In den deutschen Medien wurde auf Erdogans jüngsten Wahlerfolg mit harscher Kritik und Fassungslosigkeit reagiert. Wie ist Erdogans Sieg vor dem Hintergrund der anhaltenden Kontroversen zu erklären?
Nun, das vorweg, nicht nur deutsche Medien, sondern auch die säkulare Opposition in der Türkei hat auf den Wahlerfolg mit absoluter Lähmung reagiert. Hier ist jetzt vor allem Wundenlecken angesagt. Wie ist der Erfolg zu erklären? Das Ergebnis zeigt, dass in der Türkei eine andere politische Logik gilt. Sicher, nach deutschen politischen Spielregeln hätte die AKP die Wahlen verlieren müssen. Die Korruptionsvorwürfe waren massiv. Zwar gibt es keine Beweise aber doch verschiedene Anhaltspunkte für die weite Verbreitung korrupter Praktiken. Seit dem 17. Dezember jedoch wurden die Ermittlungen verschleppt. Es wurde schlicht nicht weiter ermittelt. Dies wäre in Deutschland nicht möglich gewesen. Hier hätte man vielleicht mit Recht erwartet, dass die Wahlen gewissermaßen als Reinigungsbad der Politik einen klaren Wandel zur Folge gehabt hätten. Dazu ist es jedoch nicht gekommen.
Die türkische Wirtschaft setzt auf Erdogan als Anker der Stabilität. Und die Menschen tun das auch.
Zu den Ursachen des Wahlerfolges zählt sicherlich der langjährige Aufschwung der türkischen Wirtschaft. Erst kürzlich wurde die Wachstumserwartung nach oben korrigiert. Sie steht jetzt bei 4 Prozent. Auch die Börse in Istanbul ist heute Morgen um fast 2 Prozent nach oben gegangen und sogar die türkische Lira steht heute stärker da als noch im Januar. All das zeigt: Die türkische Wirtschaft setzt auf Erdogan als Anker der Stabilität. Und die Menschen tun das auch. Zwar stehen die Korruptionsvorwürfe im Raum, doch in Zeiten, in denen die Wirtschaft wächst, ist der Wähler da pragmatisch. Denn vom Kuchen ist noch genug da. Erdogan ist es jedoch zugleich auch gelungen, die Wahlen, die ja eigentlich lediglich Kommunalwahlen waren, in ein Referendum über seine politische Zukunft zu verwandeln. Dabei wurde auch deutlich, dass Erdogan augenscheinlich so etwas wie die türkische Seele und den Stolz der Türken berührt, wenn man das so verallgemeinernd sagen kann. Für viele Türken verkörpert er nach wie vor den türkischen Traum des Aufstiegs aus dem Istanbuler Armutsviertel hin an die Regierungsspitze. Das haben viele Beobachter in Deutschland aber auch in der Türkei vielleicht nicht ausreichend berücksichtigt.
Die Wahlen galten nicht zuletzt als Stimmungstest für Erdogan. Kann er sich mit dem Ergebnis nun beruhigt zurücklehnen?
So wird Erdogan es zumindest hinstellen. Er wird sagen können: Das Volk hat gesprochen und zwar für mich. Es hat volles Vertrauen in mich und meine Politik und läßt sich nicht vom „Parallelstaat“ der Gülen- Bewegung in die Irre führen. Das Wahlergebnis ist ja tatsächlich ziemlich klar ausgefallen. Denn der Wahlsieg ist nicht einer fehlenden Wählermobilisierung der Opposition zuzuschreiben. In der Türkei herrscht Wahlpflicht. Und die Wahlbeteiligung lag bei über 80 Prozent. In der AKP zumindest stellt sich die Führungsfrage nach diesem Erfolg sicherlich nicht. Erdogan hatte immer das Sagen: jetzt noch deutlicher als zuvor.
Der Wahlsieg ist nicht einer fehlenden Wählermobilisierung der Opposition zuzuschreiben. In der Türkei herrscht Wahlpflicht. Und die Wahlbeteiligung lag bei über 80 Prozent.
In den kommenden Tagen und Wochen könnte es deshalb nun darum gehen, dass Erdogan sich an die weitgehende Zerschlagung der Gülen Bewegung macht, was er in einer ersten Ansprache in Ankara gestern Abend bereits angekündigt hat. Nachdem er seine Machtposition in der Verwaltung, der Justiz, und dem Militär gefestigt hat, könnte es jetzt darum gehen, auch im konservativen Lager die Machtfrage endgültig zu entscheiden.
Die Opposition klagt über Manipulationen. Und doch scheint der Trend eindeutig: Selbst in den liberalen Hochburgen in der Großstädten kommt die Opposition gegen die AKP nicht an. Worin liegt ihre Schwäche?
