Warum ist für die Länder des Globalen Südens internationale Steuergerechtigkeit so wichtig?

Viele Entwicklungsländer verfügen bislang nicht über die notwendigen Mittel, um ihren Bürgerinnen und Bürgern eine ausreichende Versorgung zu garantieren, beispielsweise im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Ihre Steuereinnahmen reichen dafür nicht aus. Die Frage, wie Entwicklung finanziert werden soll, ist für sie daher von vitaler Bedeutung. Ihre Chancen auf wirtschaftliche Unabhängigkeit hängen davon ab. Durch Steuerhinterziehung und –vermeidung von transnationalen Konzernen und durch die Verlagerung von Unternehmensgewinnen in Steuerparadiese entgehen diesen Staaten jährlich etwa 100 Milliarden US-Dollar. Mit diesem Betrag ließe sich beispielsweise der Unterricht von 124 Millionen Kindern sicherstellen, die aktuell keine Schule besuchen. Daher setzen sich die Länder des Globalen Südens für Steuergerechtigkeit auf internationaler Ebene ein: Sie wollen ihre Einnahmen steigern und mehr Gerechtigkeit schaffen.

Wie müsste die im Rahmen der Vereinten Nationen (UN) zu schaffende zwischenstaatliche Steuerbehörde aussehen, um diese Ziele erfüllen zu können?

Derzeit beobachten wir einen Wettlauf nach unten bei der Besteuerung von transnationalen Konzernen und reichen Einzelpersonen. Das muss gebremst werden. Bei der Neudefinition der internationalen Steuervorschriften aber bestehen deutliche Interessensunterschiede zwischen den Ländern des Nordens und des Südens. Daher braucht es eine Behörde im Rahmen der Vereinten Nationen, die für einen Ausgleich der Interessen sorgen kann und die demokratische Entscheidungsprozesse ermöglicht. Nur so lässt sich größere Steuergerechtigkeit und eine gleichberechtigte Beteiligung aller Länder erreichen. Die Initiative gegen Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (BEPS) ist ein Fortschritt, aber es bleibt doch nur eine Initiative der G20 und der OECD. Zentrale Anliegen der Länder des Südens wurden nicht aufgegriffen, so etwa das Thema der steuerlichen Anreize für Unternehmen.

Der Privatsektor der Industriestaaten profitiert davon, wenn die Länder des Südens untereinander darum konkurrieren, ausländische Direktinvestitionen einzuwerben.

Die Unterstützung des eigenen Privatsektors gehört in den Industriestaaten zu den Aufgaben des Außenministeriums. Und dieser Privatsektor profitiert davon, wenn die Länder des Südens untereinander darum konkurrieren, ausländische Direktinvestitionen einzuwerben, und darum ihre Steuersätze senken. Wegen dieser gegensätzlichen Interessen in Nord und Süd wurden die Steueranreize bei der BEPS-Initiative ausgelassen. Ähnlich verhält es sich mit der Frage der Steuerpflicht – soll sie für für den Firmensitz oder für den Produktionsstandort gelten? Die Länder des Nordens sind natürlich daran interessiert, dass die Unternehmen dort zahlen, wo die Firmenzentrale sitzt. Den Ländern des Südens dagegen ist daran gelegen, dass die Unternehmen ihre Steuern am Produktionsstandort entrichten, da viele Unternehmen ihre Produktion in Entwicklungsländer verlagert haben. Angesichts solcher gegensätzlicher Interessen sollte sich die multilaterale Behörde durch die demokratische Beteiligung aller Länder auszeichnen und bei strittigen Fragen auf einen Konsens hinwirken.

Wie realistisch ist die Schaffung einer solchen zwischenstaatlichen Steuerbehörde derzeit angesichts der Kräfteverhältnisse auf internationaler Ebene?

