Was können und sollen Regierungen und Unternehmen tun, damit die Freiheiten der Globalisierung nicht für menschenrechtsverletzende Profitmaximierung missbraucht werden? Diese Kernfrage globaler Gerechtigkeit haben Staatenvertreter, Gewerkschaftsvertreter und Arbeitgeber auf der Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) im Jahr 2016 diskutiert. Trotz unterschiedlicher Sichtweisen und Interessen von Arbeitgebern und Gewerkschaften sowie Industrie- und Entwicklungsländern hat sich die ILO auf gemeinsame Schlussfolgerungen geeinigt, die die Durchsetzung menschenrechtlicher und sozialer Mindeststandards in globalen Lieferketten zum Ziel haben.

Laut ILO-Schlussfolgerungen haben globale Lieferketten in verschiedenen Sektoren zwar zu Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsentwicklung beigetragen, gleichzeitig bestehen jedoch weiterhin erhebliche Defizite in Bezug auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Atypische und informelle Beschäftigungsverhältnisse sind weit verbreitet und Fehler auf allen Ebenen in globalen Lieferketten haben dazu beigetragen, Arbeitnehmerrechte zu untergraben, insbesondere der Rechte auf Vereinigungsfreiheit und Kollektivverhandlungen.

Besonders strittig unter den 187 ILO-Mitgliedstaaten und den Sozialpartnern war die Frage der Governance: Nach zunächst starker Blockade der Arbeitgeberseite einigte man sich auf die Feststellung, dass die grenzüberschreitende Natur globaler Lieferketten zu Steuerungsdefiziten (governance gaps) geführt hat, die es zu schließen gilt. Unter Bezugnahme auf die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte werden konkrete Handlungsaufforderungen an die Mitgliedstaaten, die Sozialpartner und das Internationale Arbeitsamt (das „Sekretariat“ der ILO) formuliert.

Regierungen sollten die öffentliche Beschaffung nutzen, um die Umsetzung der Kernarbeitsnormen in globalen Lieferketten zu fördern sowie gegebenenfalls staatlich kontrollierte Unternehmen zur Umsetzung der menschenrechtlichen Sorgfalt verpflichten. Gegenüber privaten Unternehmen sollten klare Anforderungen an die gebotene verantwortungsvolle Geschäftsführung formuliert werden, bei fehlender Umsetzung könnten regulatorische Maßnahmen in Betracht gezogen werden.

Unternehmen sind der ILO zufolge für die Achtung der Menschen- und Arbeitnehmerrechte in ihren Lieferketten verantwortlich und sollten menschenrechtliche Sorgfaltsprüfungen durchführen sowie Beschwerdesysteme nach den Kriterien der UN-Leitprinzipien einrichten. Gemeinsam mit Arbeitnehmerorganisationen sollten sie die Umsetzung menschenwürdiger Arbeit in globalen Lieferketten vorantreiben.

Diese Prozesse soll das Internationale Arbeitsamt in Genf nun durch ein Maßnahmenpaket unterstützen, dass der Verwaltungsrat im November 2016 verabschiedet hat.

Das neue ILO-Programm zu Lieferketten

Das Aktionsprogramm der ILO für 2017 bis 2021 sieht Maßnahmen in fünf Bereichen vor:

  1. Schaffen einer robusten Wissensgrundlage für wirksame Maßnahmen zur Förderung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen in globalen Lieferketten
  2. Stärkung der Sozialpartner
  3. Advocacy-Arbeit
  4. Technische Unterstützung der Mitgliedstaaten und
  5. Zusammenarbeit mit anderen internationalen Akteuren zur Entwicklung kohärenter Politikansätze

In den Jahren 2017 bis 2019 werden ILO-Fachtagungen einzelne Aspekte des Programms weiter konkretisieren und dabei auch die Möglichkeit und Notwendigkeit eines speziellen ILO-Standards diskutieren. Ein aktueller Schritt ist die für März 2017 zu erwartende Neufassung der Dreigliedrigen Erklärung über Multinationale Unternehmen und Sozialpolitik (MNE Declaration), welche die Frage der Verantwortung von multinationalen Unternehmen für ihre Lieferketten neu behandeln wird.

Umsetzung menschenrechtlicher Sorgfaltspflicht

Für die nähere Zukunft schließt die ILO mit der für 2018 geplanten Fachtagung zum Thema grenzüberschreitender sozialer Dialog zudem an maßgebliche internationale Prozesse im Bereich Wirtschaft und Menschenrechte an und verbindet den Begriff der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht mit ihrer Kernkompetenz: dem sozialen Dialog. Aus Sicht der ILO sind Vereinigungsfreiheit und Tarifverhandlungen Mittel und Zweck zugleich. Sie sind eigenständige Menschenrechte und gleichzeitig eine unersetzbare Methode, um die allgemeine menschenrechtliche Sorgfaltspflicht am Arbeitsplatz durchzusetzen.