Die Opposition hat tatsächlich alles versucht. Doch es gibt politisch zu Erdogan keine wirklich überzeugende Alternative, die mit der gut geführten Parteiorganisation der AKP konkurrieren könnte. Für den erwünschten Wahlerfolg hat sich die Oppositionspartei CHP durchaus sogar inhaltlich weit aus dem Fenster gelehnt. In Istanbul und Ankara stellte sie Kandidaten auf, die alles andere als treue sozialdemokratische Parteikader waren: In Istanbul einen Bezirksbürgermeister, der vor einigen Jahren aus der CHP ausgeschlossen wurde und in Ankara einen ehemaligen Vertreter der nationalistischen MHP. Doch das hat sich nicht bezahlt gemacht. Dabei ist die CHP aber durchaus im Rahmen ihrer Möglichkeiten geblieben. Das nationale Potenzial der Partei ist schlichtweg nicht höher als 30 Prozent. Und selbst das ist nur durch einen überaus populären Kandidaten zu erzielen. Doch Kandidaten mit den Fähigkeiten eines Erdogans hat die CHP derzeit nicht.
Hier ist aber auch auf Formales hinzuweisen. Vor zwei Jahren kam es zu einer Kommunalrechtsreform, die gegen den Widerstand der Opposition mit der absoluten Mehrheit der AKP durchs Parlament gedrückt wurde. In den Großstädten wurde das Umland weitgehend eingegliedert. Vor allem in Ankara, Izmir und Istanbul. Seitdem zählen auch die relativ konservativen Bewohner des Umlandes zu den Metropolen. Und diese konservativen Zuzügler haben meist AKP gewählt. Das war klassisches Gerrymandering.
Inwiefern wird die Wahl Auswirkungen auf Erdogans persönliche Zukunftsplanung haben? Bleibt er Regierungschef oder greift er nach dem Präsidentenamt?
Bislang ist unklar, wie sich Erdogan entscheiden wird. Die Statuten der AKP machen eine erneute Amtszeit als Premierminister eigentlich unmöglich. Doch dies ist keine rechtliche oder gar verfassungsmäßige Vorschrift, sondern lediglich eine parteiinterne Regelung, die ohne weiteres auch geändert werden könnte. Erdogan hat derzeit faktisch Zugriffsrecht auf beide Ämter. Die Frage ist hier, ob das Präsidentenamt tatsächlich attraktiv erscheint. Als Präsident müsste Erdogan als Parteivorsitzender der AKP abtreten und sich parteipolitisch nicht mehr betätigen. Und sein Versuch, die Verfassung zu ändern und eine Präsidialdemokratie einzuführen, ist vor einigen Monaten am Widerstand der Opposition gescheitert.
Die Wahlen werden im August stattfinden, wenn erstmals der Präsident in direkter Wahl bestimmt wird. Vor den Kommunalwahlen wurde von Beobachtern darauf verwiesen, dass ein Wahlerfolg der AKP von mehr als 38 Prozent, so viele Stimmen erhielt die AKP bei den letzten Kommunalwahlen, Erdogan freie Hand geben würde. Das Ergebnis hat er nun locker übertroffen. Denkbar wäre daher auch, dass Erdogan nun eine neue Amtszeit als Premierminister anstrebt und es dann zu einem neuen Versuch kommt, die Verfassung zu ändern, um die Attraktivität des Präsidentenamtes zu steigern.
3 Leserbriefe
Ich versuche es mal zu erklären: Früher gab es kaum Autos, es gab keine Kühlschränke, auf den Dörfern fehlte die Elektrizität und die Verbindungen außerhalb der Großstädte waren nach europäischem Standard "Feldwege". Heute gibt es in den über Asphaltstraßen erreichbaren Dörfern Wohnungen und jeder kann sich dank mehrerer Kreditkarten Auto und Kühlschrank leisten.
Wen interessieren da Korruptionsvorwürfe (Veraltensdefinition des Westens)? Das gehört doch zur akzeptierten orientalischen Bakschisch-Mentalität!
Wohlgemerkt, Erdogan ist ein kritikresistenter Machtmensch, der keines der repressiven Herrschaftsinstrumentarien seiner Vorgänger abgeschafft hat und mit Hilfe der EU die einzig ernst zu nehmende Gefahr - das Militär - ausschalten konnte. In Europa wäre er nach Gezi-Park, Twitter-Verbot und den Repressalien gegen Kritiker nicht ein weiteres Mal gewählt worden. Hier wäre ein Aufschrei der Entrüstung durch das Volk gelaufen, wenn Bürgermeister- und Landratskandidaten von der Parteispitze nomminiert werden. Hier wäre die Gerichte angerufen worden, wenn im Wahlkampf 86 % der Sendezeiten auf eine Partei enfallen. Und man hätte gelacht über einen Ministerpräsidenten, der die Kommunalwahl zur Entscheidung über seine Korruptheit erklärt. Nicht so in der Türkei.
Erdogan spricht die Sprache des Volkes und berieselt es Tag für Tag mit ihm genehmen Informationen. Dabei verknüpft er wirtschaftliche Erfolge, Nationalstolz, Zukunftsangst und die vorherrschende Religion sehr geschickt. Das Ergebnis sollte für einen Deutschen angesichts eines demokratisch gewählten Hitler eigentlich verständlich sein.
Kurz: Es gibt derzeit keine politische Alternative. Die alten Parteien haben sich ins Abseits manövriert; sie haben kein Konzept und es fehlt ihnen ein charismatischer Führer. Also wollte der Wähler nichts riskieren und hat das bekannte Übel dem unbekannten Übel vorgezogen.