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Das Interview führte Claudia Detsch.

„Chile aprobó – Chile hat dafür gestimmt“. Im Rahmen eines Referendums hat sich eine überwältigende Mehrheit der Chileninnen und Chilenen für eine neue Verfassung ausgesprochen. Warum wird diese Entscheidung als historisch bezeichnet?

78 Prozent der Chileninnen und Chilenen haben für die Erarbeitung einer neuen Verfassung gestimmt. Das ist tatsächlich eine historische Entscheidung. Denn bis heute, 30 Jahre nach Ende der Militärdiktatur, ist noch immer in weiten Teilen die Verfassung des Generals Pinochet in Kraft. Dieser hat eine der neoliberalsten Verfassungen der Welt hinterlassen. Sie reduziert die Rolle des Staates auf ein Minimum und schreibt das neoliberale Entwicklungsmodell vor, das auf die Privatisierung öffentlicher Güter wie Gesundheit, Bildung, Rente und Wasser setzt und in erster Linie die Freiheit des Marktes sichert. Bis zum letzten Jahr gab es nie eine politische Mehrheit, um eine neue Verfassung zu schreiben. Die bestehende wurde nur stellenweise reformiert, an der Marktfreundlichkeit aber nicht gerüttelt. Dass dies nun gelungen ist, ist der Triumph der Protestbewegung. Seit einem Jahr ging sie – abgesehen von den Zeiten des harten Corona-Lockdowns – täglich auf die Straße, um mehr soziale Gerechtigkeit und ein faireres Entwicklungsmodell zu fordern. Eine ihrer zentralen Forderungen war das Referendum. Die Revolution kam also von unten.

Aus einer linken Perspektive – was muss rein in die neue Verfassung?

Wichtig ist, dass die künftige Verfassung nicht länger die subsidiäre Rolle des Staates festschreibt. Der Staat darf nicht länger dem Markt untergeordnet sein. Private Interessen dürfen nicht länger über öffentliche, individuelle Rechte nicht länger über kollektive Rechte gestellt werden.

Eine künftige Verfassung sollte soziale Rechte garantieren und festschreiben, dass die Gewährleistung sozialer Sicherheit Aufgabe des Staates ist. Der Staat muss künftig regulierend in den Markt eingreifen können. Bildung und Gesundheit sollten beispielsweise als Recht aller Menschen definiert und Privatisierungen rückgängig gemacht werden.

Auch Gendergleichheit, die Rechte indigener Völker sowie Umweltschutz sollten in dem neuen Gesellschaftsvertrag nicht länger außen vor bleiben. 

In den letzten Jahren kam es in Chile immer wieder zu massiven Protesten, die sich insbesondere an der sozialen Ungleichheit und dem neoliberalen Wirtschaftssystem entzündet haben. Sind die Hoffnungen, nun das gesamte System mit einer neuen Verfassung umzukrempeln, nicht überhöht?

Die Hoffnungen sind überhöht und darin liegt eines der Risiken des Verfassungsprozesses: Viele Chileninnen und Chilenen sehen die neue Verfassung als Heilmittel für alle Probleme des Landes – aber kurzfristig wird sie weder Armut bekämpfen noch die enorme Kluft zwischen Arm und Reich in der chilenischen Zweiklassengesellschaft reduzieren. Die neue Verfassung wird nicht vor Ende 2022 in Kraft treten; bis sie erste Wirkungen zeigt, werden laut Experten weitere fünf Jahre vergehen. Chile stehen damit spannende Jahre bevor. Die Chance auf eine sozialdemokratischere Zukunft und die Stärkung öffentlicher Güter stehen gut, allerdings erst mittel- bis langfristig.

Die Regierung des rechtskonservativen Multimilliardärs Sebastián Piñera steht daher vor der großen Herausforderung, kurzfristig Antworten auf die große soziale Krisezu finden und ein politisches Klima zu schaffen, in dem ein friedlicher Verfassungsprozess möglich ist. Laut UNDP, dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, leben heute 40 Prozent der Menschen in Chile in extremer Unsicherheit, die an eine permanente Notlage grenzt. Mehr als eine Million Menschen leiden Hunger, 90 Prozent der Menschen haben Angst vor dem sozialen Abstieg. Diese Menschen können keine weiteren zehn Jahre warten, bis ihre Probleme gelöst werden. Und die Pandemie wirft Chile bereits jetzt in seinem Entwicklungsstand um Dekaden zurück.Chiles Revolution findet damit in einem Moment mit viel sozialem Sprengstoff statt.

Präsident Piñera bezeichnet die neue Verfassung als Chance zu größerer Einigkeit der Gesellschaft, die bisher stark polarisiert ist. Wie lässt sich verhindern, dass die wirtschaftlichen Eliten den Prozess boykottieren, um ihre Pfründe zu sichern?

Die Verfassung wird in einem schwierigen Moment erarbeitet werden: Gewalt hat sich in den letzten zwölf Monaten als politisches Mittel etabliert, Morddrohungen gegenüber Politikern und Aktivisten sind an der Tagesordnung, Angstkampagnen prägen die politische Meinungsmache und die Wirtschaftselite scheint nicht bereit, ihre Privilegien in Zeiten einer profunden Wirtschaftskrise aufgeben zu wollen. Dies sind ernsthafte Risiken im Verfassungsprozess. Die Gegenden, in welchen die Reichen leben, stimmten alle eindeutig gegen die neue Verfassung. Auch die rechten Hardliner aus Piñeras Kabinett führten in den vergangenen Monaten offen einen Wahlkampf für den Erhalt des alten Systems. Es gibt also mächtigen Gegenwind.