Die derzeitigen Kräfteverhältnisse lassen die Einrichtung einer zwischenstaatlichen Steuerbehörde einerseits unwahrscheinlich erscheinen. Und doch: Noch nie war der Zeitpunkt so günstig, um auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Die Relevanz des Themas wird inzwischen auf internationaler Ebene anerkannt. Auf der 3. Internationalen Konferenz zu Entwicklungsfinanzierung im Juli ist es gelungen, die Notwendigkeit einer Reform des internationalen Steuersystems und die Gründung einer Behörde, die diese Reform vorantreiben könnte, auf die Tagesordnung zu setzen. Letzten Endes wurde das Projekt von den Vereinigten Staaten und Großbritannien ausgebremst. Aber die Enthüllung gängiger Praktiken im Rahmen der Panama Papers, der Swiss Leaks oder der Lux Leaks hat die öffentliche Debatte befeuert. Die Bürgerinnen und Bürger verlangen Rechenschaft von ihren Regierungen. Durch den ecuadorianischen Vorsitz der G-77 hat sich zudem ein Zeitfenster geöffnet, um konkrete Fortschritte in dieser Frage zu erzielen.

Wie steht es um die Debatte um größere Steuergerechtigkeit und ein abgestimmtes Vorgehen in Lateinamerika selbst?

In Lateinamerika gewinnt das Thema einer gerechten Besteuerung transnationaler Konzerne zunehmend an Bedeutung. Das gilt gerade auch für solche Länder, deren Einnahmen wie etwa in Peru oder Mexiko sehr stark von nicht erneuerbaren Ressourcen abhängen. Wegen des Einbruchs der Weltmarktpreise sinken diese Einnahmen derzeit. Das zwingt die Regierungen dazu, ihre nationale Steuerpolitik neu zu definieren. Gleichzeitig befinden sich die Länder Lateinamerikas in einem Wettbewerb untereinander, um ausländische Direktinvestitionen einzuwerben. Diesem Wettbewerb Grenzen zu setzen ist entscheidend, wenn die Länder der Region ihre Handlungsfähigkeit steigern und die Rechte ihrer Bürger gewährleisten wollen. Nach Berechnungen der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC) beläuft sich zur Zeit die Steuerhinterziehung bei Körperschafts-, Einkommens- und Mehrwertsteuer auf 6 Prozent des südamerikanischen BIP. Von diesen 6 Prozent entfallen 4 Prozent auf die Körperschafts- und Einkommenssteuer. Daher ist die Bearbeitung des Themas auf regionaler Ebene so wichtig.

Die Enthüllung gängiger Praktiken im Rahmen der Panama Papers, der Swiss Leaks oder der Lux Leaks hat die öffentliche Debatte befeuert.

Die im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in der Region erzielten Fortschritte, beispielsweise bei der Bekämpfung der Armut, sind in Gefahr. Daher gehört die Frage der Steuergerechtigkeit und des Steuerwettbewerbs auf die Tagesordnung aller Institutionen in Lateinamerika. In anderen Regionen gibt es bereits interessante Initiativen in diesem Bereich. So wurden beispielsweise im Rahmen der Ostafrikanischen Gemeinschaft (EAC) Vereinbarungen getroffen, um die Steuerpolitik der Mitgliedsländer zu harmonisieren. Ziel ist es hier, Verzerrungen abzubauen, die das Steueraufkommen beeinträchtigen. So haben sich die Mitgliedsländer der EAC auf einen einheitlichen Mindestsatz von 30 Prozent bei der Körperschaftssteuer geeinigt. Ohne eine regionale und internationale Koordination, zum Beispiel bei den Vereinten Nationen, könnten die Maßnahmen der Trump-Regierung Verweigerung der Unterzeichnung des multilateralen OECD-Abkommens von Paris, Verzögerung der Umsetzung des Dodd-Frank-Gesetzes, Senkung des Körperschaftssteuersatzes von 35 Prozent auf 15 Prozent einen Dominoeffekt auslösen. In anderen Worten, wir müssen uns einigen, um dem Wettrennen nach unten bei der Konzernbesteuerung entgegenzuwirken. 

Die Fragen stellte Claudia Detsch.