Mit John Lewis, der am 17. Juli 2020 verstorbenen Ikone der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, verbinde ich eines meiner eindrücklichsten Leseerlebnisse und einen seltenen Erfolgsmoment während meiner Zeit als Mitarbeiter im Büro von Bernie Sanders. 1995 übernahmen die Republikaner nach vierzig Jahren erstmals wieder die Mehrheit im US-Repräsentantenhaus, und die hasserfüllte und kompromisslose Unkultur des neuen Speakers, Newt Gingrich, markierte den Beginn der gesellschaftlichen Tribalisierung, die später Donald Trump ins Weiße Haus brachte.

Für meinen Arbeitsauftrag, das politische Projekt einer stärkeren Berücksichtigung der Rechte von Beschäftigten in der US-Handelspolitik, gab es keine Mehrheiten. So war ich froh, bei einer Veranstaltung des Progressive Caucus, sozusagen dem informellen Club der linken Demokraten, dem Bernie Sanders als nominell unabhängiger Abgeordneter damals vorstand, zwei Mitarbeiter von John Lewis zu sehen, seit 1987 und bis zu seinem Tod Abgeordneter von Atlanta, Georgia. Ich wusste nämlich, dass Lewis keineswegs schon dem Progressive Caucus angehörte, wie sie zu glauben schienen. Er konnte sogleich angeworben werden.

Warum das so wichtig war, kann man u.a. dem berührenden Buch „Walking with the Wind“ von 1998 entnehmen, das ganz explizit keine auf Lewis fokussierte Autobiographie ist, sondern eine „Memoir of the Movement“. Lewis war 1961 einer der ersten „Freedom Riders“, welche die Segregation der Buslinien bekämpften, er war 1963 der jüngste Redner bei Martin Luther Kings berühmtem „March on Washington“ und 1965 ein Organisator des Marsches von Selma nach Montgomery, der Hauptstadt seines Geburtsstaates Alabama. Auf der nach einem Südstaatengeneral und Ku Klux Klan-Anführer benannten Edmund-Pettus-Brücke wurde er am „Bloody Sunday“ so von der Polizei verprügelt, dass er nur knapp mit dem Leben davonkam. Doch der ehemalige Vorsitzende des Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC – gesprochen Snick) stellte sich nicht in den Mittelpunkt. Ihm ging es um eine Bürgerrechtsbewegung, die auch soziale Belange adressiert. Als explizit linker Abgeordneter, der u.a. für eine gesetzliche Krankenversicherung warb, war er auch ein Förderer der Rechte von Schwulen und Lesben. Durch eine Mitgliedschaft im Progressive Caucus konnte Lewis also eine Brücke zum wichtigen Congressional Black Caucus bilden, der informellen Vereinigung der afro-amerikanischen Abgeordneten und Senatoren.

Der in ärmlichen Verhältnissen in Alabama geborene John Lewis war eine faszinierende und inspirierende Persönlichkeit, doch dass das allein noch nicht für ein gelungenes Buch reicht, zeigt leider die dreibändige Comic-Reihe „March“, die auf den Erinnerungen von Mit-Autor John Lewis beruht. Zeichner Nate Powell hat auch das auf Deutsch vorliegende „Das Schweigen unserer Freunde“ (mit Mark Long und Jim Demonakos) künstlerisch gestaltet. Martin Luther King hatte gesagt, dass man sich an dieses Schweigen stärker erinnere als an die Worte der Feinde. Umgekehrt könnten Veränderungen erreicht werden, wenn es überwunden wird. In der fiktionalisierten Geschichte aus Mark Longs Kindheit, angesiedelt kurz vor Kings Ermordung 1968, lassen gewalttätige Auseinandersetzungen rund um eine Bürgerrechtsdemonstration in Houston, Texas, zwei Familien die „Rassen“-Schranken überwinden. Der Fokus liegt auf den Vätern der Familien, dem weißen TV-Reporter Jack und dem schwarzen Aktivisten Larry, während die individuelle Ebene der Auseinandersetzungen zwischen anderen, insbesondere den Kindern, nur angedeutet wird. Zu kurz kommt auch die ökonomische Dimension des Konflikts. Tatsächlich ging es zum Zeitpunkt der Ermordung von MLK längst nicht mehr allein um Bürgerrechte, sondern auch um die soziale Benachteiligung Schwarzer Amerikaner, die bis heute anhält.

Auch in „March“ kann man selbstverständlich einen Eindruck von den Nöten der afro-amerikanischen Bevölkerung und den Kämpfen der Bürgerrechtler gewinnen, wie auch von der Persönlichkeit von John Lewis. Und vielleicht war der Konstruktionsfehler, ein nur dünn verschleierter Endlosmonolog, in der Biographie einer historischen Persönlichkeit auch nur schwer zu vermeiden. Aber die z.B. im ersten Band zwischen der Szenerie des Tags von Barack Obamas erster Amtseinführung und Flashbacks verschachtelte Erzählung erzeugt leider weder Dynamik noch Spannung. Die aneinandergereihten Anekdoten wollen auch nicht recht zu dem zurückhaltenden und reflektierten Eindruck passen, den man von John Lewis in „Walking with the Wind“ gewinnen konnte. Durch die erzählerischen Schwächen treten leider auch die Grenzen von Nate Powells Zeichenkunst stärker hervor, eine etwas hölzerne Eindimensionalität der Figuren und die Gleichförmigkeit der Gestaltung. Einmal musste ich zweimal hinschauen, um einen offenen Sarg zu identifizieren – ich hatte ihn zuerst für einen Grill gehalten.

Wer eine Comic-Alternative für den Einstieg in die amerikanische Bürgerrechtsbewegung und in afro-amerikanische Geschichte sucht, ist mit dem auch auf Deutsch vorliegenden grafisch und erzählerisch anspruchsvollen Band über Martin Luther King von Ho Che Anderson (Carlsen, 2008) besser beraten. Weitere Anregungen finden sich z.B. auf der Black Lives Matter Comics Reading List. Struktureller und expliziter Rassismus sind in den USA – und auch in Deutschland – traurige Realität, und die während Obamas Präsidentschaft noch erhoffte „post-racial society“ lässt weiter auf sich warten. John Lewis‘ Tod erinnert an die besten Traditionen des „amerikanischen Experiments“ und lässt nun auch wieder die Diskussion um die überfällige Umbenennung der Edmund-Pettus-Brücke in John-Lewis-Brücke wiederaufleben.