zeitgleich vollzog sich ein zweiter Veränderungsprozess, der allerdings nicht ganz so stark ausgeprägt und weniger flächendeckend war: Während die Mitte-Links-Parteien sich wirtschaftspolitisch in die Mitte bewegten, übernahmen viele Mitte-Rechts-Parteien in wichtigen gesellschaftlichen und kulturellen Fragen zunehmend gemäßigtere Standpunkte – etwa wenn es um „traditionelle“ Werte, Einwanderung und andere Themen ging, die mit nationaler Identität zusammenhängen.

In der Summe führten diese Profilverschiebungen der Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien dazu, dass viele Wähler ihre Interessen von keiner Partei mehr vertreten sahen.

Bis dahin hatten die Mitte-Rechts-Parteien in diesen Fragen grundsätzlich eine konservative Haltung vertreten. Christdemokratische Parteien etwa sahen religiöse Werte und traditionelle Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen als Kernbestand ihrer Identität. Zudem definierten viele dieser Parteien nationale Identität kulturell oder gar ethnisch und standen Einwanderung und Multikulturalismus argwöhnisch gegenüber. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts und in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts jedoch bewegten viele dieser Parteien sich in Fragen der nationalen Identität zur Mitte hin und schwächten ihre früheren kommunitaristischen Appelle entweder ab oder ließen sie ganz fallen.

In der Summe führten diese Profilverschiebungen der Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien dazu, dass viele Wähler – vor allem wirtschaftspolitisch linke Wähler mit gemäßigten bis konservativen Einstellungen zu Einwanderung und ähnlichen Themen – ihre Interessen von keiner Partei mehr vertreten sahen. Ganz massiv war dies bei Wählern aus bildungsferneren Schichten und aus der Arbeiterschaft der Fall, die in Europa (und auch in den USA) rund 20 bis 25 Prozent der Wählerschaft ausmachen.

Gestützt auf Albert Hirschmans „Exit-Voice-Modell“, kann man sagen: Wenn sich eine Repräsentationslücke auftut und die Wähler mit den Politikangeboten, die ihnen unterbreitet werden, nicht zufrieden sind, haben diese Wähler zwei Handlungsoptionen: Sie können sich abwenden (exit) oder ihren Widerspruch artikulieren (voice). Genau das geschah in den vergangenen Jahrzehnten: Die Wähler aus bildungsferneren Schichten und Arbeiterschaft haben sich mehr und mehr abgewandt, indem sie nicht mehr zur Wahl gingen und sich auch aus anderen Formen politischer Mitwirkung zurückgezogen haben, oder ihren Widerspruch artikuliert, indem sie ihre Stimmen rechtspopulistischen Parteien gaben.

Letzteres taten sie deswegen, weil auch die rechtspopulistischen Parteien ihre Profile verändert hatten und neuerdings einen Mix aus Wohlfahrtschauvinismus, konservativer Sozial- und Kulturpolitik anboten und versprachen, den „Sprachlosen“ eine Stimme zu geben — um genau für diese Wählergruppen attraktiv zu werden. Der französische Schriftsteller Édouard Louis hat beschrieben, wie die Unzufriedenheit mit den Volksparteien und insbesondere mit der traditionellen Linken seinen Vater – einen ungelernten Arbeiter - genau auf diesen Pfad führten:

„Wahlen waren für meinen Vater inzwischen zu einer Gelegenheit geworden, gegen sein Gefühl des Unsichtbarseins anzukämpfen. [...] Mein Vater fühlte sich seit den 1980er-Jahren von der politischen Linken im Stich gelassen – seit die Linke angefangen hatte, die Sprache und das Denken des freien Marktes zu übernehmen, [und nicht mehr] von Gesellschaftsklassen, Ungerechtigkeit und Armut, von Leid, Schmerz und Erschöpfung sprach. Mein Vater klagte: ‚Egal – links oder rechts, das ist doch inzwischen alles dasselbe.‘ In diesem ‚Egal‘ artikulierte sich seine geballte Enttäuschung über die, die sich seiner Meinung nach für ihn hätten starkmachen sollen und es nicht getan haben.

Der Front National hingegen ereiferte sich über schlechte Arbeitsbedingungen und die Arbeitslosigkeit und schob die ganze Schuld auf die Einwanderung oder die Europäische Union. Da die Linke keine Anstalten machte, sein Leid zu thematisieren, klammerte mein Vater sich an die falschen Erklärungsangebote von Rechtsaußen. Im Unterschied zur herrschenden Klasse hatte er nicht das Privileg, für ein politisches Programm zu stimmen. Für ihn war Wählen ein verzweifelter Versuch, von anderen als existent wahrgenommen zu werden.“

Doch ebenso wichtig ist die Frage, warum die bestehenden demokratischen Institutionen auf die Sorgen vieler Bürgerinnen und Bürger nicht eingehen.

Kurz gesagt: Wer die Probleme verstehen will, mit denen die Demokratie gegenwärtig zu kämpfen hat, muss natürlich die veränderten wirtschaftlichen, sozialen und technologischen Rahmenbedingungen und die dadurch verursachten Missstände unter die Lupe nehmen. Doch ebenso wichtig ist die Frage, warum die bestehenden demokratischen Institutionen auf die Sorgen vieler Bürgerinnen und Bürger nicht eingehen. Immerhin gehört es doch zu den Grundmerkmalen der Demokratie, dass die Regierung für die Anliegen der Bürger empfänglich ist. Dies impliziert eine gewisse Entsprechung zwischen dem Wählerwillen und dem realen Handeln der Politiker und Parteien.

Gerade dann, wenn sich eine Repräsentationslücke auftut — wenn also erhebliche Teile der Bevölkerung den Eindruck haben, dass ihre Interessen von traditionellen Politikern und Parteien nicht mehr vertreten werden — müssen wir damit rechnen, dass die Unzufriedenheit und damit auch die Unterstützung für Politiker und Parteien wächst, die sich gegen das Establishment stellen. Dies lässt sich nur verhindern, wenn man die Repräsentationslücke schließt — und das bedeutet: Die traditionellen Parteien müssen entweder sich wieder ihren Wählern zuwenden oder die Wähler überzeugen, sich ihnen wieder zuzuwenden.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europa und dem IPG-Journal.