Es ist eine kleine literarische Sensation: Zum ersten Mal ist eine Graphic Novel für die Longlist des renommierten Man Booker-Preises nominiert worden. Selbst der New York Times war dies eine ausführliche Meldung wert - und Zeit-Online eine Frage beim „Wissenstest des Tages“. Die bereits zweimal nominierte britische Schriftstellerin Zadie Smith lobt den in Montreal erschienenen Band auf dem Klappentext als „das beste Buch über unsere gegenwärtige Zeit“ und bekennt zugleich: „Es hat mir Angst gemacht“.

Worum geht es dem 1989 in Illinois geborenen Autor Nick Drnaso? Sabrina, die dem Buch den Titel gibt, verschwindet spurlos. Ihr völlig verstörter Freund Teddy findet bei einem Schulfreund Unterschlupf, der bei der US Air Force einer rätselhaften Schreibtischtätigkeit nachgeht. Als sich Sabrinas Verschwinden als Verbrechen herausstellt und ein Video davon kursiert, wird Teddy in den Sog verschwörungstheoretischer Mutmaßungen und Diskussionen im Radio und in den sozialen Medien hineingezogen, die die Motive, die Stellungnahmen und schließlich sogar die Identität der Betroffenen in Frage stellen.

In der Trump-Ära wird es kaum jemanden überraschen, dass es für diesen Plot einen realen Hintergrund gibt. Mehrere Eltern von bei Schul-Amokläufen getöteter Schüler haben den rechtspopulistischen Moderator Alex Jones verklagt. Jones hatte in seiner Internet-Sendung Infowars behauptet, die Amokläufe seien nur inszeniert und die Überlebenden von den Demokraten bezahlte Schauspieler. Jones ist kein Unbekannter: Schon im Wahljahr 2016 hatte er im Rahmen der sogenannten „Pizzagate-Affäre“ Hillary Clinton und anderen Demokraten allen Ernstes vorgeworfen im Keller einer Washingtoner Pizzeria einen Kinderpornoring zu betreiben.

Wenn junge Menschen nun von Alex Jones und anderen Demagogen in unbändiger Art diffamiert werden, dann ist alles möglich, dann gibt es keine Grenze des Anstands mehr.

Man könnte all dies als Spinnerei abtun. Doch Alex Jones – und viele andere „Shock Jocks“ – haben Millionen Zuhörer, Zuschauer und Follower. Die Fans von Rush Limbaugh, einem frühen und immer noch umtriebigem Talk-Radio-Moderator, nennen sich gar „Dittoheads“, so stolz sind sie darauf, allem und jedem fraglos zuzustimmen, was ihr Held so von sich gibt. Womit wir bei dem wären, was Rezensentin Zadie Smith solche Angst macht: Junge Schülerinnen und Schüler, die nach einem Attentat an ihrer Schule in Parkland, Florida, im Februar 2008 nicht zur Tagesordnung übergehen wollen, versuchen, eine bundesweite Bewegung für mehr Waffenkontrolle zu initiieren. Wenn solche jungen Menschen nun von Alex Jones und anderen Demagogen in solch unbändiger Art diffamiert werden, dann ist alles möglich, dann gibt es keine Grenze des Anstands mehr.

Sicher, Verschwörungsmythen haben eine lange Geschichte in den USA. Auch der Vorwurf, Aktivisten seien bezahlte Schauspieler, ist nicht neu. Bereits in den 1860er Jahren wurden Afro-Amerikaner, die in Washington über die Sklaverei der Südstaaten berichteten, in dieser Form diffamiert. Dass aber (weiße) jugendliche Überlebende eines Amoklaufs von weißen Moderatoren in dieser Schärfe attackiert werden, zeugt von einer Unbarmherzigkeit der politischen Debatte, die eine neue Dimension erreicht hat.

Mindestens zwei Faktoren sind dafür verantwortlich: Einerseits erlaubt das Internet eine höhere Verbreitung von Verschwörungsmythen und Diffamierungen und bietet den Schutz der Anonymität. Andererseits sitzt im Weißen Haus ein Präsident, der durch die Aggressivität seiner eigenen Aussagen und Tweets ein Verhalten legitimiert, das noch vor kurzem als unanständig abgelehnt worden wäre – nicht zuletzt auch von vielen bürgerlichen Republikanern. Es ist kein Zufall, dass Donald Trump längst einen freundlichen Auftritt bei Alex Jones‘ Infowars absolviert hat.

