In Kiew könnte es jeder Zeit zur Bildung einer neuen Regierung kommen. Was sind die Hintergründe?

Nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen den von Korruptionsvorwürfen geplagten Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk am 16. Februar 2016, dem der Austritt der Parteien „Vaterland“ von Julia Timoschenko und „Selbsthilfe“ des Lemberger Bürgermeister Andrij Sadowij aus der Regierungskoalition folgten, ist die aktuelle Regierung ohne parlamentarische Mehrheit. Wenn sich innerhalb von 30 Tagen keine neue Regierungsmehrheit bildet, werden vorgezogene Neuwahlen möglich, sofern der Präsident diese ausschreibt. Aufgrund der verheerenden Umfragezahlen können jedoch weder Präsident Petro Poroschenko noch der Ministerpräsident daran derzeit ein Interesse haben. Letzterer würde mit seiner „Volksfront“ nach den Umfragen noch nicht einmal über die Fünf-Prozent-Hürde gelangen.

Welches sind die Alternativen zur gegenwärtigen Regierung?

Entweder eine Neuauflage der alten Koalition, aber mit einem anderen Ministerpräsidenten, oder aber eine „technische“ Übergangsregierung aus Bürokraten, zumeist aus dem Ausland importierten Reformern. Dabei darf davon ausgegangen werden, dass neben der ukrainischen Politik auch die westlichen Länder hinter den Kulissen mitmischen: Laut dem US-Diplomaten Steven Pifer, einst amerikanischer Botschafter in Kiew, gilt die US-Bürgerin Natalia Yaresko, die jetzt in Kiew als Finanzministerin tätig ist, als aussichtsreiche Kandidatin für das Amt des Ministerpräsidenten. Dabei berief sich der Diplomat auf „Berichte aus Kiew". Andere oft genannte Kandidaten sind der georgische „Import“-Politiker Micheil Saakaschwili, derzeit Gouverneur von Odessa, und der Protegé des Präsidenten, Parlamentssprecher Wolodimir Grojsman.

Wie kam es zur derzeitigen Regierungskrise?

Hintergrund des Machtkampfs ist der stockende Reformprozess. Mehrere spektakuläre Rücktritte von tatsächlich reformwilligen Kräften wie dem Wirtschaftsminister und dem stellvertretenden Generalstaatsanwalt hatten der Forderung nach Auswechslung der alten Beharrungskräfte und echten Reformschritten in den vergangenen Wochen und Tagen neuen Schub verliehen und die seit längerem schwelende Regierungskrise angeheizt. Im Kern geht es um die Frage, wie man das Verhalten des politischen Duos aus Präsident und Ministerpräsident bewertet: Während es die meisten westlichen Beobachter pragmatisch dabei bewenden lassen „Druck auszuüben“, damit mehr Schwung in die Reformpolitik kommt, insbesondere  sichtbare Fortschritte beim Kampf gegen die Korruption, halten viele der infolge des „Majdan“ in die Politik neu eingetretenen Poroschenko und Jazenjuk für Teile des Problems, nicht der Lösung. In diesem Sinne könnte nur noch ein kompletter „Neustart“ der politischen Klasse das Land retten.

Wirkt sich die Regierungskrise auf den Konflikt mit Russland aus?

Die zuletzt erfolglos auf der Stelle tretenden Verhandlungen im Normandie-Format zeigen, dass die innerukrainischen Machtkämpfe nicht ohne Auswirkungen auf die Außenpolitik bleiben. Die ukrainische Seite wäre im Moment innenpolitisch gar nicht in der Lage, in Bezug etwa auf eine Verfassungsänderung oder ein Kommunalwahlgesetz für die besetzten Gebiete „zu liefern“. Zur russischen Intransigenz tritt nun also eine ukrainische Haltung hinzu, die argumentiert, es habe nie einen echten Waffenstillstand gegeben und durch die neuerlichen Schießereien an der „Kontaktlinie“ seien somit bereits die Grundvoraussetzungen für weitere Schritte zur Umsetzung von Minsk II nicht gegeben. Solange die Separatisten diesen nicht einhielten, seien die ukrainischen, rechtlichen Verpflichtungen im Hinblick auf Wahlen dort nicht einschlägig und auch nicht umsetzbar. Im Ergebnis gerät somit der gesamte Prozess ins Stocken, denn jede Seite beharrt darauf, dass die jeweils andere nun „am Zug“ sei.

 

Die Fragen stellte Hannes Alpen.