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Derzeit ist ein Aufstieg von Anti-Trump-Gruppen aus dem Umfeld der Republikanischen Partei zu beobachten. Beispiele sind The Lincoln Project und 43 Alumni for Biden? Warum?
In den vergangenen dreieinhalb Jahren hat Präsident Trump altbewährte Vorstellungen davon erschüttert, was als Eckpfeiler des amerikanischen Selbstverständnisses gelten kann: die Achtung des Rechts und die institutionellen Grundlagen der Verfassung. In einer Art Manifest, das im Dezember 2019 in der New York Times erschien, bezeichneten die führenden Köpfe des Lincoln-Projekts Donald Trumps Einfluss auf die amerikanische Demokratie als „zersetzend“. Er untergrabe die Rechtsstaatlichkeit und stelle die Verfassung und zutiefst amerikanische Werte infrage.
Diese einstigen Wahlkämpfer und Amtsträger der „Grand Old Party“ (GOP) – darunter Reed Galen, ein Parteiberater, der für prominente Republikaner wie George W. Bush und John McCain gearbeitet hat; George Conway, Anwalt und Ehemann der Trump-Beraterin Kellyanne Conway; Rick Wilson, Parteistratege und Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums unter George H. W. Bush – erklären, dass es jetzt an der Zeit sei, die Parteizugehörigkeit hintenan zu stellen. Es gelte, nicht nur Donald Trump aus dem Amt zu drängen, sondern mit ihm auch jene Republikaner, die ihm dazu verholfen haben, eine derartige Bedrohung für die amerikanischen Institutionen und das Ansehen Amerikas in der Welt zu werden.
Es wäre irreführend, die republikanische Basis als gespalten zu bezeichnen. Auf der Führungsebene der Republikanischen Partei gibt es jedoch eine spürbare Fragmentierung.
Auch die Organisation Republican Voters Against Trump (RVAT) will die Anti-Trump-Dynamik unter Republikanern aufgreifen. All diese Initiativen reagieren auf die Befürchtung, dass Donald Trump eine Bedrohung für die Kontinuität der amerikanischen Demokratie selbst darstellt, für die verfassungsmäßige Ordnung, wie wir sie kennen, und für die Führungsposition, welche die USA spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Welt einnehmen. Konkret konzentrieren sich diese Gruppen auf die verfehlte Vorgehensweise des Präsidenten in Bezug auf Covid-19, seine seltsame Ehrerbietung vor dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seine Verachtung hochgeschätzter amerikanischer Werte und Freiheiten.
Sind diese Gruppierungen Anzeichen für eine Zersplitterung der Republikanischen Partei im Vorfeld der anstehenden Wahlen?
Es wäre irreführend, die republikanische Basis als gespalten zu bezeichnen. Schließlich haben jüngste Umfragen ergeben, dass etwa 86 Prozent der registrierten Wählerinnen und Wähler in den hart umkämpften Staaten, die 2016 für Trump gestimmt haben, dies auch 2020 tun würden. Nach einer kürzlich durchgeführten Umfrage der New York Times sagen nur etwa 2 Prozent dieser Wählergruppe, dass sie es für vollkommen ausgeschlossen halten, erneut für ihn zu stimmen, und nur 6 Prozent geben an, eine erneute Unterstützung für Trump sei „nicht wirklich eine Option“ für sie.
Auf der Führungsebene der Republikanischen Partei gibt es jedoch eine spürbare Fragmentierung. Hochkarätige konservative Persönlichkeiten wie Conway und Wilson haben der Grand Old Party den Rücken gekehrt und stehen nun hinter Biden. Als Erfolg können das Lincoln-Projekt und die anderen Organisationen zumindest bereits verbuchen, dass sie es geschafft haben, innerhalb eines extrem polarisierten politischen Feldes die Aufmerksamkeit auf die zunehmende Anzahl und Vielfalt der abweichenden konservativen Stimmen zu lenken. Es gibt ein wachsendes Bewusstsein für Anti-Trump-Überläufer, die ihre Außenwirkung nutzen können, um auf Trumps Versäumnisse und Verstöße aufmerksam zu machen.
Diese Gruppen wären nach einem möglichen Sieg von Biden in einer günstigen Position, um die republikanische Partei zu rehabilitieren oder neu zu organisieren.
