Die Fragen stellte Hanna Voss.
Vor zwei Jahren starb die 22-jährige kurdische Iranerin Jina Mahsa Amini im Gewahrsam der Sittenpolizei. Ihr Tod löste eine der größten Protestwellen seit Gründung der Islamischen Republik 1979 aus. Die Bewegung Frau, Leben, Freiheit wurde von den Sicherheitsorganen brutal unterdrückt, hat aber tiefe Spuren in dem Land hinterlassen. Was hat sich nach ihrer Wahrnehmung verändert, seit die Bewegung sich vor zwei Jahren formierte?
Die Frau, Leben, Freiheit-Demonstrationen waren der bisher größte landesweite Protest, bei dem vor allem für Frauenrechte gekämpft wurde, und der erste, der lange durchgehalten wird. In den vergangenen Jahrzehnten gab es auch schon Proteste für die Rechte von Frauen, aber sie haben nie diese Größenordnung erreicht. Woman, Life, Freedom hat deutlich gezeigt, wie stark in der iranischen Bevölkerung das Bewusstsein für Frauenrechte ausgeprägt ist – vor allem wenn es um körperliche Selbstbestimmung und Unversehrtheit geht. Anfangs standen bei den Protesten die Frauenrechte im Fokus, aber sehr schnell wurden weit umfassendere Grundrechte und Freiheiten eingefordert. Wir haben gesehen, dass Normalbürgerinnen und -bürger bereit sind, für diese Veränderungen zu kämpfen.
Ein zentrales Thema der Proteste war die Hidschab-Pflicht. Hier sehen wir im Straßenbild der iranischen Städte tatsächlich große Veränderungen. Frauen erobern die Autonomie über ihren Körper zurück, indem sie einfach beschließen, kein Kopftuch zu tragen. Das ist zwar gesetzlich weiterhin verboten, aber sie machen es trotzdem – auf der Straße, in Einkaufszentren, in ihren Autos. Damit nehmen sie große Risiken auf sich. Doch sie sind fest entschlossen, ihre neu entdeckte Freiheit und die Selbstbestimmung über ihren Körper offen zu zeigen. Auch in eher ländlichen Gebieten sind Frauen dabei, die roten Linien zu verschieben und sich über das hinwegzusetzen, was die Regierung, aber auch die Kultur und die Tradition ihnen aufzwingen. Sie kleiden sich freier und sprechen häufiger im Familienkreis und anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen über ihre Rechte auf körperliche Selbstbestimmung.
Aber bringt die Bewegung auch strukturelle, rechtliche Fortschritte? Riskieren Frauen weiterhin Haftstrafen und Schlimmeres, wenn sie sich nicht an die Hidschab-Vorschriften halten?
Ja – und ich würde keinen Unterschied machen zwischen dem, was auf dem Papier steht, und dem, was real vollstreckt wird. Die Diskriminierung von Frauen ist im iranischen Recht verankert. Sie äußert sich darin, dass der Hidschab vorgeschrieben ist und die Hidschab-Pflicht im öffentlichen Raum mit Gewalt durchgesetzt wird. Wenn Frauen sich dem widersetzen, machen sie das so sichtbar wie möglich – mit ihren Körpern. Dafür zahlen sie einen hohen Preis. Jina Mahsa Amini war leider nicht die letzte Frau, die wegen des Hidschab Gewalt erfahren hat. Es gibt weiterhin Fälle, in denen Frauen ebenso wie Mahsa verhaftet und brutal zusammengeschlagen werden. Es gibt auch weitere Todesfälle durch Gewalteinwirkung. Das neue „Hidschab- und Keuschheitsgesetz“ ist noch nicht in Kraft, aber viele darin vorgesehene Maßnahmen werden bereits umgesetzt. Die Repressalien, Geldbußen und Haftstrafen gegen Frauen, die sich nicht an die vorgeschriebene Kleiderordnung halten, werden verschärft. Auch Ladenbesitzer, Taxifahrer und Arbeitgeber müssen Bußgelder zahlen, wenn sie Frauen ohne Hidschab bedienen, befördern oder beschäftigen. Regelmäßig werden auch Autos beschlagnahmt, in denen Frauen ohne Hidschab unterwegs sind.
Führt die Frau, Leben, Freiheit-Bewegung also ungewollt zu noch rigideren Maßnahmen und damit zu einem Rückschritt?
Das ist genau die Angst, die Frauen und speziell die Frauen im Iran immer haben müssen – dass sie mit ihrem Handeln noch schärfere Reaktionen provozieren. Diesen Backlash erleben wir vielerorts in der ganzen Welt, sobald Frauen mehr Rechte einfordern. Mit diesem Phänomen sind die Frauen im Iran sehr vertraut: Wenn sie weiterkämpfen, müssen sie andauernd mit Bumerang-Effekten rechnen.
Die Repressalien halten die Frauen aber nicht davon ab, die Grenzen des Machbaren kontinuierlich zu verschieben.
