Die Fragen stellte Elisa Rheinheimer.
Ihre Organisation Combatants for Peace schafft, was auf politischer Ebene derzeit unmöglich erscheint: Israelis und Palästinenser an einen Tisch bringen. Wie machen Sie das?
Das geht nicht von heute auf morgen, es ist ein Prozess. Die „Kämpfer für den Frieden“ gibt es jetzt seit mehr als 20 Jahren und unsere Gründungsmitglieder haben eine innere Transformation durchlaufen. Es sind ehemalige Kämpfer, entweder der israelischen Armee oder der palästinensischen Seite. Sie waren mittendrin im Kreislauf der Gewalt und haben sich erst später der Gewaltlosigkeit verschrieben, als sie verstanden hatten, dass Gewalt immer Gegengewalt erzeugt. Unsere neuen Mitglieder haben nicht alle diesen Hintergrund, heute ist die Bewegung offen für alle, die an Menschlichkeit, Gemeinsamkeit und vor allem Gewaltlosigkeit glauben. Wir haben zwei Büros, eines in Tel Aviv und eines in Bethlehem, und wir treffen alle unsere Entscheidungen binational. An jedem einzelnen Projekt sind also Israelis und Palästinenser beteiligt.
Die Hamas-Angriffe vom 7. Oktober waren eine Zäsur. Was bedeutete das für Ihre Arbeit?
Der 7. Oktober war sowohl für Israelis als auch für Palästinenser ein Schock. Das hat unsere Bewegung zutiefst erschüttert. Nach so viel vorangegangener Ungerechtigkeit hatten wir erwartet, dass etwas Schlimmes passieren würde. Aber wir hatten uns nicht vorstellen können, dass es so brutal sein würde – auch in den Folgen, die bis heute andauern. Viele unserer Aktivitäten konnten wir erstmal nicht durchführen, weil es nach dem 7. Oktober überall Straßensperren gab. Zwei Monate lang konnte ich nicht mal mehr mein Büro erreichen, das 15 Minuten von meinem Haus entfernt liegt. Deshalb haben wir in den ersten zwei Monaten auf Online-Arbeit umgestellt. Geholfen hat uns, dass unsere Organisation ein starkes Fundament hat.
Und das trägt?
Ja. Wir arbeiten seit vielen Jahren daran, Beziehungen aufzubauen. Daher war es für uns einfacher als für andere Landsleute, zusammenzukommen, schwierige Gespräche zu führen und Empathie für den anderen zu empfinden. Wir kennen das, wir organisieren beispielsweise jedes Jahr eine Gedenkfeier, eine palästinensisch-israelische Zeremonie für alle Opfer des Konflikts. In unseren Zusammenkünften schaffen wir einen sicheren Raum, um Gefühle und Ängste zu teilen. Wir spüren den Kummer des anderen, wir trauern gemeinsam, wir klagen gemeinsam. Und das nicht erst seit dem 7. Oktober, sondern schon lange zuvor. Wir verwenden dabei Methoden der gewaltfreien Kommunikation, hören einander zu, ohne zu urteilen. Es ist kein Wettbewerb, wessen Schmerz größer ist, wer mehr verloren hat oder wer das Opfer ist. Solche Denkweisen helfen nicht weiter.
Haben das denn alle Mitglieder der Combatants for Peace geschafft? Oder gab es nach dem 7. Oktober auch viele, deren Wut, Angst oder Frust zu groß waren?
Viele haben einen geliebten Menschen verloren oder mit jenen zu tun, deren Angehörige als Geisel genommen wurden. Manche Menschen brauchen mehr Freiraum, um diese Art von Schmerz zu verarbeiten. Wir haben ein paar Mitglieder verloren, aber sie gehörten nicht zum harten Kern. Gleichzeitig sind auch neue Leute beigetreten. Und unsere Spenden sind gestiegen. Einer unserer palästinensischen Aktivisten hat über 60 Familienmitglieder in Gaza verloren. Er engagiert sich trotzdem immer noch für die Bewegung, nimmt an allen Aktivitäten teil. Es ist leichter, gemeinsam den Schmerz zu verarbeiten und auszuhalten, als alleine. Der 7. Oktober war ein Test für Friedensaktivisten, um zu sehen, ob sie sich wirklich der Gewaltlosigkeit verschrieben haben – nicht nur an guten, sondern auch an schlechten Tagen.
Es ist leichter, gemeinsam den Schmerz zu verarbeiten und auszuhalten, als alleine.
Mir gibt mein Glaube Halt. Ich weiß einfach, dass Gewalt zu immer mehr Gewalt führt. Man bleibt leicht in diesem Kreislauf gefangen, aber wir müssen ihn durchbrechen. Was mich weitermachen lässt, ist auch das, was ich innerhalb unserer Gemeinschaft, der Combatants for Peace, erlebe. Das gibt mir die Hoffnung, dass etwas Anderes möglich ist. Wir verkörpern in der Gegenwart die Zukunft, die wir herbeiführen wollen. Wenn wir es im kleinen Maßstabschaffen, ist es auch im größeren Maßstab möglich.
Eine Zweistaatenlösung scheint in weite Ferne gerückt zu sein. In welchem politischen Gebilde können Palästinenser und Israelis in Zukunft zusammenleben, was schwebt Ihnen vor?
