Wir leben in einer Zeit der negativen Renaissance, einer Zeit der Wiedergeburt von alten Wahnideen und Idiotien. Man liest nachdenklich den Satz, den Franz Grillparzer 1849 geschrieben hat: „Von der Humanität durch Nationalität zur Bestialität“. Und man ahnt und weiß, dass die Humanität wieder bedroht ist, massiv wie schon Jahrzehnte nicht mehr. Sie ist bedroht von gemeiner Rede und gemeiner Tat, von der Lust an politischer Grobheit, Flegelei und Unverschämtheit, von der Verhöhnung des Anstands und der Diplomatie, sie ist bedroht von einer oft sehr rabiaten Missachtung des Respekts und der Achtung, die jedem Menschen zustehen, dem einheimischen Arbeitslosen, dem Flüchtling wie dem politischen Gegner.
In den Gesellschaften vieler Länder, in Europa wie in den USA, werden aggressive, verachtende nationalistische und dummdreiste Reden geführt; in vielen Staaten haben Parteien Zulauf, die mit solchen Tönen werben. Warum haben sie Erfolg damit? Weil diese Töne vom Auditorium auch als Protest gegen grassierende Missstände und als Indiz für Tatkraft gewertet werden, weil das Vertrauen in die herrschende Politik ge- und verschwunden ist. Die Sehnsucht nach einer Politik, die Hoffnung macht auf eine gute Zukunft, auf Arbeit, Sicherheit und Heimat in einer globalisierten Welt, darauf also, dass die persönliche „future great again“ wird –diese Hoffnung wird von der klassischen Politik zu wenig befriedigt. Weil es dort keine große Zukunftspolitik gibt, halten sich viele Wähler an sogenannte Populisten, an Großversprecher also, an solche, die Amerika, Großbritannien, Frankreich, Ungarn, Polen oder Österreich „great again“ machen wollen.
Es ist ein Elend, dass in Europa der Nationalismus gegen die EU in Stellung gebracht wird, dass man sich groß machen will, in dem man sich wieder klein macht.
Es ist ein Elend, dass in Europa der Nationalismus gegen die EU in Stellung gebracht wird, dass man sich groß machen will, indem man sich wieder klein macht. Natürlich hat das EU-Europa Fehler gemacht, natürlich hat es zu viel mit der neoliberal-kapitalistischen Politik geschmust; das EU-Europa hat zu wenig getan gegen das Wegbrechen der sozialen Sicherheit, gegen die wachsende Spaltung der Gesellschaft. Aber diese Fehler beschreiben nicht das Projekt Europa, sie beschreiben die Irrwege und Abgründe. Trotz alledem: Europa ist etwas anderes als die Summe seiner Fehler.
Das Europa, das aus dieser Union werden kann, es wäre, es ist der letzte Sinn einer unendlich verworrenen europäischen Geschichte. „EU“ ist das Kürzel für das goldene Zeitalter der europäischen Historie. Man schreibt das so hin, weil es wahr ist; man sagt das so, weil es einfach stimmt – aber man erschrickt beim Schreiben und beim Reden und beim Lesen, weil dieser Lobpreis so überhaupt nicht zur allgemeinen Stimmung passt, weil er übertönt wird vom Lamento furioso der Europaskeptiker, der Europagegner und Europahasser. Europa ist, nicht erst seit dem Brexit, aber seitdem noch mehr, zu einem geschundenen Wort geworden, zu einem Synonym für Krise. Es herrscht viel Tristesse in Europa und zu wenig Begeisterung. Auch viele von denen, die Europa lieben, hatten und haben es sich angewöhnt, über die Bürokratie von Brüssel zu klagen, über die Demokratiedefizite, über den Wirrwarr der Richtlinien, über die Flüchtlingspolitik, über den Euro und die Rettungsschirme.
Europa liegt wie in den Wehen. Wenn wir Glück haben, dann sind die Turbulenzen, die wir jetzt erleben, die Geburtswehen eines neuen Staates.
Alle Klagen sind berechtigt. Aber: Wir haben verlernt, das Wunder zu sehen – die offenen Grenzen, die gemeinsame Währung, das gemeinsame europäische Gericht, die gemeinsamen Gesetze. Wir haben immer weniger das gesehen, was gut ist, wir haben immer mehr nur noch das gesehen, was schlecht läuft. Es ist schwer, das europäische Große im politischen Alltag zu spüren. Europa liegt wie in den Wehen. Wenn wir Glück haben, sehr viel Glück, dann sind die Turbulenzen, die wir jetzt erleben, die Geburtswehen einer neuen Entität, eines neuen Staates. Dieses Europa muss Heimat werden für die Menschen. Es braucht dafür eine Transnationalisierung der Demokratie – und es braucht eine Transnationalisierung der sozialstaatlichen Grundgarantien. Demokratie und Sozialstaat gehören zusammen.
