Schriller Wahlkampf, faschistische Töne, extreme Polarisierung: So hat Jair Bolsonaro in Brasilien die Präsidentschaft errungen. Braut sich in Uruguay ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen eine ähnliche Gefahr für die Demokratie zusammen?
„Heute wird der PT in Brasilien ein Ende gesetzt, und nächstes Jahr der Frente Amplio in Uruguay". So stand es nach der Wahl in Brasilien in ganzseitigen Anzeigen des uruguayischen Polit-Unternehmers Edgardo Novick. Dass aber selbst der populistischste unter Uruguays Oppositionspolitikern sich von Bolsonaros diktaturverherrlichenden und frauenverachtenden Kommentaren distanziert, zeigt: In Uruguay wird alles noch deutlich moderater und unaufgeregter ausgetragen. Uruguays Demokratie hat Substanz, der Economist sieht sie zusammen mit Kanada als einzig vollständige Demokratie der Amerikas. Und das ist sie auch Dank der politischen Reformen der Frente Amplio. Das Vertrauen in die Demokratie und die politischen Parteien sinkt zwar, aber es liegt eben weiterhin höher als in allen anderen Ländern der Region. Das Parteiensystem ist noch relativ gefestigt. Die FA gehört zu den letzten echten großen Mitgliederparteien der Region. Unter dem Eindruck der vergifteten Wahlkämpfe in der Region hat außerdem die wichtige Debatte über parteiübergreifende Abkommen gegen Desinformation und die Verbreitung von Fake News begonnen.
Ist Uruguay also immun gegen die anti-politischen und anti-demokratischen Tendenzen der Region?
Nein, ganz sicher nicht. Der politische Einfluss der evangelikalen Kirchen steigt beispielsweise und viele rechtspopulistische Argumentationsmuster verfangen auch hier. Es verdient Anerkennung, dass die die FA-Regierung mit dem „Trans-Gesetz“ die Rechte Transsexueller ausweitete, noch während Bolsonaro auf einer Homophobie-Welle ins Präsidentenamt kam. Der rechte Furor gegen solche vermeintliche „Minderheitenpolitik“ fällt jedoch nur so lange nicht auf fruchtbaren Boden, wie die FA zugleich in den großen Themen, die der Mehrheit unter den Nägeln brennen, zufriedenstellenden Antworten anbietet. Nur so gelingt es, Kritik an den Auswirkungen der neoliberal geprägten Globalisierung von den Angriffen auf Werte wie Weltoffenheit und Solidarität, auf Demokratie und Menschenrechte zu trennen.
Bislang schien die Frente Amplio darin ja erfolgreich. Wenn man sich soziale und wirtschaftliche Rahmendaten anschaut, findet sich Uruguay beständig an der Spitze regionaler Bewertungen. Das müsste der FA doch in die Hände spielen?
Eine Kampagne auf die Verweise auf gestrige Erfolge aufzubauen, wäre ein Fehler, der der FA schon fast den letzten Wahlsieg gekostet hätte. Es stimmt zwar: Die FA hat mit echter sozialdemokratischer Politik den Gegenbeweis zum neoliberalen Deregulierungsmantra erbracht. Sie hat schon aus der Opposition heraus mit erfolgreichen Bürgerbegehren die Privatisierung staatlicher Unternehmen verhindert. In der Regierung verfolgt sie eine sehr aktive Lohn-, Arbeitsrechts- und Sozialpolitik. Sie hat Arbeit formalisiert und Armut reduziert. Die Reallöhne sind dadurch stark gestiegen, die Gewerkschaften haben ihr politisches Gewicht vervielfacht, Uruguay befindet sich in der längsten Wachstumsphase seiner Geschichte und den mittleren und unteren Einkommen geht es heute ungleich besser als bei Amtsantritt der FA.
Aber?