Hier ist nicht zuletzt der Fall von Emma Jane Gonzalez bezeichnend. Die Köchin aus Brooklyn teilt mit der Schülerin Emma Gonzalez, die nach dem Amok-Lauf in Parkland als Aktivistin bekannt wurde, den Namen, die kubanische Herkunft und – für eine kurze Zeit in der Vergangenheit – den Wohnort. Dass sie jedoch 31 Jahre alt ist, völlig anders aussieht als die markant kahl rasierte Schülerin und nicht in Florida, sondern in New York wohnt, hat die Anhänger des Schauspieler-Verschwörungsmythos nicht davon abgehalten, eine Hetzjagd auf Reddit, Twitter und WordPress loszutreten. Der Vorwurf: Gonzales sei vom „deep state“ gekauft, um Amerikanern das Recht auf Waffenbesitz zu nehmen, und sie dem Staat wehrlos auszuliefern.

Die Eltern des 2012 beim Amoklauf an der Sandy Hook-Grundschule in Connecticut getöteten Noah Pozner, die Alex Jones nun verklagt haben, wurden ihrerseits von Alex Jones verklagt. Seine Aussagen seien aus dem Kontext gerissen worden und überdies vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt, meint Jones. Überhaupt belege die Klage der Pozners nur die Skrupellosigkeit der Demokratischen Partei und der Waffengegner.

In der Tat ist die Meinungsfreiheit in den USA sehr weitreichend und die meisten rechtslastigen Moderaten sind meist vorsichtig genug, ihre Aussagen in Suggestivfragen zu verpacken oder sich anders abzusichern. Leider schützt dies die Betroffenen nicht vor den verbalen und tätlichen Angriffen. Die Pozners mussten seit 2012 sieben Mal umziehen, weil sie immer wieder entdeckt und bedroht werden. 2016 wurde ein Jones-Fan verhaftet, weil er wiederholt gedroht hatte, die Pozners zu ermorden.

Der Künstler Drnaso erinnert uns über das Medium Graphic-Novel an die Relevanz von Thomas Hobbes auch im 21. Jahrhundert: Der Mensch ist des Menschen Wolf.

Auch im Comic „Sabrina“ begegnen wir Waffen und Gewalt, bevor richtig klar wird, was geschehen ist. Waffen gehören zum amerikanischen Alltag, der für viele von der ständigen Angst geprägt ist sich verteidigen zu müssen. Soldat Calvin zeigt seinem Schulfreund Teddy gleich nach der Ankunft, wo im Haus die Waffen versteckt sind. Sandra berichtet ihrer Schwester Sabrina von einem Vergewaltigungsversuch und beschwichtigt deren Sorge, dass ihnen bei einer geplanten Wanderung in der Natur etwas zustoßen könnte, mit den Worten „Die wilden Tiere übernachten in Hotels“.

Der Künstler Drnaso erinnert uns über das Medium Graphic-Novel an die Relevanz von Thomas Hobbes auch im 21. Jahrhundert: Der Mensch ist des Menschen Wolf. Er zeigt uns, was Menschen einander antun können, wenn der Staat abwesend ist. Die Polizei spielt eine Nebenrolle, das Militär scheint mit sich selbst beschäftigt – immer wieder muss Calvin sein Wohlbefinden auf bürokratischen Charts eintragen. Die Politik kommt überhaupt nicht vor. Die amerikanische Realität in der Ära Trump scheint daher fast schlimmer als diese Dystopie, denn Trump heizt die hässlichen Seiten der polarisierten Debatte höchstpersönlich immer weiter an.

Immerhin, Facebook, Apple und YouTube verkündeten am 6. August 2018 eine Sperrung der Konten von Alex Jones. Dies nimmt ihm wenigstens den einfachen Zugang zu einem Massenpublikum. Ob dieser Schritt seinen vergiftenden Einfluss auf den politischen Diskurs in den USA jedoch wirklich ausbremsen kann, ist mehr als ungewiss.

Nick Drnaso: Sabrina, Drawn & Quarterly, 204 Seiten, $27.95 USD.

Auch im britischen Journal erschienen: https://www.ips-journal.eu/regions/north-america/article/show/of-trolls-tragedies-and-conspiracies-2918/