Aber es gibt auch einige Anhaltspunkte für einen überparteilichen Brückenschlag. Die Gründer sowohl des Lincoln-Projekts als auch der 43 Alumni sprechen von der Notwendigkeit, die Verhärtung der parteilichen Fronten zu überwinden und nach der Wahl zu einer parteiübergreifenden Zusammenarbeit zurückzukehren. Karen Kirksey, die Vorsitzende der 43 Alumni for Biden, sagte kürzlich, die republikanische Fraktion im Kongress habe sich zu einem Personenkult entwickelt, weshalb viele traditionelle Konservative sich in Trumps GOP nicht mehr zu Hause fühlten. Diese Gruppen wären nach einem möglichen Sieg von Biden jedenfalls in einer günstigen Position, um die republikanische Partei zu rehabilitieren oder neu zu organisieren.
Viele dieser Gruppen führen einen offenen Wahlkampf für Joe Biden. Warum gilt er als ein für Republikaner wählbarer Kandidat, obwohl er von der Demokratischen Partei nominiert wurde?
Zunächst einmal machen diese Initiativen klar, dass sie Bidens politische Agenda nicht unbedingt unterstützen. Doch sehen sie, um noch einmal Kirksey von den 43 Alumni zu zitieren, die Notwendigkeit, „die Seele der Nation wieder ins Gleichgewicht zu bringen“, was im Übrigen auch ein inoffizieller Wahlslogan von Biden ist. Sie sehen in Biden die Chance, „Ordnung, Höflichkeit und Anstand“ wiederherzustellen.
Ein weiterer Grund, warum diese Organisationen Biden und nicht etwa einen Drittkandidaten unterstützen, mit dem sie sich auf eine politische Linie einigen könnten, ist, dass das amerikanische Wahlsystem den Erfolg von Kandidaten dritter Parteien auf nationaler Ebene sehr unwahrscheinlich macht. Noch wichtiger ist jedoch folgendes: Drittkandidaten sind – das ist ein Nachteil dieses Systems – fast eine Garantie dafür, dass die Partei, der sie ideologisch nahe stehen, die Wahl sogar verlieren wird, denn sie nehmen ihrem Kandidaten Stimmen weg. Wird jemand wie Biden zum Präsidenten gewählt, der ohnehin zu überparteilichem Verhalten neigt, dann sehen das Lincoln-Projekt und andere gemäßigte republikanische Gruppen eine realistische Chance, einen Platz am Tisch angeboten zu bekommen.
Letztlich halten es diese republikanischen Oppositionsgruppen für wahrscheinlich, dass Biden dem Präsidentenamt wieder eine gewisse Ehre, Integrität und schlicht Normalität verleihen wird.
Auf welchen Teil der Wählerschaft haben es diese Gruppen abgesehen?
Es gibt mindestens zwei Zielgruppen. Zunächst das „Einpersonenpublikum“, das heißt der Präsident selbst. Das Lincoln-Projekt gibt auf dem Werbe- und Medienmarkt von Washington D.C. viel Geld aus. Zwar handelt es sich politisch gesehen um ein völlig aussichtsloses Unterfangen, doch dort sieht der Präsident ihre Werbeanzeigen am ehesten. Tatsächlich ist ihre „Trolling“-Taktik aufgegangen, sie haben es geschafft, Trump zu einem Wutanfall auf Twitter zu provozieren. Trump bezeichnete Conway, Wilson und Reed (und weitere) als eine „Gruppe von RINOS“ (Republicans In Name Only – also Pseudo-Republikaner), die daran gescheitert seien, Obama zu schlagen, und die auch ihn im November nicht besiegen würden.
Zweitens wollen sie auch unzufriedene und marginalisierte Republikaner sowie republikanisch gesinnte Unabhängige erreichen – Menschen, die die Leistungen, den Stil und die Persönlichkeit des Präsidenten missbilligen. Beide Initiativen machen Werbung in den (für die Wahl entscheidenden) swing states: Einem Bericht von CNN zufolge haben die RVAT im Mai 10 Millionen Dollar für Werbung aufgewendet, und auch das Lincoln-Projekt hat Hunderttausende Dollar für gezielte Wahlwerbung ausgegeben.
