Gerade einmal 29 Jahre alt und bis vor kurzem Kellnerin eines Restaurants, ist Alexandria Ocasio-Cortez innerhalb kürzester Zeit zur reichweitenstärksten Politikerin Amerikas nach Präsident Trump geworden. Wäre sie nicht aufgrund der amerikanischen Verfassung zu jung für das Präsidentenamt, sie wäre wohl die haushohe Favoritin im demokratischen Rennen für 2020. Das liegt zum einen an ihrer Authentizität und einem engagierten Team. Doch sie ruht sich nicht auf ihrem Charisma aus, um letzten Endes in wirtschaftsliberale Politik abzudriften. Ihr raketenhafter Aufstieg liegt an visionären, aber konkreten politischen Alternativen.
Ocasio-Cortez' Wahlplattform enthielt eine "Jobgarantie": Jeder Amerikaner und jede Amerikanerin soll ein Angebot eines staatlich bezahlten Arbeitsplatzes erhalten. Nie wieder Arbeitslosigkeit, Bezahlung zumindest auf Mindestlohnniveau mit Krankenversicherung - und das alles staatlich organisiert wie im New Deal zu den glorreichen Zeiten Präsident Roosevelts. Die Maßnahme ist bei Meinungsumfragen eines der beliebtesten wirtschaftspolitischen Konzepte in der amerikanischen Bevölkerung überhaupt, bestätigten US-Meinungsforscher vor kurzem. Neben einem massiven Ausbau des öffentlichen Sektors soll die "Federal Jobs Guarantee" sicherstellen, dass wirklich jeder mitgenommen wird, seinen Beitrag zur Gesellschaft leisten kann und dafür auch entlohnt wird.
Tatsächlich fällt es gar nicht schwer, gesellschaftlich ganz dringend notwendige Arbeit zu finden, die weder private Firmen noch der Staat organisieren und finanzieren: Die Reparatur der verfallenden amerikanischen Infrastruktur bei Brücken, nie reparierte Schlaglöcher auf Straßen, Zeltsiedlungen und Obdachlosigkeit in Städten bei rasant steigenden Mieten, Armut in Wohnwägen am Land, verfallende Häuser bei zu wenig leistbarem Wohnraum, Abwanderung und leerstehende Straßenzüge wegen fehlender Jobs, kaum öffentliche Verkehrsmittel, ein Bahnsystem, das wie aus dem (vor-)vorherigen Jahrhundert wirkt, zu wenig Personal der Bundesstaaten von Lehrern bis zu Polizisten, und vieles mehr. Wer sich auf der anderen Seite des Atlantiks auf deutschen Straßen und Bahnstrecken, in deutschen Vorstädten und in strukturschwachen ländlichen Gegenden umsieht, entdeckt diese sich langsam einschleichenden Probleme auch in Deutschland.
Die bestehenden Programme sind zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung, doch reichen sie nicht aus, weil ihre Platzzahl auf sehr wenige ausgewählte Menschen beschränkt ist.
Nachdem die Umfragewerte der SPD im Januar auf 17 Prozent gesunken sind, leitete die Partei einen Kurswechsel ein. Die Rückwendung zum Sozialen wurde durch die Forderung nach einer Grundrente begonnen. Doch die Arbeitsmarktpolitik war dem fast unbemerkt schon einige Monate voraus. Staatliche Beschäftigungspolitik wurde bereits zuvor wiederentdeckt. Im Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung stehen 150 000 öffentlich fast vollständig geförderte Jobs für Langzeitarbeitslose mit über sechs Jahren in Hartz IV, umzusetzen durch das Arbeitsministerium.
Der Berliner Bürgermeister Michael Müller setzt noch eines drauf und fordert gar ein "Recht auf Arbeit". Vom Bund hätte er gerne das Geld, um allen Berliner Langzeitarbeitslosen einen öffentlich geförderten Arbeitsplatz bereitzustellen. Berlin beginnt derzeit mit einem Pilotprojekt. Auch Österreich hatte ein ähnliches Programm unter SPÖ-geführter Bundesregierung für über 50-Jährige Langzeitarbeitslose, bevor es die FPÖ-Sozialministerin im Kabinett von Sebastian Kurz als ersten offiziellen Regierungsakt abwürgte.