Aber auch dem Großteil der Wirtschaftselite des Landes dürfte bewusst sein, dass sie den Verfassungsprozess nicht mehr stoppen kann. Er ist der einzig demokratisch-institutionelle Ausweg aus der gesellschaftlichen Krise. Sollte er scheitern, sehen viele als Alternative nur den Kampf auf der Straße. Daher wird ihre Strategie sein, dass sich die verfassungsgebende Versammlung aus möglichst vielen unternehmerfreundlichen Mitgliedern zusammensetzt, um so die Inhalte der künftigen Magna Carta in ihrem Sinne zu formulieren. Verhindern können dies nur die Mitte-links-Parteien sowie die sozialen Bewegungen, indem sie an einem Strang ziehen. Sie stehen vor der großen Herausforderung, Zersplitterung, Machtinteressen und Wahlkalkül zur Seite zu schieben und sich auf gemeinsame Wahllisten und gemeinsame Programme zu einigen. Den Wahlabend haben sie auf getrennten Feiern verbracht, man konnte sich nicht auf einen gemeinsamen Festakt einigen. Ohne die Bildung einer progressiven Allianz wird die geeint antretende Rechte die meisten Sitze gewinnen. Das Risiko ist groß, dass die konservative, unternehmerfreundliche Politikelite, die seit der Rückkehr zur Demokratie vor 30 Jahren sehr von Pinochets Erbe und dem neoliberalen Entwicklungsmodell profitiert hat, auch die Inhalte der neuen Verfassung dominieren und viel Einfluss auf die beratenden Gremien nehmen wird.

Es gibt aber auch Stimmen, die Teilen der chilenischen Oligarchie und konservativen Politikelite den Kampf mit härteren Bandagen zutrauen und vor einer dauerhaften Blockade der Debatten in der verfassungsgebenden Versammlung, vor noch mehr politischer Gewalt und dem Verbreiten von Angstkampagnen warnen.

Die Wählerinnen und Wähler haben sich für die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung entschieden und gegen ein gemischtes Gremium, in dem zur Hälfte Mitglieder des Parlaments vertreten gewesen wären. Was müssen die Parteien jetzt tun, um dem immensen Parteienverdruss entgegenzutreten?

Mit 79 Prozent der Stimmen hat sich die Forderung der sozialen Bewegungen durchgesetzt, dass eine komplett neugewählte verfassungsgebende Versammlungdie Verfassung schreiben wird. Dies zeigt das große Misstrauen der Menschen gegenüber ihrer politischen Klasse. 90 Prozent denken, dass das Parlament und der Senat regelmäßig Gesetze verabschieden, die sich nicht am Gemeinwohl aller, sondern an den Interessen der Elite orientieren. 98 Prozent vertrauen keiner einzigen Partei. Die Distanz zwischen den Politikern und den Menschen ist enorm. Lösungen werden von keiner der Parteien erwartet, sondern vom „Volk auf der Straße“. Daher wollen die Chilenen nicht, dass Politiker den neuen Gesellschaftsvertrag erarbeiten. Die Parteien – ganz gleich welchen ideologischen Lagers – müssen dieses Warnsignal ernstnehmen und sich grundlegend reformieren: Partizipativer, jünger, repräsentativer, gemeinwohlorientierter, transparenter, weniger korrupt – die Liste der Verbesserungen ist lang. Die aktuelle Krise ist auch eine Krise der repräsentativen Demokratie.

Wie geht es nun konkret weiter im Verfassungsprozess?

Am 11. April 2021 werden die 155 Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung gewählt. Sowohl Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen wie auch von Parteien und Gewerkschaften können Wahllisten einreichen. Die Parteien wären schlecht beraten, wenn sie versuchen würden, den Verfassungsprozess zu dominieren. Zudem wäre es wichtig, dass sich die im Parlament vertretenen Parteien auf Spielregeln für den Verfassungsprozess einigen, die viele Möglichkeiten der Beteiligung und eine transparente Debattenkultur sichern.

Ein großer Erfolg ist übrigens, dass aufgrund des großen Drucks feministischer Organisationen und Parlamentarierinnen ein Paritätsgesetz gilt. Die verfassungsgebende Versammlung wird zu mindestens 45 Prozent aus Frauen bestehen. In keinem anderen Land der Welt ist es bislang gelungen, so viele Frauen in das Verfassen der Magna Carta einzubinden. Chile schreibt damit Geschichte. Noch steht zur Diskussion, ob auch für indigene Völker eine Quotenregelung gefunden wird. Internationale Organisationen kritisieren seit langem, dass die politischen Rechte und Partizipationsmöglichkeiten dieser am stärksten diskriminierten und ärmsten Bevölkerungsgruppe in Chile nicht garantiert werden.

Die verfassungsgebende Versammlung wird im Mai 2021 ihre Arbeit aufnehmen. Sie hat anschließend maximal 15 Monate Zeit, die neue Verfassung zu schreiben. Beratende Gremien und Verfassungsrechtler werden sie dabei unterstützen. Entscheidungen über die Inhalte der neuen Magna Carta werden mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit getroffen, daher wird die Zusammensetzung der Versammlung ausschlaggebend dafür sein, wie progressiv oder konservativ die neue Verfassung sein wird. Voraussichtlich Ende 2022 werden die Chileninnen und Chilenen dann in einem zweiten Referendum darüber abstimmen können, ob die neue Verfassung in Kraft treten soll.