Dr. Ulrike Guérot ist Gründerin und Direktorin des European Democracy Lab an der European School of Governance in Berlin und lehrt an der Donau-Universität Krems, Österreich. Zuvor leitete sie von 2007 bis 2013 das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations (ECFR).

Frau Guérot, was bedeutet Heimat für Sie?

Heimat ist, wo man sich wohlfühlt. Und das kann natürlich an vielen Orten sein. Ich persönlich würde für mich so weit gehen, zu sagen, Heimat ist, wo ich bin.

In der politischen Debatte wird die Heimat gerade massiv wiederentdeckt. Braucht die Linke einen Heimatbegriff?

Bei dieser öffentlichen, sehr inszenierten Setzung des Begriffes Heimat wird immer auf den physischen, geographischen oder territorialen Heimatbegriff abgestellt. Wir übersehen, dass es verschiedene Begriffe von Heimat geben kann. Es gibt auch eine intellektuelle Heimat: Wo verorte ich mich intellektuell im Denken? Es gibt eine soziale Heimat, das ist wo meine Familie ist, meine Freunde. Und es gibt eine geographische Heimat, meistens die, wo man geboren wurde, aber man kann natürlich auch Wahlheimaten haben. Man muss diese drei Ebenen betrachten und wenn sie kongruent gehen, hat man viel Glück im Leben. Aber oft tun sie das nicht. Wir müssen uns davon verabschieden, dass es eine Art Menschenrecht darauf gibt, dass die Kongruenz von Geographie, Menschen und intellektueller Heimat immer gegeben ist. Und dass nur wer sie hat, sich heimisch fühlen kann.

Wir haben die Heimatdebatte vor allem auch deswegen, weil sich die Orte, die die Menschen kennen und an denen sie sich wohlfühlen, verändern. Der Wunsch nach Heimat hat da etwas mit dem Wunsch nach dem Bewahren des Bekannten zu tun. Wie reagiert man darauf?

Es hat sich immer alles verändert. Wir haben das etwas aus den Augen verloren, weil wir in der Bundesrepublik siebzig Jahre lang politische Stabilität hatten. Und die Menschen davon ausgegangen sind, dass sie eine Art Anrecht darauf haben, siebzig Jahre an einem Ort zu bleiben und nie woanders auf Jobsuche gehen zu müssen. Wenn die Menschen heute so sehr auf Begriffe wie Heimat pochen, geht es doch nicht um Dirndl und Trachten. Es geht darum, dass die ländlichen Regionen entvölkert werden, dass die Kneipe und Bäckerei schließen, dass die letzte Fabrik wegzieht und dass das, was man früher in der Heimat hatte, nämlich das soziale Leben, einem wegbricht. Als Substitut schreit man also nach Heimat und meint damit diesen physisch-geographischen, wie auch immer identitär besetzten Raum. Aber im Grunde meint man doch etwas anderes: nämlich, dass gesellschaftliches Zusammenleben in der Form nicht mehr funktioniert, wie es früher mal an diesem Fleck Erde, in dieser Heimat funktioniert hat. Wenn die Orte sozioökonomisch und damit auch im menschlichen Sozialgefüge noch stabil wären, hätten wir diese ganze Diskussion über den Heimatbegriff nicht.

Ziehen wir den Identitätskreis ein bisschen größer, zur Nation. Sie sind in der Diskussion häufig mit dem Zitat aufgefallen, der Nationalstaat habe in Europa mittelfristig keine Zukunft mehr. Was bedeutet die „Hülle“ Nationalstaat für Sie?