Die Repressalien halten die Frauen aber nicht davon ab, die Grenzen des Machbaren kontinuierlich zu verschieben. Sie bestehen auf ihren Forderungen und halten dem Druck stand. Bevor die Woman Life Freedom-Bewegung sich formierte, wurde in Regierungskreisen über sittenwidrige oder „falsche“ Hidschabs diskutiert. Inzwischen gibt es so viele Frauen, die sich in der Öffentlichkeit kleiden, wie sie wollen, und den Hidschab weglassen, dass die politische und gesellschaftliche Debatte sich verschiebt und diesem Wandel Rechnung trägt.
Bleiben wir beim Thema Politik: Was dürfen wir in Sachen Frauenrechte von der neuen Regierung von Massud Peseschkian erwarten?
Einer der Erfolge der Frau, Leben, Freiheit-Bewegung ist, dass sie die Forderungen von Frauen, aber auch von ethnischen Minderheiten zum zentralen Thema in der iranischen Gesellschaft gemacht hat. In jedem iranischen Wahlkampf sind die Frauenrechte Thema – aber nur an der Oberfläche. Das war diesmal nicht anders. Peseschkian hat zwar die Frauenrechte hervorgehoben, aber was er macht, wenn er im Amt ist, weiß niemand genau. Klar ist bislang nur: Peseschkian strebt Verhandlungen über eine Aufhebung der Sanktionen an, weil er die iranische Bevölkerung wirtschaftlich entlasten will. Wenn die wirtschaftliche Situation sich verbessert, wirkt sich das auch positiv auf das Leben von Frauen aus, aber das allein bietet noch keine Gewähr dafür, dass die Diskriminierung ein Ende hat. Dadurch könnte sich allerdings die Chance ergeben, dass die Staatengemeinschaft und die Vereinten Nationen den langjährigen Gleichberechtigungsforderungen der iranischen Frauen mehr Nachdruck verleihen und sie stärker in den Blickpunkt rücken.
Trotzdem ist die jetzige Situation sicher besser, als wenn der Hardliner Dschalili die Stichwahl gewonnen hätte?
Im ersten Wahlgang war die Wahlbeteiligung extrem niedrig. Das war ein deutliches Signal an die iranische Führung und hat ihr gezeigt, wie unzufrieden die Iranerinnen und Iraner mit dem Status quo sind. Bei der Stichwahl war die Wahlbeteiligung höher, aber immer noch sehr, sehr niedrig. Ich kenne viele, die bei der Stichwahl für Peseschkian gestimmt haben, um einen Sieg des Hardliners Dschalili zu verhindern, weil sie in diesem Fall noch mehr negative Auswirkungen auf ihren Lebensalltag befürchteten.
Seit Jahrzehnten versuchen iranische Frauen zu verhindern, dass ihre Rechte noch mehr beschnitten werden. Sie versuchen, das Erreichte zu verteidigen und auf mehr Rechte zu drängen. Das erklärt, warum sie sich dieses Mal entschieden haben, zur Wahl zu gehen. Wenn Peseschkian die Frauen wirklich unterstützen will, müsste er etwas gegen die seit Langem bestehende Diskriminierung von Frauen unternehmen, die Teil des Systems ist und weit darüber hinausgeht, dass sie den Hidschab tragen müssen und der Staat sich in jeden Aspekt ihres Lebens einmischt. Obwohl sie so diskriminiert werden, haben die Iranerinnen mit ihrem Durchhaltevermögen und ihrem Engagement gesellschaftlich viel erreicht. Es ist offensichtlich, dass sie den Status quo nicht länger hinnehmen werden.
Was sagt das alles über die unterschiedlichen Facetten der iranischen Gesellschaft aus – über die städtische Bevölkerung im Gegensatz zu den Menschen auf dem Land, über die verschiedenen Klassen und über die ethnischen und religiösen Minderheiten?
Es zeigt uns, dass die iranische Gesellschaft viel weiter ist als die bestehenden Gesetze. Das iranische Recht hinkt hinter den gesellschaftlichen Normen und der Kultur weit hinterher. Diese Diskrepanz wurde im Zuge der Proteste deutlich sichtbar, denn demonstriert wurde auch in kleineren Städten und in ländlichen Regionen, obwohl es dort konservativer, traditioneller und religiöser zugeht. Im Idealfall sollten Gesetze gerade beim Thema Frauenrechte und Diskriminierung vorangehen, sodass die gesellschaftlichen Einstellungen in der Folge nachziehen, aber im Iran ist das krasse Gegenteil der Fall.
Wie wirkt sich das auf die Zivilgesellschaft aus, die in den Monaten nach Aminis Tod zu Tausenden auf die Straße ging?
