Als Muhammad Jabir am 11. September 2012 vom Brand in der Ali-Enterprises-Fabrik im pakistanischen Karatschi erfährt, eilt er so schnell er kann, um nach seinem Sohn zu sehen, der dort als Maschinenführer arbeitet. Der Vater kommt zu spät. Sein Sohn und 259 weitere Menschen sterben bei dem Brand in der Fabrik, mehr als 30 werden verletzt. Nach acht Monaten der Trauer gründet Muhammad Jabir gemeinsam mit anderen Hinterbliebenen die Betroffeneninitiative „Ali Enterprises Factory Fire Affectees Association“. Innerhalb eines Jahres schließen sich mehr als 200 Überlebende und Angehörige verstorbener Arbeiterinnen und Arbeiter zusammen, um gemeinsam sowohl für eine angemessene Entschädigung als auch für dauerhaft bessere Arbeits- und Sicherheitsbedingungen in Textilfabriken zu kämpfen.  

Der deutsche Textilhändler KiK ließ in der abgebrannten Fabrik Jeans nähen und war – nach eigenen Angaben – Hauptkunde des pakistanischen Unternehmens. Am 13. März 2015 reichten Muhammad Jabir und drei weitere Vertreter der Affectees Association beim Landgericht Dortmund eine Zivilklage gegen KiK ein. Die Betroffenen fordern von KiK Schmerzensgeld in symbolischer Höhe. Am 29. August 2016 stellte das Gericht seine Zuständigkeit fest und gewährte den Klägern Prozesskostenhilfe. Das Gericht muss nun über die Begründetheit der Klage entscheiden. Es muss darüber entscheiden, ob KiK für die mangelnden Sicherheits- und Feuerschutzmaßnahmen in der Fabrik in Pakistan haftet. KiK trug zur Verteidigung vor: „Wenn man bei einem Bäcker Kunde ist und dort ein Brötchen kauft, ist man auch nicht mitschuldig, wenn einen Tag später die Bäckerei abbrennt.“ Das Gericht erkannte jedoch in seiner Entscheidung an, dass der Fall komplexer ist, als KiK mit seinem simplen Vergleich suggeriert und gab ein Sachverständigengutachten zur Frage der Haftung in Auftrag.

KiK kaufte nicht gelegentlich Kleidung in der pakistanischen Fabrik, sondern platzierte laufend Aufträge bei Ali Enterprises.

Ausweislich seiner internen Auditberichte kaufte KiK nicht gelegentlich Kleidung in der pakistanischen Fabrik, sondern platzierte laufend Aufträge bei Ali Enterprises. Die Bestellungen wurden zum wesentlichen Bestandteil des Kerngeschäfts. Seit 2007 produzierte die Fabrik zu mindestens 65 bis 75 Prozent für KiK. Ein Verhaltenskodex, den die Eigentümer von Ali Enterprises unterzeichneten, regelte Einzelheiten der Produktion. Dieser Verhaltenskodex enthält Regeln zum Brandschutz und sieht vor, dass bei Verletzung seiner Bestimmungen die Geschäftsbeziehungen beendet werden können. Als Ursache des Fabrikbrands vermuten pakistanische Behörden mittlerweile Brandstiftung im Zusammenhang mit Schutzgelderspressung. Das Gericht in Karachi urteilte jedoch, dass dies nicht bedeute, dass die Fabrikeigentümer nicht für den mangelnden Feuerschutz verantwortlich seien.

Die Frage der Verantwortung entlang der Lieferkette nun gerichtlich klären zu lassen, ist logische Konsequenz von drei rechtlichen Entwicklungen.

