Kann man über die Tunnel zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten, die z.B. schon Gegenstand der aufwühlenden Comic-Reportagen von Joe Sacco waren (Palästina und Gaza), einen humoristisch gefärbten Comic im Stil von Tim und Struppi machen? Man kann das durchaus, beweist Rutu Modan in ihrem gerade erschienenen Buch. Die Comic-Künstlerin Modan, 1966 in Tel Aviv geboren, wo sie bis heute lebt, war früher Mitherausgeberin der israelischen Ausgabe von MAD und ist heute auch Autorin von preisgekrönten Kinderbüchern sowie Mitglied des Künstlerkollektivs Actus Tragicus. 2006 erschien ihre erste, teilweise autobiographische Graphic Novel, Exit Wounds, als Blutspuren ebenso wie der Comic Das Erbe und das Kinderbuch Ketchup für die Königin auch in deutscher Sprache erhältlich.

In Tunnel nutzt Modan die schnörkel- und schattenlose „ligne claire“ und den reduzierten, cartoonartigen Naturalismus der Figuren des Großmeisters Hergé – dessen 1936 nicht verwendetes Tim und Struppi-Originaltitelbild für Der blaue Lotos jüngst für rekordverdächtige drei Millionen Euro versteigert wurde. Die sagenumwobene Bundeslade, die die Steintafeln mit den zehn Geboten enthalten soll, verwendet sie als eine Art „MacGuffin“. So nannte Alfred Hitchcock das handlungstreibende Objekt in seinen Filmen, nach dem alle streben, ohne es jemals zu fassen zu bekommen. Hier hat das Objekt der Begierde selbstverständlich eine große Bedeutung, als Symbol des Bundes Gottes mit dem Volk Israel.

Kann man über die Tunnel zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten einen humoristisch gefärbten Comic im Stil von Tim und Struppi machen?

Die zentralen Protagonisten Nili und Broshi, Tochter und Sohn eines inzwischen altersdementen Archäologen, der einst eine Spur der Bundeslade entdeckt hatte, versuchen sich bei der Suche gegenseitig auszumanövrieren. Sie sind dazu noch umgeben von einer ganzen Reihe weiterer Interessenten verschiedenster Couleur – u.a. pragmatische Kunsthändler und orthodoxe Juden – die allerlei Ränke schmieden. So entsteht eine dynamisch erzählte Abenteuergeschichte, und es werden damit auch Erinnerungen an den legendären ersten Indiana Jones-Film Jäger des verlorenen Schatzes von Steven Spielberg wach, in dem sich ebenfalls konkurrierende Archäologen und andere Akteure um die Bundeslade streiten.

Anders als im Film, wo es für den Ausgang der Geschichte keine Rolle spielt, was die zentralen Protagonisten so anstellen (wie Amy in The Big Bang Theory den ungläubigen Hardcore-Fans des Films beweist), kommt es im Comic durchaus auf die Entschlossenheit und Intuition vor allem von Nili an.

Neben dem titelgebenden Tunnel ist ein weiteres Symbol für den Konflikt zentral für die Geschichte: die Mauer, die den Archäologen und ihren Verbündeten und Konkurrenten den direkten Zugang zum unterirdischen Ort versperrt, an dem sie die Bundeslade vermuten. Daher brauchen sie weitere Verbündete – palästinensische Schmuggler, die mit den Tunneln eigentlich ganz anderes vorhaben. Plötzlich steht tief unter der Erde kurz die Möglichkeit von Gewalt greifbar im Raum, aber zum Glück kennt man sich aus Jugendzeiten!

Immerhin gelingt Modan, was Hergé oft genug nicht einmal versuchte: Sie vermeidet herabsetzende Stereotypen.

Sicherlich ist eine humoristische Abenteuergeschichte im Kontext des tragisch ungelösten Konflikts nicht jedermanns Sache, genauso wenig wie der ganz traditionell im Stil von Hergé an äußerlichen Eigenschaften unmittelbar erkennbare Schurke – aber immerhin gelingt Modan, was Hergé oft genug nicht einmal versuchte: Sie vermeidet herabsetzende Stereotypen. Und obwohl sie einige Hommagen an Hergés Figurenensemble einbaut und so manches slapstickhaft in Szene gesetzt wird, modernisiert sie dessen Zeichen- und Erzählstil sehr effektiv. Mit intelligenten Anspielungen und meist vielschichtigen Charakteren schafft sie eine Annäherung an ein Verständnis der komplexen israelisch-palästinensischen Realität (auch wenn in der deutschen Übersetzung bisweilen nicht klar ist, ob im Original nur Hebräisch oder auch Arabisch gesprochen wird).

Auch die alleinerziehende Nili hat, wie einst Hergés Tim, einen treuen Begleiter, doch ihr Smartphone- und Computerspiel-süchtiger Sohn füllt diese Rolle ganz anders aus. Eine effektive erzählerische Wendung wird ganz plötzlich durch die Thematisierung von Homosexualität erzeugt. Und auch die schwierigen Debatten um Kunstraub, die Spannungen zwischen orthodoxen Juden auf der einen und Staat und Militär auf der anderen Seite, die Bedrohung durch Terrorismus und andere Konflikte werden durchaus nicht übertüncht oder mit oberflächlichen Lösungsvorschlägen verharmlost. Es geht hier um humorvolle Unterhaltung, mit einem Anteil Spott für alle Beteiligten, aber Modan erzählt und zeichnet offensichtlich auf Basis einer humanistischen Haltung.