Die Nation ist ein Konstrukt. Ich komme aus dem Rheinland und wenn ich nach Bayern fahre, dann ist das nicht meine Heimat, um nochmal auf diesen Begriff zurückzukommen. Aber ich bin mit denen aus München in einer Nation. Warum? Weil ich schlussendlich in der Bundesrepublik Deutschland mit ihnen gleich bin vor dem Recht – bei Steuern, beim sozialen Zugang und bei Wahlen. Wir müssen zwischen einem normativen und einem ethnischen, einem Ethnos- und einem Demos-Begriff der Nation unterscheiden. Der juristische Nationenbegriff drückt im Grunde einen Prozess der Verrechtlichung aus: Eine Nation sind die, die in einem Rechtsraum sind. Wenn man auf die deutsche Geschichte zurückblickt, dann ist es nicht Fichtes Rede an die deutsche Nation, die die deutsche Nation gemacht hat. Dass wir zu einer Nation wurden, liegt in der Verfassungsgebenden Versammlung begründet und in der Tatsache, dass wir 1867 allgemeine, geheime und direkte Wahlen hatten.

Hat denn der Nationalstaat als Ansprechpartner ausgedient, wenn es um Fragen der Solidarität und des Wir-Gefühls geht?

Nein. Marcel Mauss bietet eine Definition von Nation als „institutionalisierter Solidarität“: Für diejenigen, die in institutionalisierter Solidarität sind, ist die Solidarität nicht mehr beliebig und wird gewährt. Ein Beispiel: In der Bundesrepublik Deutschland bekommen die Menschen von Rügen bis München trotz der ökonomischen Unterschiede der Regionen den gleichen Hartz IV-Satz. Weil die Bürger in der Bundesrepublik gleich sind vor dem Recht. Insofern ist die Frage, wer in der institutionalisierten Solidarität ist, genau die europäische Frage von heute. Schauen wir auf Emmanuel Macron und die Diskussion um ein Eurozonen-Budget, geht es dabei um nichts anderes als um die Institutionalisierung von Solidarität in Europa. Wenn die Frage, ob die Griechen einen Bailout bekommen, nicht mehr eine willkürliche Entscheidung des deutschen Bundestags ist, sondern institutionalisiert, befänden wir uns in einer Art Nationenwerdung Europas – im Sinne einer Verrechtlichung und nicht im Sinne eines ethnisch-kulturellen Gebildes.

Aber geht das nicht an den Realitäten vorbei? Der Solidaritätszuschlag beispielsweise war in Deutschland alles andere als beliebt. Wenn das in einem Land und in einem Sprachraum schon nicht so richtig funktioniert mit der Solidarität, wie soll sie dann auf europäischer Ebene institutionalisiert werden, ohne dass es zu massiven politischen Fliehkräften kommt?

Indem wir verstehen, dass es bei Politik nicht darum geht, ob die Dinge beliebt sind. „There’s no free lunch“, auch in der Politik nicht; wir sollten nicht glauben, dass Politik, Freiheit, Europa und Demokratie einfach vom Himmel fallen und nie einen Preis haben. Wir haben die dümmste ökonomische Entscheidung, nämlich den 1:1 Umtausch von Ostmark in D-Mark gemacht, nicht weil das irgendwie ökonomisch effizient war oder beliebt gewesen wäre bei den Banken. Wir haben das gemacht, weil das der Preis der Demokratie ist, im Sinne von Habermas. Nur wenn die Bürger der Demokratie in ihrer politischen Einheit, in diesem Fall der Nation, dem allgemeinen politischen Grundsatz genügen, können sie überhaupt Demokratie haben.

Wir sollten nicht glauben, dass Politik, Freiheit, Europa und Demokratie einfach vom Himmel fallen und nie einen Preis haben.

Wir verhandeln im Moment Markt und Währung in einem europäischen Kontext und Demokratie in einem nationalen Kontext. Das geht nicht gut. Wir merken an jeder Ecke, dass es kracht. Insofern ist das Denkangebot: ein Markt, eine Währung, eine Demokratie. Betten wir doch mal den einen Markt und die eine Währung in eine Demokratie ein. Wenn Demokratie heißen würde „die Bürger sind gleich vor dem Recht“, dann wären wir de facto in einem Prozess der Nationenwerdung. Es geht also nicht um die Abschaffung von Nationen in Europa, es geht darum, zu verstehen, dass Nation essentiell ein Begriff der Verrechtlichung ist. Und dass wir, wenn wir ihn so anwenden, im Grunde eine europäische Perspektive hätten. Und zwar welche? Normative Gleichheit bei kultureller Vielfalt.