Der Begriff der Sorgfaltspflicht („due diligence“) stammt aus der Managementkultur, wo er etwa die nötige Sorgfalt bei der Übernahme anderer Unternehmen bezeichnet. Die UN-Leitprinzipien stellen klar, dass es sich bei „human rights due diligence“ um Risiken für die Gesellschaft und nicht für das Unternehmen handelt. Weniger eindeutig ist jedoch, durch welche konkreten Schritte und Prozesse Unternehmen mit diesen menschenrechtlichen Risiken umgehen sollen. Zur Erfüllung ihrer menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht sollen Unternehmen den Leitprinzipien zufolge unter anderem ihre potenziellen und bereits eingetretenen negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte identifizieren (identify), ihnen vorbeugen (prevent) und Abhilfe schaffen (mitigate) sowie über ihren Umgang mit denselben Rechenschaft ablegen (account). Doch welchen Kriterien sollten die Mechanismen zur Identifizierung und Überprüfung entsprechen? Was bedeutet das Vorbeugen von Risiken für die Unternehmenspraxis? Und woran sollten sich die Maßnahmen zum Schaffen von Abhilfe orientieren?

Die von der OECD bereits entwickelten und geplanten Richtlinien zur gebotenen Sorgfalt legen wichtige Grundlagen für die Definition der konkret erforderlichen Maßnahmen auf Seiten der Unternehmen. Während sich diese jedoch generell auf die von den OECD-Leitlinien umfassten Aspekte beziehen, ist zu erwarten, dass die ILO im Jahr 2018 die speziellen Anforderungen an die Sorgfaltspflicht zu den Menschenrechten am Arbeitsplatz behandeln wird.

Aus dem Versagen der Freiwilligkeit folgt die Notwendigkeit verbindlicher Regulierung

Um nachhaltig Veränderungen zu erreichen, muss das Risiko, Menschenrechte zu verletzen gleichzeitig durch durchsetzbare rechtliche Konsequenzen zu einem Risiko für den Unternehmenserfolg werden. Dass der Markt allein diese Anreize nicht schaffen kann, haben die letzten Jahrzehnte freiwilliger Unternehmensverantwortung (CSR) gezeigt. Eine von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene Studie aus dem Jahr 2013 kommt zu dem Ergebnis, dass es keinerlei Hinweise für eine nachhaltige Wirkung von CSR gibt und empfiehlt, CSR dem Mülleimer der Geschichte zu überlassen „dustbin of history“. Auch die freiwillige OECD-Richtlinie zur Sorgfaltspflicht in der Lieferkette mineralischer Rohstoffe aus Konflikt- und Hochrisikogebieten wird bisher nur von jenen europäischen Unternehmen umgesetzt, die aufgrund ihrer Geschäftstätigkeit in den USA und den dort geltenden „Dodd-Frank Act“ zur Sorgfalt verpflichtet sind.

Es braucht also neben klaren Vorgaben für die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht verbindliche Regulierung. So fordert die ILO in ihren Schlussfolgerungen die Regierungen auf, im Falle unzureichender freiwilliger Umsetzung unter anderem regulatorische Maßnahmen in Betracht zu ziehen.

Wie solche Anreiz- und Regelungssysteme ausgestaltet werden können, ist Gegenstand vielfältiger Debatten. Der vor kurzem vom französischen Parlament verabschiedete und aktuell dem Senat vorliegende Gesetzesentwurf etwa sieht vor, dass Unternehmen ab einer bestimmten Größe gemeinsam mit ihren Stakeholdern einen Umsetzungsplan zur Erfüllung der gebotenen menschenrechtlichen Sorgfalt entwickeln müssen. Dieser muss unter anderem ein gemeinsam mit Gewerkschaften entwickeltes Alarmsystem enthalten – das Fehlen eines solchen Planes kann beim Eintreten von Menschenrechtsverletzungen mit Strafzahlungen bis zu 30 Millionen Euro sanktioniert werden.

Denkbar wäre auch eine Haftungsregelung im Falle von Falschangaben zur Einhaltung von Menschenrechten entlang der Lieferkette, um Anreize für effektive Überprüfungs- und Alarmierungssysteme zu schaffen. Weitergehende Maßnahmen könnten die staatliche Außenwirtschaftsförderung an die Einhaltung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht knüpfen oder Haftungsregelungen im Schadensfall mit Beweislastumkehr zugunsten der Opfer umfassen.

Wir müssen anerkennen, dass der richtige Weg ein Findungsprozess ist. Doch bietet dieser die Chance für neue Ansätze, die Stimme und Vertretungsrechte der Beschäftigten, effektive Anreizsysteme für Unternehmen und gesetzliche Regelungen kombinieren. Dabei kann und sollte die ILO als die einzige dreigliedrige UN-Organisation eine maßgebliche Rolle spielen.