Für Neyla, eine vor dem Krieg geflüchtete Syrerin, läuft vieles richtig im kalten Berlin. Bürokratische Hürden erweisen sich als überwindbar und sie lernt Karsten kennen, der sich in sie verliebt. Doch kann Deutschland für sie Heimat werden, kann es mehr als eine Zuflucht sein? Mathias Énard, der in Barcelona lebende französische Schriftsteller und 2015 Gewinner des renommierten Prix Goncourt („Kompass“), hat die Geschichte zusammen mit der französischen Zeichnerin Zeina Abirached („Das Spiel der Schwalben“, „Piano Oriental“) entwickelt. Sie haben sich in Abiracheds Geburtsstadt Beirut kennengelernt, wo sie die Idee zu dem Comic-Projekt hatten, und waren dann zusammen für die Recherche in Berlin, wo Énard 2014-15 als Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD gelebt hat.

Énard und Abirached verschachteln die Berliner Geschichte von Neyla und Karsten mit einer fiktionalisierten Begegnung der Schriftstellerinnen und Abenteurerinnen Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart mit dem Archäologenpaar Ria und Joseph Hackin in Afghanistan, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Diese Verknüpfung ist erzählerisch nicht offensichtlich, sondern eher poetisch. „Zuflucht nehmen“ wird als „Graphic Novel“ (ohnehin eher ein Marketing-Begriff) missverstanden; das Buch ist vielmehr ein episches Gedicht in einer innovativen Kombination von Wort und Bild. So ist es auch kein Zufall, dass in der Buchmitte ein arabisches Liebesgedicht eine zentrale Rolle spielt. Abiracheds expressive Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die oft großflächig Details betonen, dann wieder ganze Dialoge und Abläufe in einem einzigen wimmelbildartigen Arrangement zusammenfassen, und der meist langsame Erzählrhythmus verstärken den Effekt, dass der Leser versucht ist, Passagen laut zu lesen, wie eben bei einem Gedicht.

Feindseligkeit und Hass kommen in „Zuflucht nehmen“ nicht vor, Unverständnis und abgehobene Oberflächlichkeit schon.

Ohne von der Handlung zu viel zu verraten – Weihnachten steht vor der Tür, wer noch ein Geschenk sucht, soll hier nicht durch Spoiler abgehalten werden – geht es in beiden Geschichten um Liebe bzw. Verliebtsein, es geht jeweils auch um Krieg und um die Möglichkeit und Notwendigkeit, vor ihm Zuflucht zu nehmen. Bereits vor seiner Schriftstellerlaufbahn hat Énard sich mit Orientalismus beschäftigt, und darin hat vermutlich die literarische Behandlung der verbürgten Begegnung von Annemarie Schwarzenbach und Ria Hackin ihren Ausgangspunkt. Die politische Diskussion, die sich über die Bewertung der deutschen Invasion Polens entspinnt, ist ein Spiegel aktueller Debatten über Krieg und Frieden im Allgemeinen und den Syrien-Krieg im Besonderen. Schon zu diesem Zeitpunkt hatte für manche Freunde von Annemarie Schwarzenbach das Exil schon begonnen. Freunde sind es auch, so argumentiert das Buch, die Zuflucht bieten können, wie auch der Buddhismus, der nicht nur über die 2001 von den Taliban zerstörten Buddha-Statuen von Bamiyan eine zentrale Rolle spielt.

Die saturierten Bildungsbürger im Freundeskreis von Karsten, deren Leben im Prenzlauer Berg im Kontrast paradiesisch wirkt, führen keine ernsthaften politischen Diskussionen, schon gar nicht über die Herausforderung von Flucht- und Arbeitsmigration für den Wohlfahrtsstaat und die politische Mitte. Ihr Engagement hat komische Züge – Karsten und Neyla lernen sich kennen, als er mit einer Freundin auf einem Wohltätigkeitsbasar (ausgerechnet) syrisches Essen anbietet. Karsten wirkt meist verträumt oder vielmehr verpeilt, seine Gutmütigkeit und dann Verliebtheit kann seine Ahnungslosigkeit und teilweise Gedankenlosigkeit nur schwer verdecken. Insofern lesen wir hier auch ein Soziogramm der deutschen Wohlstandsgesellschaft im Angesicht von Krieg und Vertreibung. Feindseligkeit und Hass kommen in „Zuflucht nehmen“ nicht vor, Unverständnis und abgehobene Oberflächlichkeit schon. Auch sie prägen das Bild, das Neyla von ihrer potentiellen neuen Heimat gewinnt, die sie in ihrem winterlichen Grau an den grauen, vom Krieg verdunkelten syrischen Himmel erinnert. Neylas Geschichte berührt, weil sie ihrer Sehnsucht, ihren Gefühlen sprachlich Ausdruck verleihen kann. Und doch bleibt auch hier viel Sprachlosigkeit.