Das sind Errungenschaften von gestern, die Menschen bewegen jetzt andere Themen. Zum Beispiel die Sicherheit. Die Debatte um die Unsicherheit mag extrem alarmistisch geführt sein, aber die FA überzeugt niemanden mit Statistiken, die zeigen sollen, dass es so schlimm doch gar nicht sei. Zudem sind die Grenzen des bisherigen Entwicklungsmodells offensichtlich. Die Digitalisierung der Wirtschaft und Gestaltung der Arbeit der Zukunft, in dem Sinne auch die offensichtlichen Qualitäts- und Gerechtigkeitslücken im Bildungssystem angehen und gleichzeitig die natürlichen Ressourcen konsequenter schützen: Darin liegt ein Zukunftsprojekt. Und dabei hilft weder kleinteilige Sachpolitik, in die sich die FA derzeit flüchtet, noch der Verweis auf die Erfolge von gestern.
Die Wahl in Brasilien war auch eine gegen die PT. In der gesamten Region mobilisiert die Rechte mit dem „Ende des progressiven Jahrzehnts“. Wie geht die FA damit um?
Die Rückkehr von Autoritarismus und neoliberalen Rezepten ist nicht nur Ergebnis der Offensive der Rechten, sondern auch des Scheiterns der Linken, ihre Erfolge zu konsolidieren. Die FA steht für eine demokratische, freiheitliche, weltoffene Linke. Für ihren zukünftigen Erfolg gelten einige Bedingungen. Ganz wichtig ist eine glaubhafte und konsequente Linie gegen Korruption. Konkret muss sie den ehemaligen Vizepräsidenten Raul Sendic von seiner erneuten Senatskandidatur abbringen. Im letzten Jahr hatte er auf Druck der parteiinternen Ethik-Kommission wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder zurückgetreten müssen.
Was ist neben dem Kampf gegen die Korruption noch notwendig für eine erfolgreiche Linke?
Es ist notwendig, sich eindeutig von den autoritären und ehemals befreundeten Regimes in Nicaragua und Venezuela zu distanzieren. Nur mit einer klaren Kante in Fragen von Transparenz, Ethik und Demokratie verhindert die FA, für die Irrwege anderer linker Parteien in Sippenhaft genommen zu werden. Die letztlich hinreichende Bedingung für eine Fortführung ihres Projekts ist es aber, Ideen für die vorhin genannten Zukunftsfragen in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung zu stellen. Es reicht nicht, sich nun in einer moralisch aufgeladenen Abwehrschlacht und in der Empörung über den Rechtspopulismus zu verlieren. Allein mit Hashtags ist der nämlich nicht aufzuhalten. Es wirkt auch nicht, Schreckensszenarien über eine mögliche Regierung des politischen Gegners aufzubauen. Ganz offenbar - siehe Brasilien - wiegt in der Wahlentscheidung die Unzufriedenheit mit dem, was ist, schwerer als die Warnungen vor dem, was vielleicht kommen könnte.
Ein Erfolgsfaktor ist die ziemlich einzigartige Einheit des linken Spektrums – wie gelingt dies?
Die FA ist nicht nur ein Wahlbündnis oder eine am Laptop gegründete Bewegung, sondern Ergebnis jahrzehntelanger gemeinsamer Aufbauarbeit. Christdemokraten, Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten und Ex-Guerrilleros kamen 1971 zusammen, weil sie gegen einen zunehmend autoritären Staat alle gleichermaßen in der Defensive waren und nur gemeinsam die Hegemonie der beiden großen bürgerlichen Parteien überwinden konnten.
Unter dem gemeinsamen Dach behielten alle Parteien und Bewegungen ihre eigenen Organisationsformen. Aber sie gaben der FA übergeordnete Parteistatuten und -strukturen. Die internen Entscheidungsprozesse sind kompliziert und langsam, aber eben demokratisch. Dabei berücksichtigt die Mehrheit weitestmöglich die Einwände der Minderheit, die Minderheit trägt im Gegenzug die Entscheidung nach Außen mit. Der grundlegende politische Pakt beruht auf der Formel: Vielfalt in der Ideologie, Einheit im Programm. Statt Gegensätze zu betonen, gilt der Fokus auf dem gemeinsamen Nenner. Dieses Konstrukt bröckelt jedoch. Die FA zeigt Verschleißerscheinungen im Karriereherbst der Gründergeneration. Es ist offensichtlich, dass die FA mit dem Generationenwechsel auch eine Erneuerung des Gründerpakts braucht.
