Als im Jahr 2006 die Webseite Chinadialogue mit dem Ziel der Berichterstattung über die Folgen des Klimawandels und der Umweltzerstörung in China gestartet wurde, war die vorherrschende Einstellung in Peking: „Jetzt entwickeln, später aufräumen“. Der Schutz der Umwelt, so lautete das Argument, war ein Luxus, den sich Entwicklungsländer nicht leisten können. China jedenfalls würde nicht zulassen, dass Umweltschutz das rasante Wirtschaftswachstum behindert.
Schon damals plädierten einige Stimmen für einen anderen Ansatz. So etwa Pan Yue, Vizeminister der Umweltschutzbehörde, die später zum Ministerium aufgestockt wurde. Dieser sagte bereits 2005 voraus, dass „dieses Wirtschaftswunder bald aufhören wird, weil die Umwelt nicht mithalten kann.“
Die Regierung hat im aktuellen Fünfjahresplan Pläne für eine Transition vom schnellen Wachstum hin zu einem höherwertigen Modell mit mehr Nachhaltigkeit vorgelegt.
Die Vorhersagen Pan Yues erscheinen heute prophetisch. In dem Maße, in dem Umweltschutz langsam vom Rand der nationalen Politik ins Zentrum des aktuellen zwölften Fünfjahresplans (2011-2015) gerückt ist, hat auch die Sprache amtlicher politischer Erklärungen das Vokabular der Nachhaltigkeit übernommen.
Transition zu mehr Nachhaltigkeit
So hat die chinesische Regierung im aktuellen Fünfjahresplan Pläne für eine Transition vom schnellen Wachstum der vergangenen drei Jahrzehnte hin zu einem höherwertigen Modell mit langsamerem Wachstum und mehr Nachhaltigkeit vorgelegt. Der Plan sieht nationale Zielwerte für Verschmutzungskontrollen und Energiedichte ebenso vor wie Zieldaten für erneuerbare Energien und Investitionen in die Entwicklung von sauberen Technologien.
Doch Chinas Umweltkrise der chronischen Luft und Wasserverschmutzung, der Wasserknappheit und der weitverbreiteten Bodenverschmutzung droht die politischen Versuche der Einhegung zu überwältigen - trotz aller lobenswerten Intentionen. Aus diesem Grund wird der aktuell vorbereitete 13. Fünfjahresplan sehr viel ehrgeizigere Ziele formulieren müssen, um die Umweltzerstörung und den stetig wachsenden Kohlendioxidausstoß Chinas zu stoppen.
Wie effektiv die Regierung in dem Versuch sein wird, die Umweltzerstörung aufzuhalten, wird davon abhängen, ob die Kluft zwischen Absichtserklärungen und effektiven Maßnahmen geschlossen werden kann. In den vergangenen zehn Jahren sind die politischen Erklärungen der Regierung immer robuster geworden. Doch wenn, wie im Jahre 2013, 92 Prozent der chinesischen Städte die nationalen Luftqualitätsstandards nicht erreichen, dann ist zu hinterfragen, weshalb die Richtlinien nicht eingehalten werden.
Eine Reihe von Faktoren ist zu berücksichtigen: In dem Top-down-System Chinas existieren nur wenige öffentliche Checks and Balances, die das Verhalten von örtlichen und Provinzbeamten kontrollieren. Die Verantwortlichen sind in der Regel mit konkurrierenden Zielen betraut: Mit der Umsetzung Pekinger Umweltpolitik und mit der Aufgabe, Beschäftigung und Wachstum zu generieren. In dieser Ausgangslage werden Karriereambitionen Wachstum stets über Umweltschutz stellen. Denn Beamte werden befördert, wenn sie wirtschaftliche Erfolge vorzuweisen haben, nicht wenn sie Umweltverschmutzungen verhindern. Zugleich werden sie nur selten ernsthaft für Umweltkatastrophen zur Rechenschaft gezogen.
Schwache Sanktionen und schlechte Regierungsführung betrifft auch die industrielle Verschmutzung. China leidet vor allem unter ernsthaften Wasserproblemen und verbreiteter Wasserverschmutzung. Doch die Strafen für Verstöße gegen Wasserschutzgesetze sind so niedrig, dass es in der Vergangenheit günstiger für eine Fabrik war, beim Verletzen des Gesetzes ertappt zu werden und eine Strafe zu entrichten, als Abwasser vernünftig zu behandeln. Da lokale Behörden in der Regel ein finanzielles Interesse an Unternehmen haben, die die Umwelt verschmutzen, ist ihre Aufsicht oft wenig intensiv.