Der Erzähler des Lincoln-Projekts erhebt eine eindringliche Anklage gegen Trumps Amerika, wenn er anstelle der berühmten Reagan-Werbung, in der es heißt „unser Land ist stolzer, stärker und besser“, die USA mit den Worten „schwächer, kränker und ärmer“ belegt.
Diese Strategie ist nicht verwunderlich, da Wechselwähler bei den Wahlen 2020 eine sehr wichtige Rolle spielen werden. Zur Erinnerung: Hillary Clinton verlor Wisconsin, Pennsylvania und Michigan mit einem Rückstand von nur etwa 78 000 Stimmen. Folglich kann sogar ein kleiner Prozentsatz der Republikaner und Unabhängigen, die 2016 für Trump gestimmt haben, einen großen Unterschied machen und Biden die Präsidentschaft bescheren. Eine Überläuferquote von nur 2-8 Prozent dürfte ausreichen, um das Weiße Haus zu übernehmen. Der Economist rechnet zurzeit damit, dass sogar Staaten wie Georgia, North Carolina und Arizona, die in Präsidentschaftswahlen traditionell an die Republikaner gehen, für Biden zu gewinnen sind. Florida läuft bei Biden ebenfalls unter dem Schlagwort „könnte klappen“.
Welche Botschaften verwenden diese Gruppen, um zu überzeugen?
Eine der wirkungsvollsten politischen Anti-Trump-Spots der letzten Zeit wurde von Republican Voters Against Trump produziert, in der sie Präsident Reagans Fernsehansprache „Eine Vision für Amerika“ verwenden. In dieser Rede vom Wahlabend 1980 ruft das republikanische Idol zu einem vereinten, starken, verständnisvollen Amerika auf, zu einer Regierung mit Kompetenz und Integrität, die auf die Menschen eingeht und den Respekt der Welt und der Verbündeten der USA genießt. Während der 40. Präsident seine Vision für die Vereinigten Staaten skizziert, zeigt das RVAT-Video Bilder von eingesperrten Kindern, von Polizeikräften, die auf friedliche Demonstranten losgehen, von Trumps schuldig gesprochenen Geschäftspartnern, von Bündnispartnern, die ihren Spott über den Präsidenten nicht zurückhalten können, dazu Diagramme der steigenden Todesrate im Zusammenhang mit Covid-19, der Arbeitslosenzahlen usw. Die Anzeige schließt mit einer Frage: Hat dich deine Partei im Stich gelassen?
Auch das Lincoln-Projekt greift auf Präsident Reagans ikonische Wahlkampfwerbung „It’s morning in America“ zurück, mit dem Twist, dass sie den „Morgen“ in „Trauer“ verwandeln: „It’s mourning in America“. Vor Bildern von Krankenhäusern und einer in Trümmern liegenden Wirtschaft erhebt der Erzähler des Lincoln-Projekts eine eindringliche Anklage gegen Trumps Amerika, wenn er anstelle der berühmten Reagan-Werbung, in der es heißt „unser Land ist stolzer, stärker und besser“ die USA mit den Worten „schwächer, kränker und ärmer“ belegt.
Die Sprache und das Bildmaterial der vom Lincoln-Projekt und den Republican Voters Against Trump geschalteten provokantesten Anzeigen sind eindeutig nicht auf eine demokratische Wählerschaft zugeschnitten.
Viele der eindrucksvollsten politischen Werbespots, die von diesem Team aus Social-Media-erfahrenen „Never Trumpers“ gemacht wurden, nehmen bekannte Redeweisen der Republikanischen Partei aus der Zeit vor Trump auf. Damit sollen eindeutig jene unzufriedenen und marginalisierten Republikaner und republikanisch eingestellten Unabhängigen angesprochen werden, die sich in der GOP von heute nicht mehr wiederfinden.
Die Werbekampagnen des Lincoln-Projekts waren bemerkenswert erfolgreich. Die Gruppe scheint, darin Trump nicht ganz unähnlich, eine Strategie der Emotionalisierung zu verfolgen. Ist das eine typisch republikanische Art des Wahlkampfs?
Die Anzeigen des Lincoln-Projekts kennen in der Tat keine Skrupel. Sie sind sehr eindringlich, sogar furchteinflößend. Natürlich ist das Spiel mit den Ängsten der Menschen nicht von einer Partei gepachtet und wird als Mittel im Präsidentschaftswahlkampf schon immer verwendet. Doch die Sprache und das Bildmaterial der vom Lincoln-Projekt und den Republican Voters Against Trump geschalteten provokantesten Anzeigen sind eindeutig nicht auf eine demokratische Wählerschaft zugeschnitten.