Wir von Combatants for Peace plädieren für eine Zweistaatenlösung oder eine andere Lösung, der beide Parteien zustimmen. Ich bin keine Politikerin, aber wichtig ist, dass die Lösung keiner Partei aufgezwungen wird. Und wichtig ist, dass die Bedürfnisse beider Völker berücksichtigt und garantiert werden. Für die israelische Gemeinschaft ist beispielsweise Sicherheit das Wichtigste. Für die palästinensische Gemeinschaft zählt vor allem Freiheit. Beide Völker leben in diesem Land, das wir unsere Heimat nennen, und wir müssen einen Weg finden, wie wir alle, from the river to the sea, in Frieden, Würde, Gleichheit und Gerechtigkeit leben können. Die Palästinenser und die Israelis müssen Teil des Friedensprozesses sein. Es kann nicht sein, dass internationale Politiker zusammenkommen und für uns ein Friedensabkommen ausarbeiten. Unsere Zivilgesellschaft muss an diesen diplomatischen Gesprächen beteiligt sein.
Das Hauptproblem ist, dass auf internationaler Ebene nicht ausreichend über die eigentlichen Ursachen des Konflikts gesprochen wird.
Nicht alle haben verstanden, dass man westliche Vorstellungen nicht einfach in den Nahen Osten exportieren kann, um ein Friedensabkommen zu erreichen. Wir leben hier in Stammestraditionen und haben unterschiedliche Rituale und Wege, Probleme zu lösen. Das muss in den Friedensprozess integriert werden. Aber das Hauptproblem ist, dass auf internationaler Ebene nicht ausreichend über die eigentlichen Ursachen des Konflikts gesprochen wird. Was wirklich zählt, ist die Beendigung der illegalen Besetzung der palästinensischen Gebiete. Dafür arbeiten wir: für ein Ende der Besatzung. Das ist der erste Schritt.
Wie sehen Sie die Debatte in Deutschland?
Nach dem Ausgang der US-Wahlen befürchten wir, dass die nächsten Wochen für Palästina und Israel Schlimmes bedeuten, wenn es zu einer Fortsetzung des Krieges und weiteren Waffenlieferungen kommt. Was die Rolle Deutschlands angeht, hoffe ich, dass Deutschland mehr Einfluss auf Israel ausübt. Die beiden Länder sind die stärksten Verbündeten. Ich weiß, dass es nicht einfach ist, mit der aktuellen israelischen Regierung zusammenzuarbeiten. Ich wünsche mir, dass Deutschland Maßnahmen ergreift, um die Gewalt und insbesondere den völkerrechtswidrigen Siedlungsausbau zu stoppen. Ich kenne die innerdeutsche Debatte, mir ist die Angst vor den nächsten Wahlen bewusst. Ich weiß auch, dass die Stimmen zum Schweigen gebracht werden sollen, die die Handlungen der israelischen Regierung kritisieren. Das finde ich sehr bedenklich.
Hat sich die internationale Wahrnehmung Ihrer Arbeit seit dem 7. Oktober verändert?
Ja, und zwar schlagartig. Zahlreiche Spenden und Finanzierungszusagen wurden gekürzt, gestoppt oder verzögert. Als Begründung wurde uns gesagt, dass untersucht werden müsse, ob wir Terrororganisationen unterstützen oder in irgendeiner Weise mit der Hamas verbunden sind. Und das von Partnern, mit denen wir schon seit geraumer Zeit zusammenarbeiten. Diese Reaktion internationaler Unterstützer war für uns bestürzend. Was bei uns im Nahen Osten passiert, ist doch kein Fußballspiel, bei dem man sich für eine Seite entscheidet. Diese Denkweise ist fatal. Wir sind der Überzeugung, dass es immens wichtig ist, in Friedensarbeit zu investieren. Ich denke, unsere internationalen Partner müssen Richtlinien befolgen. Aber wir leben in anderen Verhältnissen. Es ist nun mal nicht alles stabil und übersichtlich hier, und wenn dann gerade in schwierigen Zeiten die Mittel wegbrechen, macht es das nicht einfacher. Als wir die Solidarität der Welt am meisten brauchten, wurden wir isoliert und haben uns alleine gelassen gefühlt.
Wir brauchen internationale Unterstützung, nicht nur finanziell, sondern auch, um uns Schutz und Legitimität zu geben. Wir sind in unseren Gesellschaften eine Minderheit. Bei uns engagierte Palästinenser und Israelis werden jeweils als Verräter angesehen, weil sie mit „dem Feind“ zusammenarbeiten. Diese Arbeit erfordert viel Mühe und Energie und macht nicht immer Spaß. Man ist nach einer Weile ausgebrannt, weil man so hart arbeitet, um die Realität zu ändern. Seit dem 7. Oktober haben wir das Gefühl, dass die Kluft noch größer geworden ist. Wir haben so viele Jahre daran gearbeitet, Brücken zu bauen und eine Gemeinschaft zu schaffen. Jetzt sind wir um Jahre zurückgeworfen.Selbst wenn der Krieg morgen zu Ende wäre, bliebe der Zivilgesellschaft und den Basisbewegungen noch viel zu tun. Denn wenn die Politiker sich für Frieden entscheiden, müssen die Menschen auch dafür bereit sein. Sie müssen in der Lage sein, zusammenzuleben und sich als gleichwertig zu betrachten. Das ist es, was wir tun: Wir bereiten die israelische und die palästinensische Gesellschaft auf einen solchen Moment vor.