Der Fall-Out des politischen Systems
Andere Faktoren, die die Implementierung von Regeln verhindern, sind eng mit Chinas politischem System verknüpft: Die eingeschränkten Medien (formale und soziale), die Schwierigkeiten und Gefahren für investigativen Journalismus, die Fragilität chinesischer Umwelt NGOs und das Fehlen eines robusten und unabhängigen Rechtssystems. Umweltaktivismus wird toleriert, aber individuelle Aktivisten, die es wagen lokale Mächte zu behelligen, sind Einschüchterungen, Bedrohungen oder rechtlichen Anklagen ausgesetzt. Umweltaktivismus wird nicht systematisch unterdrückt, aber die Tatsache dass die Befugnisse lokaler Autoritäten kaum eingeschränkt sind, führt dazu, dass Aktivisten einem großen Risiko und Ungewissheiten ausgesetzt sind.
Heute gesteht die Regierung ein, dass Umweltverschmutzung eine der Hauptursachen für wachsende soziale Unruhen in China darstellt.
Doch ein fortgesetztes Scheitern der (Umwelt-)Politik, stellt für die Autorität und Glaubwürdigkeit der Regierung ebenfalls ein Risiko dar. In den vergangenen Jahren ist öffentliche Unzufriedenheit mit der Umwelt mit zunehmender Frequenz öffentlich sichtbar geworden. Heute gesteht die Regierung ein, dass Umweltverschmutzung eine der Hauptursachen für wachsende soziale Unruhen in China darstellt. Beginnend mit einem erfolgreichen Protest gegen eine geplante Chemieanlage in der südlichen Stadt Xiamen im Jahre 2007 ist die chinesische urbane Mittelklasse immer mutiger geworden, gegen ähnliche Anlagen in anderen Städten, gegen Müllverbrennungsanlagen und im vergangenen Jahr gegen nukleare Wiederaufbereitungsanlagen in der Guandong Provinz zu protestieren. In den meisten Fällen wurden diese Projekte von lokalen Verantwortlichen verschoben oder annulliert. Sie sahen sich zwei gegensätzlichen Risiken ausgesetzt: Einerseits der Gefahr, Vorgesetzte durch die Stornierung eines Projekts zu verärgern und andererseits, für öffentliche Unruhen sanktioniert oder degradiert zu werden.
Die Protestierenden sind immer entschlossener, weil das Vertrauen zwischen Bürgern und Regierung zusammengebrochen ist. Während offizielle Stellen sich häufig darüber beschweren, dass selbstsüchtige sogenannte Nimbys irrationale Ängste verbreiten, argumentieren die Protestierenden, dass offiziellen Beschwichtigungen wegen der Regierungskorruption nicht vertraut werden könne. Die nicht-öffentlichen Planungsprozesse des Landes führen zudem dazu, dass Pläne kaum öffentlich diskutiert werden können. Die Folge: Sorgen der Öffentlichkeit können in einem früheren Stadium weder artikuliert noch berücksichtigt werden. In der Planung führen die Gewohnheit der Geheimhaltung und das Fehlen einer öffentlichen Beratungskultur daher dazu, dass wirkliche Partizipation der Öffentlichkeit weiterhin behindert wird.
Zeichen des Wandels
Doch in diesem Jahr gibt es einige ermutigende Zeichen des Wandels: Am 4. Juni präsentierte der stellvertretende Minister für Umweltschutz Li Ganjie den jährlichen Bericht über die Lage der Umwelt. Darin gab der Minister zu, dass „die Qualität der Luft, des Wassers und des Bodens sehr schlecht bleibt.“ „Um die Umwelt zu schützen“, fuhr er fort, „müssen wir die Menschen im ganzen Land involvieren und sie bitten, einen Teil der Verantwortung zur Behebung des Problems zu übernehmen.“ In einem ungewöhnlich offenen Eingeständnis erklärte der Vizeminister zudem, dass „einige Institutionen, Firmen und Projekte illegale und irreguläre Entwicklungen betreiben“ und dass „einige Projekte in der Planungsphase nicht genug Information mit der Öffentlichkeit austauschen. Wenn die Öffentlichkeit am Prozess nicht beteiligt wird und keine Erklärungen und rechtzeitigen Antworten auf Fragen erhält, führt dies zu Misstrauen und Verdächtigungen.“
Während einige Stimmen in China nach härteren Maßnahmen gegen öffentliche Proteste riefen erklärte Vizeminister Li, dass die Regierung mit Reformen Ernst mache. Dabei verwies er auf das neue Umweltschutzgesetz, das im April nach mehreren Jahren im nationalen Volkskongress in einem Sonderkomitee verabschiedet worden war. Das Gesetz verlangt nach transparenten Informationen der Öffentlichkeit und nach Partizipationssystemen, legt aber auch robuste Maßnahmen gegen Verschmutzer fest, inklusive hoher Strafzahlungen und möglicher Haftstrafen.
Doch Verschmutzer müssen erst einmal gefasst werden und Fälle müssen vor Gericht verfolgt werden, wenn diese Sanktionen einen Effekt haben sollen. Eine der Anomalien des chinesischen Systems ist es, dass das Ministerium für Umweltschutz auf nationaler Ebene schwach und unterfinanziert bleibt. Ein gravierendes Problem ist dabei, dass das Netzwerk der lokalen Umweltschutzämter nicht dem Ministerium unterstellt ist. Denn die Umweltregulatoren und Watchdogs des Staates sind nicht dem Ministerium in Peking verantwortlich, sondern den lokalen und Provinzregierungen. Doch eben diese haben finanzielle Interessen an den verschmutzenden Industrien. Eine Reform dieses Systems ist lange überfällig, doch – so scheint es – ist die Regierung hierzu noch nicht bereit.
Die Kommunistische Partei Chinas hat die Errichtung eines stabilen und unabhängigen Rechtssystems bislang verhindert.
Das neue Gesetz befasst sich jedoch noch mit einem anderen lange existierenden Problem: Dem Zugang zu Gerechtigkeit. Bis heute werden die in die Zehntausende gehenden Fälle von Umweltstreitigkeiten in China auf dem Verwaltungswege bearbeitet. Das beinhaltet Mechanismen der Schlichtung und Mediation, ein Ansatz, der nur wenig dazu beiträgt, das Machtungleichgewicht zwischen Bürger und Staat zu verändern. Gerichtsverfahren würden Bürgern einen transparenteren und effektiveren Weg zur Kompensation ebnen. Doch die Kommunistische Partei Chinas hat die Errichtung eines stabilen und unabhängigen Rechtssystems bislang verhindert. So sahen erste Entwürfe des Gesetzes vor, dass lediglich eine einzige staatlich kontrollierte Organisation Gerichtsverfahren anstreben könne.
Diese Beschränkung jedoch traf auf entschiedenen Widerstand. Und so öffnete die letzte Version des Gesetzes den Rechtsweg für 300 zugelassene Nichtregierungsorganisationen. Diese haben nun das Recht, in Verschmutzungsfällen Gerichtsverfahren im öffentlichen Interesse anzustreben.
Es bleibt abzuwarten, ob die Gerichte stärker als in der Vergangenheit bereit sein werden, solche Fälle anzunehmen. Wo sie angenommen werden, dürften Richter und Ankläger Schwierigkeiten haben, mit den Klagen effektiv umzugehen. Den Richtern fehlt die geeignete Ausbildung. Und bislang verfügen nur wenige chinesische zivilgesellschaftliche Organisationen über Ressourcen und Fähigkeiten, Umweltfälle erfolgreich vor Gericht zu bestreiten. Kausale Zusammenhänge zwischen Verursacher und Opfer sind nur schwer nachzuweisen, und es wird Zeit brauchen, bis die Zivilgesellschaft die Fähigkeiten entwickelt hat, die erforderlich sind. Zugleich jedoch ist die Tatsache, dass solche Fälle nun öffentlich verhandelt werden können, ein bedeutender Schritt nach vorn.
4 Leserbriefe
umgekehrt wird ein Schuh draus. Die Proteste in China zeigen doch, dass demokratische Systeme unter stärkeren handlungsdruck kommen, wenn der Leidensdruck groß wird.
Besten Gruß! KHS