Zunächst entspricht eine Haftung entlang der Lieferkette dem Trend im Haftungsrecht, die Verantwortung der Konzernmutter für Tochterunternehmen anzuerkennen. Des Weiteren trägt es dem im europäischen Kartellrecht entwickelten Konzept der „wirtschaftlichen Einheit“ Rechnung. Auf dessen Grundlage können Unternehmen für das Verhalten ihrer Geschäftsbeziehungen haften, wenn sie ein „einziges Unternehmen bilden“. Und schließlich ebnen multilaterale Erklärungen den Weg zur Anerkennung der Verantwortung von Wirtschaftsunternehmen entlang ihrer Lieferketten. Die wichtigsten sind die OECD-Leitlinien für multinationale Unternehmen (2011) und die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte der Vereinten Nationen (2011). Die Pflicht, eine sogenannte „Due diligence“-Prüfung durchzuführen, um mögliche schädliche Auswirkungen ihrer Tätigkeit „zu erkennen, zu vermeiden und zu mildern“, gilt auch für Unternehmen entlang der Lieferkette.

Die dänische Nationale Kontaktstelle (NKS) der OECD bestätigte diese Pflicht nach einer Beschwerde gegen einen dänischen Textilhändler, der in einer Fabrik in dem eingestürzten Fabrikgebäude Rana Plaza in Dhaka (Bangladesch) eingekauft hatte. Diese Sorgfaltspflicht ist, laut dänischer NKS, umso wichtiger, wenn wie in Bangladesch die Arbeitsbedingungen bekanntermaßen schlecht sind. Die NKS urteilte, dass der Händler sich nicht ausschließlich auf Zertifikate von Organisationen wie WRAP verlassen darf, da diese nicht ausreichten, um bestehende und mögliche negative Auswirkungen der eigenen Aktivitäten zu vermeiden. Die NKS betonte zudem, dass gängige Industriepraxis die erforderliche Sorgfaltspflicht nicht abschließend bestimmen kann.

Kurz nach der bedeutenden Entscheidung des Landgerichts Dortmund kam es in hiervon unabhängigen Verhandlungen zu einer Einigung der Betroffenen mit KiK. Das Unternehmen verpflichtete sich 5,15 Million US-Dollar an die Überlebenden und Hinterbliebenen des Brandes in der Ali-Enterprises-Fabrik zu zahlen. Die Vereinbarung wurde am 9. September 2016 in Genf unterzeichnet und war das Ergebnis von Verhandlungen, die die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) mit KiK, der Gewerkschaft IndustriALL Global Union und der Kampagne für Saubere Kleidung auf Anregung der Regierungen in Deutschland und Pakistan initiierte. Die Kläger im Dortmunder Verfahren begrüßen die zugesagte Entschädigung für den Verlust der Unterhaltsmittel aller Überlebenden und Hinterbliebenen.

Es besteht die Hoffnung, dass das Gerichtsverfahren zu besseren Arbeitsbedingungen beitragen wird.

Trotz dieses Erfolgs geht der Rechtsstreit gegen KiK in Deutschland weiter. Die von KiK versprochene Entschädigung ist freiwillig. Eine Abhängigkeit vom Wohlwollen des Unternehmens bietet jedoch künftig weiterhin keine Sicherheit für die Arbeiternehmer. Die Kläger haben als Mitglieder der Affectees Association stets mehr als nur finanzielle Entschädigung verlangt: Sie wollen eine Entschuldigung und Gerechtigkeit. Es besteht die Hoffnung, dass das Gerichtsverfahren zu besseren Arbeitsbedingungen beitragen wird. Wo Freiwilligkeit versagt, kann das Anerkennen der Haftung von Unternehmen für Schäden entlang der Lieferkette den erforderlichen Anreiz schaffen, um sicherzustellen, dass Sicherheitsmaßnahmen getroffen und umgesetzt werden. Saeeda Khatoon, die wie Muhammad Jabir ihren Sohn bei dem Fabrikbrand verlor und nun Vizepräsidentin der Affectees Association ist, stellt deswegen klar: „Ich werde diesen Kampf bis zu meinem letzten Atemzug nicht aufgeben.”