Die Wahlkampfleiter der Demokraten schrecken vor Anstößigem oft zurück und neigen eher dazu, sich in Feinheiten zu verlieren als offen konfrontativ aufzutreten. Im Gegensatz dazu verwendet die „Trump Is Not Well“-Anzeige des Lincoln-Projekts dieselbe Art von beißendem Spott, der auch im Wahlkampf des Amtsinhabers gegen Joe Biden verwendet wird und der auch 2016 gegen Hillary Clinton in Anschlag gebracht wurde. Die Anzeigen „100 000 Tote“ und „Chyna“ bedienen sich sogar einiger Bilder, die man sonst eher aus Horror-Filmen kennt. Studien haben gezeigt, dass Konservative tendenziell eine heftigere körperliche Reaktion auf gewaltvolle Bilder und unheimliche Geräusche zeigen – je bedrohlicher die Bilder und Soundeffekte, desto größer ihr potenzieller Effekt auf konservative Wählerinnen und Wähler.
Werden diese Organisationen und ihre Werbeaktivitäten einen Einfluss auf das Wahlergebnis haben?
Es ist schwierig, eine in irgendeiner Weise belastbare Aussage darüber zu treffen, ob diese Organisationen und ihre Werbeaktivitäten den Ausgang der Wahl 2020 messbar beeinflussen werden. Tatsächlich bezweifeln Politikwissenschaftler seit langem, dass politische Werbung überhaupt einen Einfluss auf das Wahlverhalten hat. Darüber hinaus vertreten viele Kommentatoren – darunter auch ich – die Ansicht, dass Trump selbst die besten Argumente gegen seine eigene Person vorbringt. Im Jahr 2016 hat sich Hillary Clinton als Kandidatin der Demokraten als zu polarisierend erwiesen, weshalb ein großer Teil der Stimmen für Trump in Wirklichkeit Stimmen gegen Hillary waren. Sollte Biden 2020 gewinnen, könnten viele seiner Stimmen auch Stimmen gegen Trump sein.
In der von ihnen selbst so genannten „ersten Phase“ der Kampagne des Lincoln-Projekts gegen Trump ging es nicht so sehr darum, unzufriedene oder an den Rand gedrängte Republikaner zu erreichen, sondern vielmehr darum, den Präsidenten selbst zu beeinflussen. Was sie auch erreichten. Damit, so argumentieren die Vorsitzenden der Gruppe, hätten sie Biden „Bewegungsfreiheit und grünes Licht gegeben, das zu tun, was er tun muss“. Ob Biden tatsächlich ihre Hilfe braucht, darüber kann man streiten, da der ehemalige Vizepräsident in den Umfragen sowohl national als auch in den umkämpften Staaten einen komfortablen Vorsprung vor Trump hält.
In einer etwaigen zweiten Phase könnten jedoch Anzeigen, die auf bestimmte Kanäle zugeschnitten sind, einen gewissen Einfluss auf die Wahlbeteiligung sowie auf die Überwindung des sogenannten „enthusiasm gap“ erzielen, also auf das Gefälle im Begeisterungsgrad, das nach Meinung einiger Beobachter zwischen Biden- und Trump-Wählern besteht.
Im Jahr 2016, als Trump die Wahl gewann, hat es bereits einen Versuch von Dissidenten der Republikanischen Partei gegeben, seine Kandidatur zu blockieren. Ist das, was jetzt geschieht, mit diesem Prozess vergleichbar oder gibt es Unterschiede?
Es gibt deutliche Unterschiede. Der bedeutsamste liegt darin, dass wir etwas mehr als dreieinhalb Jahre Trump’scher Präsidentschaft hinter uns haben. Im Jahr 2016 kandidierte Trump als Unruhestifter, jetzt muss er mit seiner bisherigen Bilanz antreten; und genau diese Bilanz ist es, die dem Lincoln-Projekt, den 43 Alumni, den Republican Voters Against Trump und anderen Organisationen so viel Futter für ihre aggressive Kampagne liefert.
Dieses Interview wurde redaktionell bearbeitet und gekürzt.
Aus dem Amerikanischen von Birthe Mühlhoff