Als Stärke der FA gilt ihre Offenheit gegenüber zivilgesellschaftlichen Initiativen. Wie schafft sie es, progressive Anliegen aus der Bevölkerung aufzunehmen und in Politik umzusetzen?
Erstens ist das Bündnis nicht statisch, immer mal wieder sterben kleinere Sektoren, dafür treten neue Listen bei den internen Wahlen an. So etwas wie Wagenknechts „Aufstehen“ wäre hier wahrscheinlich einfach ein neuer Sektor der Frente Amplio. Zweitens haben die Ortsvereine qua Statuten viel Einfluss auf Entscheidungen auf nationaler Ebene. Dadurch sind diese trotz insgesamt sinkender Mitgliederzahlen im ganzen Land weiter sehr aktiv. Drittens gibt es viel personellen Austausch zwischen sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Frente Amplio. Und letztlich sind auch einfache Gesten Richtung sozialer Bewegungen wichtig, zum Beispiel wenn die FA bei Demonstration die Parteizentrale als Basisstation für Aktivistinnen öffnet. Aber trotz allem wächst die Kluft zwischen FA und der sozialen Linken.
Woran liegt das?
Viele der jüngeren Errungenschaften standen nicht in den Wahlprogrammen: Die Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Ehe, die Cannabis-Legalisierung, die Verhinderung der Absenkung des Strafmündigkeitsalters – all dies geschah eher gegen die anfängliche Skepsis der jeweils amtierenden FA-Regierung und ging vom Druck von der Straße aus. Dass die FA in der Lage ist, diesen aufzunehmen, spricht zwar für sie. Doch dass von der Regierung selber keine großen progressiven Impulse mehr ausgehen, zeigt eine gewisse Erschöpfung. Eine Bürokratisierung hat eingesetzt. Nach so vielen Jahren in der Regierung steht die FA für den Status Quo und hat ihre Mühe, gleichzeitig als Kraft der Erneuerung zu gelten. Der Generationenwechsel ist überfällig und eine überzeugende Definition der nächsten Etappe fehlt. Gerade junge Menschen engagieren sich daher auch eher themenbezogen außerhalb der FA.
Flüchtet sich die Frente Amplio angesichts des rauen politischen Klimas in der Region nun in einen Nationalismus?
Nein! Natürlich steht die Regierung derzeit politisch ziemlich alleine da in der Region. Aber ihre Politik bleibt weltoffen. Eine Abschottung könnte sich das kleine Land gar nicht leisten, es sucht aktiv Handel und Investitionen. Uruguay verfolgt eine sehr liberale Einwanderungspolitik, und ist auch seit einigen Jahren wieder, was es vor der Diktatur schon war: ein Einwanderland. Diesmal kommen die Migranten jedoch nicht aus Europa, sondern aus der Region, vor allem aus Venezuela, der Dominikanischen Republik oder Kuba. Aufgrund der noch überschaubaren Zahl sind die aufkeimenden fremdenfeindlichen Töne noch keine relevante Größe in der parteipolitischen Auseinandersetzung. Das kann sich aber durchaus ändern, wenn die Krisen in den Nachbarländern sich vertiefen und der Migrationsdruck steigt. Zudem bemüht sich die Regierung um eine gerechtere internationale Ordnung. Die FA streitet beispielsweise sehr leidenschaftlich darüber, wie Handelsabkommen gestaltet werden sollen. Die Regierung verteidigt nationale Regulierungen gegen die Klagen Transnationaler Unternehmen erfolgreich vor internationalen Investitionsschiedsgerichten. Sie hält die Menschenrechtsagenda hoch, zuletzt als Mitglied im UN-Sicherheitsrat und nun als Kandidat für den UN-Menschenrechtsrat. Uruguays Regierung ist in diesem Sinne für uns wichtiger Partner gegen die autoritären, nationalistisch-populistischen Tendenzen unserer Zeit.
Die Fragen stellte Claudia Detsch.