Diese Vereinheitlichung von Recht findet auf europäischer Ebene doch längst statt. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist ein solches Recht, sie führt aber vor allem dazu, dass viele Arbeitnehmer ihre Heimat verlassen. Andere wiederum sehen ihre Heimat dadurch bedroht, was schließlich zum Brexit geführt hat.

Sie sagen, der Verrechtlichungsprozess findet schon statt. Das tut er auch. Aber wenn Europa immer für die vier Freiheiten steht – Personen, Kapital, Güter und Dienstleistungen –, dann bezieht sich die europäische Rechtsgemeinschaft de facto auf Dienstleistung, Kapital und Güter, aber nicht auf Personen. Und das ist das Problem. Ein bisschen plakativ gesprochen: Das Kapital und die Banane sind gleich vor dem Recht in Europa, wir aber nicht. Wir werden unterschiedlich besteuert, wir wählen mit unterschiedlichem Gewicht im Europäischen Parlament. Es gilt nicht: eine Person, eine Stimme, was im übrigen das entscheidende Argument von Karlsruhe ist, dem Europäischen Parlament seine volle Demokratiefähigkeit abzusprechen.

Jetzt löst das nicht das Problem innereuropäischer Arbeitsmigration. Da ist aber die Frage berechtigt: Wollen wir das überhaupt? Wollen wir, dass die Ingenieure aus Südeuropa jetzt in der Stuttgarter Automobilbubble arbeiten und Andalusien dann immer mehr verwaist und Spanien und Portugal immer mehr ökonomische Probleme haben? Oder wollen wir wieder im Sinne des Heimatbegriffes, mit dem wir das Gespräch begonnen haben, dort Lebensräume schaffen, wo sich die Menschen einfach wohlfühlen. Wenn wir das wollen, dann müssten wir wahrscheinlich ganz anders darüber nachdenken, wie wir wieder Infrastruktur aufs Land bekommen, was eben nicht nur nach Effizienzkriterien funktioniert.

Der Vorschlag der Briten dagegen war, die Freizügigkeit einzuschränken.

Ja, gutes Beispiel, weswegen die jungen Briten jetzt alle fluchtartig London verlassen und jeder kluge Brite, den ich kenne, gerade um einen irischen oder deutschen Pass nachsucht. Die Briten werden sich noch über diesen Brain Drain wundern, und ansonsten verlieren sie zehn Prozent BIP nach den jüngsten britischen Schätzungen. Es gibt einen guten Yogaspruch: „Wer sich schützen will, muss sich öffnen.“ Wer sich immer mehr einmauert, landet einfach immer mehr im Gefängnis.

Ihr Beispiel bezieht sich auf eine mobile Elite. Was ist mit dem Rest der Bevölkerung, die sich nicht bewegt, sondern teils reaktionär auf die politischen Veränderungen reagiert?

Stimmt ja gar nicht. Wenn Sie das in soziologischen Strata bemessen wollen, dann ist die Gesellschaft oben und unten mobil. Es ist die Mitte der Gesellschaft, die noch nicht richtig mobil ist. Aber die Wanderarbeiter, egal ob das die Polen in London sind oder die Bulgaren hier, die unteren 20 Prozent sind sehr mobil. Sie sind nur meistens rechtlos. Ein Markt, eine Währung, eine Demokratie hieße die Gleichstellung der Bürger auch im Hinblick auf Soziales und auf Steuern. Und dann wäre die Wahl der Heimat davon unabhängig. Das würde die sozioökonomischen Spannungen herausnehmen, die wir uns in der Eurokrise eingehandelt haben.

Wir können natürlich auch sagen, wir wollen das alles nicht, wir setzen, wie u.a. Horst Seehofer das nun fordert, Schengen außer Kraft. Nur: Auch Grenzen zu schließen hat einen Preis. Zu glauben, wir halten den Markt und die Währung, aber wir machen die Grenzen zu, und es gibt immer noch ein demokratisches, politisches Europa, das ist falsch. Wenn andere den Preis für die Schließung zahlen wollen – da zahle ich lieber den Preis der Offenheit.