Die bestehenden Programme sind zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung, doch reichen sie nicht aus, weil ihre Platzzahl auf sehr wenige ausgewählte Menschen beschränkt ist. Im Arbeitsmarktpapier der SPD findet sich die beeindruckende Forderung, das "Recht auf Arbeit konsequent durchzubuchstabieren". Es folgen eine Reihe sehr guter und sinnvoller Maßnahmen zum Ausbau des Sozialstaats und zur Verbesserung der Arbeitnehmerrechte und -förderungen. Doch wenn es konkret um die Umsetzung dieses Rechts auf Arbeit geht, bleibt das Papier äußerst vage: Ein zweizeiliges Bekenntnis will, dass "Bürgerinnen .. ein passgenaues Angebot auf Weiterbildung/Qualifizierung oder auch ein Angebot auf Arbeit erhalten. Dafür werden wir perspektivisch den sozialen Arbeitsmarkt ausweiten." Konkrete Forderungen fehlen hingegen.
Nur eine Jobgarantie könnte ein "Recht auf Arbeit" wirklich in die Praxis umsetzen.
Eine Jobgarantie ist der Vorschlag der SPD nicht. Arbeitslose Mitbürger bleiben so auf Dauer von politischen Kompromissen zur Finanzierung des sozialen Arbeitsmarktes abhängig. Doch nur eine Jobgarantie könnte ein "Recht auf Arbeit" wirklich in der Praxis umsetzen. Sie verlangt, den öffentlichen und den sozialen Arbeitsmarkt so auszubauen, dass der Staat jedem Arbeitslosen das Angebot eines öffentlichen Jobs machen kann. Arbeitslosigkeit wird so zum staatlichen Allokationsproblem: Der Staat muss sich nicht mehr überlegen, wieviel Arbeitslosigkeit denn politisch gerade noch vertretbar ist und somit ignoriert werden kann, sondern nachdenken, wie er die ihm zugeteilten Arbeitskräfte einsetzt, um möglichst viel gesellschaftlichen Wohlstand durch die ordentlich bezahlten Arbeitsplätze der Jobgarantie zu schaffen.
Den einzelnen Arbeitslosen wird nicht mehr mit Verweis auf bedrohliche Floskeln wie "Eigenverantwortung" und "Flexibilität" die Schuld in die Schuhe geschoben. Schließlich - in den Worten des SPD-Papiers - habe "der Sozialstaat gegenüber den Bürgern eine Bringschuld, keine Holdschuld". Doch im Endeffekt darf ohne Jobgarantie jeder weiter selbst sehen, wo er oder sie bleibt, wenn die Qualifizierungsmaßnahme kein Jobangebot der privaten Wirtschaft nach sich zieht und das (verlängerte) Arbeitslosengeld ausläuft.
Es braucht den politischen Mut, etwas Großes anzugehen. Alexandria Ocasio-Cortez, Bernie Sanders, und Elizabeth Warren machen vor, wie mit mutigen Politikvorschlägen die eigene Bevölkerung begeistert und die politische Debatte dominiert werden kann. Die Parteibasis und die Wählerinnen und Wähler der linken Parteien in Deutschland warten sehnsüchtig darauf. Der Schritt von den bestehenden Arbeitsmarktprogrammen für Langzeitarbeitslose zur Forderung einer Jobgarantie ist eigentlich kein großer. Vor allem dann nicht, wenn man den Zugang zur Jobgarantie zunächst auf die 700 000 Langzeitarbeitslosen einschränkt. Die brauchen öffentlich geförderte Arbeitsplätze ohnehin am dringensten. Und der mutige Schritt, der nötig ist, ist sogar noch kleiner. Damit wären vielleicht wieder mehr drin als die 15,8 Prozent der Europawahl.