Der europäische Staat kommt nicht aus dem Nichts, er ist keine Creatio ex nihilo. Er ist der Höhepunkt der europäischen Geschichte: „Machten wir eine Bilanz unseres geistigen Besitzes auf, so würde sich herausstellen, dass das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt. Vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut“ – so hat das der spanische Philosoph José Ortega y Gasset beschrieben. Es gilt, aus dem Fundus ein Fundament zu machen.
Unsere innere Habe – was ist das? Wie wird sie greifbar? Mein Europa sind drei Möbelstücke. Sie sind sehr alt, sie gehören mir nicht, sie stehen nicht in meiner Wohnung. Es handelt sich um eine lange Bank, um einen grünen Tisch und um ein Konfekttischchen. Alle drei kann man im Alten Rathaus zu Regensburg besichtigen. Dieses Rathaus ist nicht irgendein altes Rathaus, es ist ein europäischer Ort. Hier wurden europäische Grenzen gezogen, hier wurde, als die Türken vor Wien standen, beraten, wie man der Gefahr Herr wird. Hier nämlich tagte eineinhalb Jahrhunderte lang, von 1663 bis 1806, der Immerwährende Reichstag. Der Immerwährende Reichstag war ein Kongress der Gesandten der Kurfürsten, der Fürsten und der Reichsstädte des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, zu dem in seinen großen Zeiten das gesamte Gebiet des heutigen Mitteleuropa gehörte.
Die lange Bank, der grüne Tisch und das Konfekttischchen sind übrig geblieben aus der Zeit, als Regensburg das Zentrum von Kerneuropa war: Der Immerwährende Reichstag hat versucht, die Vielzahl der großen, kleinen und ganz kleinen Herrschaften des Alten Reiches zu koordinieren. Bis ein Gesetz verabschiedet war, musste man sich von Nassau-Usingen bis Kriechingen, von Köln bis Bopfingen unterreden; aber erst die Signatur des Kaisers in Wien verschaffte den Conclusa Geltung. Das Prozedere war umständlich, es war schwerfällig, es war föderal und partizipativ, es war europäisch à la Brüssel; und es nahm die Langsamkeit und die Mühseligkeit demokratischer Prozesse schon irgendwie vorweg. Die drei Möbelstücke sind im Guten und Schlechten europäische Symbole. Der „grüne Tisch“ war das Tableau von Entscheidungen, die fern der Realität waren. Auf der „langen Bank“ saßen nicht nur die Gesandten; dort wurden auch die unerledigten Akten gelagert, die so lange weitergeschoben wurden, bis sie am anderen Ende herunterfielen. Und schließlich das Konfekttischlein: Dort durften sich die Gesandten und ihr Personal bedienen. Das alles hat etwas sympathisch Bescheidenes. Dieses Alt- und Kerneuropa protzte nicht. Und der alte Reichstagssaal ist so klein, wie das alte Reich groß war. Er ist meine Heimat Europa.
Das europäische Haus ist keine Reihenhaussiedlung mit parzellierten Gärtlein.
Wenn die Nationalismen in ganz Europa wieder Raum gewinnen – dann wird Europa zurückgeschoben in eine ungute Vergangenheit, in eine Viel- und Kleinstaaterei, in ein Nebeneinander und Gegeneinander. Indes: Das europäische Haus ist keine Reihenhaussiedlung mit parzellierten Gärtlein. Es ist ein großes Haus mit vielen Räumen, vielen Türen, vielen Kulturen und vielen Arten von Menschen. Dieses Haus bewahrt die europäische Vielfalt und den Reichtum, der sich aus dieser Vielfalt ergibt. 2019 ist die nächste Europawahl, die neunte Direktwahl zum Europäischen Parlament.
Die Europäer werden für ein junges, ein sich reformierendes Europa kämpfen müssen wie nie, weil spätestens diese Europawahl die Antwort geben muss auf die neuen Nationalismen und die neuen Populismen. Die junge europäische Generation, die Generation Erasmus, wird sich ihr Europa nicht von den alten nationalistischen Säcken verbauen lassen.