Am Samstag jähren sich die Anschläge vom 11. September zum zwanzigsten Mal. Das Gedenken wird überlagert vom überhasteten Ende der militärischen Intervention in Afghanistan und dessen humanitären Folgen in dem kriegsgebeutelten Land, das nun wieder von den Taliban regierten wird. Es ist wohl verfrüht, darin ein Symbol des Abstiegs der USA und des Westens zu sehen, denn es fällt damit ja auch eine enorme Belastung weg, für die Streitkräfte wie für die Staatshaushalte. Doch auch Präsident Biden kann nicht wegdiskutieren, dass es sich um eine Niederlage handelt, ein Scheitern. Dass Osama bin Laden getötet wurde, ist „old news“ und ob von Afghanistan wirklich keine Bedrohung für die nationalen Interessen der USA ausgeht, wird man noch sehen. Und so gibt der Jahrestag Anlass, nicht nur erneut die Bedeutung der Anschläge für die USA zu reflektieren, sondern auch die Strategie auf den Prüfstand zu stellen, mit der die USA auf sie geantwortet haben.
Die Reflektionen Juliettes kreisen um die amerikanische Innenpolitik, insbesondere den Aufbau eines Überwachungsstaats durch den „Patriot Act“.
In ihrer gerade erschienenen Graphic Novel „9/11. Ein Tag, der die Welt veränderte“ versuchen Autor Baptiste Bouthier und Zeichnerin Héloïse Chochois dies aus der Perspektive der jungen Französin Juliette darzustellen. Juliette hat die Anschläge als Teenagerin im Fernsehen verfolgt und reist nun zum ersten Mal in die USA. Dass sie das wegen der Pandemie derzeit gar nicht kann, sei dahingestellt. Immerhin werden die pandemiebedingten Einschränkungen genauso ungeschminkt gezeigt wie die seit den Anschlägen verschärften Sicherheitsbedingungen. Das Misstrauen der Beamten strengt Juliette an und dann muss sie auch noch ihre Flugscham überwinden – aber die Faszination für die USA obsiegt.
Das Autorenteam, Teil einer ganzen Gruppe von französischen Comic-Künstlern, die sich aktuell für die USA interessieren, schafft es mit dieser Inszenierung einer subjektiven Perspektive nicht nur, das Ausmaß des Schreckens, als die Türme einstürzten, greifbar werden zu lassen. Es eröffnet auch einen frischen Blick auf die notwendige weitere Verarbeitung der Geschehnisse. Denn natürlich „kennt“ die junge Französin die USA, auch wenn sie zum ersten Mal dorthin reist. Die amerikanische Macht speist sich aus Elementen von soft power, aus Symbolen wie der Freiheitsstatue, aus Filmen und Fernsehserien. Und so ist auch die Fernsehzeugin der Anschläge von den Ereignissen tief beeindruckt und betroffen. Jeder weiß, wo er an dem Tag gewesen ist, sagt sie. Juliettes Erinnerungen werden durch dramatische Sequenzen auf der Basis verschiedener Quellen und Augenzeugenberichte zu den Abläufen an 9/11 ergänzt. Die Perspektivwechsel sind dabei effektiv und bruchlos arrangiert und grafisch geschickt inszeniert, wie zum Beispiel der panische Treppenabstieg zweier Überlebender aus dem Südturm, die Minuten vor dessen Einsturz unten ankommen und sofort weiterrennen müssen.
Eine Leerstelle in dem insgesamt gelungenen Buch sind die komplexe entwicklungspolitische Diskussion und die Fragen von gesellschaftlicher Modernisierung.
Die Reflektionen Juliettes kreisen um die amerikanische Innenpolitik, insbesondere den Aufbau eines Überwachungsstaats durch den „Patriot Act“, der ihr das Dilemma der Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit vor Augen führt. Sie nimmt die wachsende Neigung vieler Amerikaner zu Verschwörungserzählungen wahr, sieht aber auch die ungebrochene Kraft der amerikanischen Zivilgesellschaft, die immer wieder zu großen Akten der Hilfsbereitschaft fähig ist. Juliettes kritische Bewertung der – jetzt gescheiterten – US-Interventionspolitik konzentriert sich vor allem auf die Invasion des Irak. Wurde der Krieg gegen Al-Qaida und die Taliban auch in Frankreich zunächst noch größtenteils als gerechtfertigt angesehen, so stieß der Angriff auf den Irak dort und bei vielen anderen Verbündeten der USA auf Skepsis, die Juliette teilt. In Deutschland wird man sich an die Zweifel des damaligen deutschen Außenministers Joschka Fischer erinnern („I am not convinced.“). Für Franzosen symbolisiert die eloquente Rede von Dominique de Villepin 2003 im VN-Sicherheitsrat die Abkehr von der uneingeschränkten Solidarität mit den USA. Diese Rede, der hier zwei Seiten eingeräumt werden, war schon Kulminationspunkt des großartigen Comics Quai D’Orsay. Hinter den Kulissen der Machtund Gegenstand von Musikvideos. Auch unter den Schulkameraden Juliettes gibt es Verschwörungserzählungen, teils von Anti-Amerikanismus geprägt. Die Jugendlichen nehmen die nicht-beabsichtigten Folgen der militärischen Interventionen wahr – insbesondere den steigenden Zulauf zu gewaltbereiten islamistischen Gruppierungen.
Eine Leerstelle in dem insgesamt gelungenen Buch sind die komplexe entwicklungspolitische Diskussion und die Fragen von gesellschaftlicher Modernisierung, „nation building“ und Demokratieförderung. Das Nachdenken darüber ist nun dringlich, auch mit Blick auf die humanitären und demokratiepolitischen Interventionen in Ländern wie Mali. In Afghanistan und im Irak wurden diese Motive lediglich nachgeschoben. Wie jetzt das Scheitern in Afghanistan zeigt, reicht auch die substantielle Unterstützung westlicher Soldaten und Organisationen am Ende nicht aus, wenn die lokalen Kräfte zu schwach sind. Dass dieses Scheitern nun für China und Russland ein Grund zum Jubeln zu sein scheint, zeigt eher deren fragwürdige Prioritäten als dass es ein Ende der amerikanischen Hegemonie einläutet.