Fast 250.000 Menschen demonstrierten am 12. Oktober 2018 friedlich in Berlin für „eine offene und freie Gesellschaft“ im Angesicht des Aufstiegs autoritärer und illiberaler Parteien. Manche skandierten „Ganz Berlin hasst die AfD“, doch es war augenfällig, dass trotz der beeindruckenden Zahl der „unteilbar“-Demonstranten kein repräsentativer Schnitt durch die Berliner Bevölkerung gekommen war. Insbesondere Arbeiter und Angestellte mittleren und höheren Alters waren kaum zu sehen; es überwogen Studenten, Bildungsbürger und die vielen Angehörigen organisierter Gruppen. Und diese wie die anderen Demonstrationen unter dem Motto „Wir sind mehr“ fanden in größeren Städten statt. Wie die Briten beim Brexit, wie die Amerikaner bei der Trump-Wahl so ist auch die deutsche Bevölkerung immer stärker polarisiert. Wie sind wir da hingeraten, trotz historisch niedriger Arbeitslosigkeit, voller Staatskassen und einer weitgehend ordentlich arbeitenden Regierung? Wie weit sind wir noch von „Weimarer Verhältnissen“ entfernt, als die angeschlagene Demokratie unter den Angriffen von Extremisten von rechts und links zusammenbrach?

Eine aktuelle Comic-Veröffentlichung erinnert in eindrucksvollen, eleganten Schwarz-Weiß-Zeichnungen an das Berlin der späten 1920er und frühen 1930er Jahre, an die Zeit des Endes der Weimarer Republik. Jason Lutes hatte die Arbeit an seiner Serie, die unregelmäßig in der klassischen Comic-Heftform erschien, bereits vor 23 Jahren begonnen. Damals war nicht abzusehen, dass der nun erschienene dritte und letzte Sammelband (Berlin – Flirrende Stadt) heute eine so große Aktualität haben würde. Aus seiner „historical fiction“ in Comic-Form ist ein unbeabsichtigtes Lehrstück geworden.

Die Handlung des dritten Bandes setzt 1932 ein, als Hitler sich anschickt, den „linken“ Strasser-Flügel in der NSDAP auszuschalten, der in Berlin besonders stark war. Gleichzeitig wird die nationalsozialistische Organisation und Agitation in den kommunistisch dominierten Arbeitervierteln forciert. Viele der Protagonisten aus Lutes‘ facettenreichem Berlin-Epos sind von den Entwicklungen im Land und in ihrem Leben hin- und hergerissen. Ihre privaten Schicksale spiegeln das Scheitern der Republik. Der Weltbühne-Autor Kurt Severing, durch den wir auch am Schicksal Carl von Ossietzkys teilnehmen, schwankt angesichts des scheinbar fruchtlosen Anschreibens gegen die zunehmende politische Brutalität zwischen Resignation und dem Kampf auf Seiten der KPD. Sein Kollege Joachim Ringelnatz fordert ihn auf: „Finde zu einer Haltung“. Es gelingt ihm nicht. Gegen Ende des Buches steht er ratlos vor dem Schaufenster eines Pfandleihers, in dem eine Schreibmaschine und ein Revolver angeboten werden. Ist es Feigheit, wenn der Bildungsbürger Severing immer wieder einen Rückzieher macht, wenn es um den konkreten Kampf geht?

Die politische Zuspitzung entzweit im Berlin der frühen 1930er Jahre auch Familien, so wie es heute auch Folge der zunehmenden politischen Tribalisierung, vor allem in den USA, ist. Der Teenager Silvia arbeitet auf Seiten der Kommunisten, während ihr Vater bei der SA aktiv ist und ihre Geschwister indoktriniert. Am Ende schreckt auch sie vor Gewalt zurück, aus familiärer Rücksichtnahme. Nach dem gewaltsamen Tod ihrer Mutter kommt sie bei einer jüdischen Familie unter, deren Sohn sich im Geheimen ebenfalls für die KPD engagiert. Ein Poster an seiner Zimmerwand zeigt den Entfesselungskünstler Houdini – Chiffre für den Wunsch, dem Hass zu entkommen (und Verweis auf ein älteres Buch von Jason Lutes). In der Synagoge heißt es „Wir müssen uns im Zaum halten“, vor der Synagoge brüllen die Nazis „Das ist unser Land“. Die Polizei greift nicht ein. Am Ende verlässt die Familie das Land in Richtung USA.

Das Berlin der 1920er und 1930er war auch eine „flirrende Stadt“ („City of Light“, heißt es im Original). Lutes zeigt uns auch die Gleichzeitigkeit von Hedonismus und Libertinage (Dekadenz in den Augen vieler Zeitgenossen) und dem Chaos der Straßenkämpfe und der ökonomischen Not – die Parallelen zur feierwütigen Gegenwart sind unverkennbar. Auch Marthe, früher mit Severing und jetzt mit Anna zusammen, die sich als Mann nicht nur kleidet, sondern auch fühlt, kehrt nach Jahren des versuchten Künstlerdaseins und des Berliner Nachtlebens der Stadt den Rücken, um sich um den verhassten großbürgerlichen Vater zu kümmern. Vielleicht auch, weil Silvia sie bei einer zufälligen Begegnung als „Kapitalistenhure“ beschimpft (und ausraubt).

Eine Leerstelle im Buch ist – mit wenigen Ausnahmen, die Hitler und Goebbels und Hitler und Hindenburg zeigen – die große Politik. Dadurch gibt es bisweilen etwas irritierende Handlungssprünge, z.B. wird die entscheidende Reichstagswahl nicht thematisiert, sondern nur durch Plakate angedeutet („Wir wollen Arbeit und Brot – wählt Hitler“). Die Exekutive wird allein repräsentiert durch eine zunehmend hilflose Polizei, die Sympathien für die NSDAP erkennen lässt. Lutes, der bis zur S. 101 des dritten Bandes keine Hakenkreuze zeigt – weil er nicht wollte, dass der Leser alles vom bekannten schrecklichen Ende her liest – führt dieses plötzlich doch ein, zuerst als Graffito. Ab S. 150 fällt es dann wieder weg, was einen merkwürdig bedrohlichen Effekt hat.

Das Buch endet mit großen zweiseitigen Splash-Panels: das völlig zerstörte Berlin, das geteilte Berlin, der Fall der Mauer (hier sind plötzlich die Graffiti auf der Westseite der Mauer in Farbe), dann ein Foto des heutigen Berlins, am Potsdamer Platz. „Die Welt geht zugrunde,“ sagt Severing zu Marthe in einem früheren Band. „Das Leben geht weiter,“ antwortet sie. Im Abschlussband sind die Rollen vertauscht, jetzt kommt der (falsche?) Trost von Severing.