Die Kurden in Nordirak stimmen über ihre Unabhängigkeit ab. Was sind die Hintergründe?
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden im Gegensatz zur Vision des US-amerikanischen Präsidenten Wilson nicht alle Völker der geschlagenen Imperien – Russland, Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich – in die Selbständigkeit entlassen. Die Kurden verteilen sich bis heute auf vier Staaten: Irak, Iran, Syrien und Türkei. Die irakischen Kurden wurden immer wieder Opfer zentralstaatlicher Willkür. Unter Saddam Hussein kam es zu schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit und sogar zum Einsatz chemischer Kampfstoffe. Autonomieversprechen wurden nicht eingelöst, obwohl der derzeitige Autonomiestatus eine irakische Realität ist und der kurdischen Regionalregierung große Freiräume verschafft hat. Dass diese Freiräume dauerhaft gesichert sind, glauben aber nur wenige Kurden. Darum will man sich jetzt vom Irak lossagen.
Die Region Kurdistan genießt international Anerkennung, wird von Deutschland beispielsweise mit Waffen im Kampf gegen den IS unterstützt. Die internationale Gemeinschaft hat dennoch, mit Ausnahme Israels, dringend von dem Referendum abgeraten. Was steckt dahinter?
Mit ihrer neu gewonnenen Autonomie und ihren anfangs beträchtlichen Öleinnahmen haben die irakischen Kurden eine Insel der Stabilität geschaffen, in der sich manche internationalen Akteure besser aufgehoben fühlen als im unsicheren Bagdad. Den kurdischen Sicherheitskräften traute man zu, den Kampf gegen den IS auf dem Boden zu bestehen und hat ihnen deshalb Waffen geliefert. Ein Referendum, das im Ergebnis einen neuen Staat schafft, der die irakischen Grenzen zum Iran, zur Türkei und zu Syrien zu kurdischen Grenzen macht, lehnt die internationale Gemeinschaft aus Sorge ab, dass die Neuziehung von Grenzen die Büchse der Pandora öffnen und weitere regionale Krisen und Konflikte um Ethnien, Konfessionen und Territorien heraufbeschwören würde. Überdies gilt Präsident Barzani nicht als demokratisches Vorbild für die weitere Region, da dieser eigenhändig seine Amtszeit verlängerte und somit seit 2015 ohne öffentliche Legitimierung einfach weiterregiert. Besonders verstimmt ist man darüber, dass das Referendum auch in Gebieten stattfinden soll, die von kurdischen Kampfverbänden im Zuge des Kampfs gegen den IS erobert wurden, aber nicht zur mit Bagdad vereinbarten Autonomieregion gehören.
Auch die Nachbarländer Iran und Türkei sind vehement gegen ein unabhängiges Kurdistan im Nordirak, weil sie befürchten, dies könnte einen Präzedenzfall für die kurdischen Minderheiten in ihren Ländern setzen. Wie lebensfähig wäre ein von allen Seiten isoliertes Land?
Präsident Barzani glaubt offenbar, dass seine Flughäfen und die seit langem bestehenden Schmuggelwege genügen, um mit Ölexport und dem Aufbau einer eigenen Wirtschaft lebensfähig zu sein. Der Schritt in die Unabhängigkeit würde allerdings ganz andere Gegenmaßnahmen nicht nur von der Türkei und dem Iran, sondern auch vom Irak hervorrufen und die schon jetzt wegen der gefallenen Ölpreise rezessive kurdische Wirtschaft ruinieren. Einer entschlossenen Blockade der Nachbarn könnte Irakisch-Kurdistan nichts entgegensetzen.
Welche möglichen Wege bestehen, um den Konflikt zwischen der Region Kurdistan und der Zentralregierung in Bagdad zu entschärfen?
Die unvermeidbare Zuspitzung, die unmittelbar nach einem Referendum einsetzen wird, das deutlich zugunsten der Unabhängigkeit ausfallen dürfte, lässt sich nur auf eine Weise entschärfen. Präsident Barzani muss das politisch Mögliche erkennen und sich zu Verhandlungen mit Bagdad entscheiden. Statt sich als Gefangener des Votums darzustellen, der nun den Volkswillen auf Unabhängigkeit zu exekutieren hat, sollte er das Votum gewissermaßen als Verhandlungsmasse in ein neues Übereinkommen mit Bagdad einbringen. Andernfalls ist eine zusätzliche Destabilisierung der Region kaum aufzuhalten.
Die Fragen stellten Joanna Itzek und Hannes Alpen.