Hier liegt ein Teil des Problems. Wir haben eine höchst lebhafte und progressive Zivilgesellschaft. Dazu gehören Aktivistinnen und Aktivisten ebenso wie normale Bürgerinnen und Bürger und die überaus aktive Frauenrechtsbewegung. Das alles existiert aber in einer extrem geschlossenen Gesellschaft. Es gibt keine Räume, in denen sie sich organisieren und weiterentwickeln kann – alles passiert dezentral in kleinen geheimen Zirkeln. Das hat es zwar der Frau, Leben, Freiheit-Bewegung ermöglicht, große Protestveranstaltungen abzuhalten, die für den Staatsapparat schwer zu kontrollieren waren, aber es verhindert gleichzeitig, dass die Bewegung sich dauerhaft etablieren und die nötige Infrastruktur und Organisation aufbauen kann. Es gibt keine Räume, in denen diese Art von gesellschaftlicher und politischer Arbeit frei und sicher stattfinden kann.
Jina Mahsa Amini war eine kurdische Iranerin. Im Iran erfahren ethnische und religiöse Minderheiten oft noch brutalere Gewalt. Hat sich das in den vergangenen Jahren verstärkt?
Ja. Nachdem Mahsa Amini im Gewahrsam gestorben war, waren die Proteste bekanntlich nirgendwo so breit und ausdauernd wie in den kurdischen und belutschischen Gebieten. Dementsprechend hatten die Kurden und Belutschen während der Proteste am meisten zu leiden. Rund 50 Prozent der Menschen, die bei den Protesten getötet wurden, gehörten einer dieser beiden Volksgruppen an. Auch die Zahl der Verhafteten war in diesen Gruppen hoch. Diese ethnischen Gemeinschaften erfahren nach wie vor in unterschiedlicher Form staatliche Diskriminierung und immensen Druck. Selbst jetzt, im Vorfeld des zweiten Jahrestages gibt es Repressalien gegen diejenigen, die den Mut haben, den Mund aufzumachen und sich zu organisieren, und die versuchen, die Erinnerung an die Proteste wachzuhalten oder Gedenkveranstaltungen abzuhalten. Das betrifft die kurdischen und belutschischen Volksgruppen in besonderem Maß.
In den vergangenen zwei Jahren ist auch die Zahl der Kurden und Belutschen, die hingerichtet wurden, massiv gestiegen.
In den vergangenen zwei Jahren ist auch die Zahl der Kurden und Belutschen, die hingerichtet wurden, massiv gestiegen. Kürzlich wurden zwei Aktivistinnen, die zu einer ethnischen Minderheit gehören, zum Tode verurteilt: Sharifeh Mohammadi und Pakhshan Azizi. Durch diese permanenten Signale sollen die Angehörigen dieser Volksgruppen abschreckt werden, damit sie nicht protestieren und keine abweichenden Meinungen bekunden. Dabei spielt übrigens auch eine besondere Rolle, dass die Frau, Leben, Freiheit-Bewegung im Wesentlichen aus der kurdischen Frauenrechtsbewegung hervorging.
Welche Rolle kann die engagierte iranische Diaspora dabei übernehmen?
Die Diaspora kann eine wichtige Rolle spielen, aber wir haben schon viele Versuche erlebt, die fehlgeschlagen sind, und Koalitionen, die schnell zerbrachen. Das zeigt: Die Veränderung muss im Iran selbst passieren. Die internationale Gemeinschaft einschließlich der Iranerinnen und Iraner im Exil kann die Menschen im Land unterstützen und sollte das auch tun, aber wir dürfen nicht vergessen: Die Hauptakteure und diejenigen, die Veränderungen bewirken können, sind die Menschen, die im Iran leben.
Und was sollte die internationale Gemeinschaft unternehmen?
Die internationale Gemeinschaft muss in Menschenrechtsfragen einen konsequenten Kurs fahren und einfordern, dass alle Staaten die Menschenrechte ihrer Bürgerinnen und Bürger achten und alle im gleichen Maß zur Rechenschaft ziehen. Andernfalls setzt sie ihre Glaubwürdigkeit in Menschenrechtsfragen aufs Spiel. Die internationale Gemeinschaft und insbesondere die Vereinten Nationen sollten Druck auf den Iran ausüben und ihn dazu bringen, die Hinrichtungen zu stoppen und insbesondere die beiden Aktivistinnen Sharifeh Mohammad und Pakhshan Azizi zu verschonen, die in der Todeszelle sitzen. Sie sollten ihre Verhandlungsmöglichkeiten nutzen und diese Fälle und überhaupt die hohe Zahl der Hinrichtungen zur Sprache bringen – und auf die Freilassung von Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtlern dringen, die derzeit Haftstrafen verbüßen. Das gilt besonders für diejenigen, die im Gefolge der Frau, Leben, Freiheit-Bewegung inhaftiert worden sind. Außerdem können ausländische Staaten Menschen, die wegen ihres Engagements für die Menschenrechte aus dem Iran fliehen mussten, Zuflucht bieten.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld