In ihrem Beitrag „Das große Missverständnis“ führt Claudia Detsch aus, „allenfalls Konservative und Rechte verstehen sich heute als Teil des Westens“; die Linke und die neuen Eliten hätten sich wegen der Doppelzüngigkeit und der Scheinheiligkeit schon lange von der westlichen Erwartung an eine unhinterfragte Partnerrolle gelöst. Folgt man dieser Argumentation, so wird neben der beschriebenen Kluft zwischen Lateinamerika und dem Westen auch ein innergesellschaftlicher Dissens auf dem lateinamerikanischen Subkontinent deutlich, dominiert von ideologischen Vorzeichen.

Doch so einfach ist die Sache nicht. Die mexikanische Sozialwissenschaftlerin Soledad Loaeza führte jüngst aus: „Im Gegensatz zu Asien und Afrika wird der Westen in Lateinamerika nicht als fremde Welt begriffen, sondern als Teil der eigenen Kultur. Für Mexikaner – wie für die meisten Lateinamerikaner – ist der Westen weder ein feindlicher noch ein fremder oder unerreichbarer Ort.“ Weiter führt sie aus, dass keines der gravierenden Probleme der Region auf der grundsätzlichen Hinterfragung westlicher Werte oder der Kultur des Westens beruhe, sie seien ebenso in der europäischen Tradition enthalten. Loaeza sieht „den Westen“ vor allem in der Rolle eines Ideengebers für die Organisation von Staat und Gesellschaft, eine Rolle, die er zumindest in der Vergangenheit gespielt hat – nicht zuletzt auch gerade im Falle der Linken.

 

Lateinamerika – der extreme Westen?

Heute können wir in einigen Punkten sogar eine Radikalisierung westlicher Bezüge erkennen: Lateinamerika vertritt ein aus europäischer Sicht extremes Souveränitätsverständnis, der Nationalstaat als politische Referenz steht in der Mehrzahl der Länder an oberster Stelle und ist andauernde Legitimationsquelle aktueller Politik. Dieser extreme Souveränitätsvorbehalt macht in Verbindung mit der starken Personalisierung der Politik in präsidentiellen Regierungssystemen nicht vor der Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit halt, der jeweilige Amtsinhaber wünscht – wie etwa in Ecuador und Venezuela – eine willfährige Berichterstattung. Manches ist anscheinend in Lateinamerika selbst aus dem Gleichgewicht geraten, durchaus in Anschluss an europäische Ideen und Werte.

Die Abwehr der „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ eines Landes ist zum Standarddiskurs geworden, mit einer dramatischen Folge: Lateinamerika ist weltpolitisch marginalisiert, es nimmt nicht am global governance-Diskurs mit substanziellen Beiträgen teil, wichtige internationale Debatten zur globalen Ordnung (etwa um die R2P, responsibility to protect) sind am Subkontinent weitgehend vorbeigegangen und beeinträchtigen die angestrebte weltpolitische Gestaltungsrolle, die etwa Brasilien für sich in Anspruch nehmen möchte. Für manche gilt Lateinamerika sogar als Globalisierungsverlierer, haben doch viele Länder mit dem Rohstoff-Boom einen Prozess der De-Industrialisierung zurück in die Rolle des Rohstofflieferanten durchlaufen. Wenn man so will, sind bezogen auf die Einbindung in die Weltwirtschaft für die nationalen Produktionsprofile wieder koloniale Traditionen zurückgekehrt, der eigene Entwicklungsanspruch wurde für hohe Preise bei Primärgütern aufgegeben.

 

Der Westen und sein erhobener Zeigefinger

Kann der Westen in Lateinamerika noch glaubhaft als Partner auftreten? Sicherlich gibt es viele Hinweise darauf, dass sich insbesondere Europa in Lateinamerika selbst aus dem Spiel genommen hat. Die Unfähigkeit zu einem substantiellen politischen Engagement im Rahmen der vielbeschworenen strategischen Partnerschaft der EU mit der Region sowie die über Dekaden praktizierte Delegation europäischer Präsenz an Spanien sind nur die äußeren Symptome dieser unproduktiven Beziehung; mit jedem Besuch eines/r Bundeskanzlers/in in Lateinamerika wird die Wiederentdeckung des Subkontinents in der deutschen Außenpolitik inszeniert, obwohl die dort „Entdeckten“ diesen Unternehmungen wenig abgewinnen können. Bis heute scheint Europa noch nicht verstanden zu haben, dass die Suche nach vergleichbaren institutionellen Strukturen als maßgebliche Beziehungslogik an der Realität vorbei geht; nicht Kongruenz und Komplementarität können als Maßgabe dienen, sondern die beharrliche Arbeit an dem Bau eines gemeinsamen Projektes, das den Partner in dieser Qualität wirklich ernst nimmt – jenseits des Diskurses von der „gleichen Augenhöhe“. Tatsächlich gelingt es Europa nicht, seine vorgegebenen Schablonen bezüglich Lateinamerikas beiseite zu legen  und sich für einen wirklichen Dialog zu öffnen. Stattdessen retten sich die Regierungen in eine Position  des „erhobenen Zeigefingers“ in der Annahme, die normativen Ansprüche im Sinne der Übereinstimmung in politischen Standards und Werten müssten mit Lateinamerika nicht erarbeitet werden, vielmehr stellten sich diese ohne weitere Bemühung her. Die Erwartung an eine automatische Normübernahme trügt indes: De facto lässt der normative Einfluss des Westens auf Lateinamerika nach, dem europäischen Denkansatz kommt kein selbstverständlicher Modellcharakter mehr zu. Im diplomatischen Ritual erstickte Gipfeldiplomatie kann hier keine Abhilfe leisten, vielmehr kommt es darauf an, bestehende Chancen zu nutzen und nicht durch Oberflächlichkeit auf beiden Seiten zu verspielen.

 

Im Westen nichts Neues

Aus lateinamerikanischer Sicht hat Europa als Teil des Westens an Strahlkraft verloren, der übliche Kontrollblick nach Europa bei Entscheidungen gesellschaftspolitischer Art ist vielfach entfallen. Lässt sich daraus auf eine tiefgreifende Entfremdung schließen? Die Dichte des europäisch-lateinamerikanischen Beziehungsfeldes spricht auf den ersten Blick dagegen, doch wird bei näherem Hinsehen klar, dass sich die Wertigkeiten verschoben haben: Westliche Kulturmuster und Lebensstile (von Facebook über Twitter bis zur Crossover-Küche) bestimmen den Alltag in den Metropolen des Subkontinents, aber diese Identifikation mit der Oberflächenkultur ist nur instrumenteller Art. Vieles wird auf- und angenommen, aber daraus folgt nur rein äußerliche Attraktivität, sicher kein normatives Leitbild, geschweige denn eine dauerhafte Bindung.

Der Westen ist kein Identifikationsvorbild mehr, sondern wird mit Gleichgültigkeit wahrgenommen. Damit ist der Abschied von der immer wieder eingeklagten Sonderbeziehung zwischen Europa und Lateinamerika angekündigt, der auch politisch spürbar wird – insbesondere auch bei der Linken, die sich zunehmend ihres eigenen Elitencharakters bewusst wird. Ihre Rolle ist indes nicht die einer Gegenelite, vielmehr folgt sie – trotz unterschiedlicher Herkunft – immer mehr den Handlungsmustern der politischen Kultur in Lateinamerika. Sie sucht politisch einfache Partner (in Afrika und Asien), engagiert sich in ad-hoc-Allianzen, die keine großen Verpflichtungen mit sich bringen und fordert zurecht Beteiligung an einer Fülle von Entscheidungsprozessen, ohne eigene Positionen formulieren zu können. Dieses Modell von Weltpolitik light hat gute Chancen, für die nationalen Entwicklungsmodelle erfolgreich zu sein, doch politisches Gewicht in den internationalen Beziehungen gewinnt man damit nicht. Die immer wieder beschworenen Süd-Süd-Allianzen der lateinamerikanischen Staaten sind daher auch sehr locker. Maßgebliche politische Anstöße sind daraus noch nicht erwachsen, sie folgen vielmehr eher konjunkturellen Zyklen.

Der Westen sollte in der Lage sein, hier ein alternatives Modell anzubieten, dass sich von den kurzfristigen Engagements absetzt und politische Dialogstrukturen schafft, die eine dauerhafte Hinwendung zu diesem Subkontinent ermöglichen. Konkrete Projekte – wie etwa die deutsch-brasilianische Zusammenarbeit bei der Cybersicherheit – über den Tag hinaus zu entwickeln und in gemeinsame Sicherheitsstrukturen münden zu lassen, ist dabei essentiell. Dies bedeutet aber auch, ohne falsche Anmaßung aufzutreten und sich vom dem Partner genauso fordern zu lassen, wie man ihn selbst zu fordern gedenkt. Dies setzt ein neues Selbstverständnis auf beiden Seiten voraus. Ob sich der „Westen“ hierzu in der Lage zeigt, bleibt dabei eine der spannenden Fragen.