Das Interview führte Claudia Detsch.
Herr Ischinger, Sie sind Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, einem weltweit renommierten Forum zur Debatte internationaler Sicherheits- und Verteidigungsfragen. Welche Themen werden bei der nächsten Konferenz, die vom 14. bis zum 16. Februar stattfindet, im Mittelpunkt stehen?
Bei der letzten Münchner Sicherheitskonferenz 2019 hatten wir die rhetorische Frage aufgeworfen: Who will pick up the pieces – wer sammelt die zerbrochenen Teile der Weltordnung wieder auf? Diese Frage ist in den vergangenen elf Monaten nicht hinreichend beantwortet worden. Im Gegenteil: Es sind noch mehr Scherben entstanden. Die Frage bleibt also auf der Tagesordnung. Sie ist eine der zentralen Fragen europäischer Außenpolitik.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wirft zu Recht die Frage auf, ob der Westen heute mehr ist als nur eine Richtung auf dem Kompass. Hat der Westen noch einen inhaltlichen, moralischen, politischen, sicherheitspolitischen Gehalt? Diese Frage wird die Konferenz 2020 beschäftigen: ist der Westen heute weniger westlich, und ist gar die ganze Welt weniger westlich geworden? Das ist ein erster Punkt.
Wenn wir feststellen müssen, dass wir ein ziemlich chaotisches Bild globaler Ordnung haben, dann stellt sich die Frage: Welche Rolle spielt eigentlich Europa – als Stabilitätsanker und nicht als Teil der Zerfallserscheinungen?
Ein zweiter Punkt ist folgender: Wenn wir feststellen müssen, dass wir ein ziemlich chaotisches Bild globaler Ordnung haben, dann stellt sich die Frage: Welche Rolle spielt eigentlich Europa – als Stabilitätsanker und nicht als Teil der Zerfallserscheinungen? Zum Zeitpunkt der Münchner Sicherheitskonferenz werden wir 14 Tage Brexit hinter uns haben. Welche Aufgaben stellen sich jetzt für Europa? Wir werden versuchen, die neue EU-Führungsmannschaft, angeführt von Frau von der Leyen, aufs Podium zu bitten. Unter Beteiligung verschiedener Staats- und Regierungschefs und Außenminister aus der Europäischen Union wollen wir klären, was es mit der geostrategischen Ausrichtung auf sich hat, von der Frau von der Leyen gesprochen hat.
Dann schließt daran die dritte Frage an: Was ist mit der Rolle Deutschlands? Was sind die Erwartungen an Deutschland?
Natürlich kommen weitere Punkte hinzu: von der Ukraine über Iran, Jemen, Syrien, Libyen bis Nordkorea, die nukleare Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle hin zu Russland, China, Huawei und 5G und schließlich die Zukunft des transatlantischen Verhältnisses. An Themen mangelt es wirklich nicht.
Sie haben es angesprochen: Ursula von der Leyen hat eine wahrhaft geopolitische EU-Kommission angekündigt. Was könnte das konkret bedeuten – geht es jetzt voran mit der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik? Oder stehen andere Politikfelder wie die Handelspolitik im Vordergrund?
Jeder in den internationalen Beziehungen handelnde Akteur muss sich die Frage stellen: Was sind meine Stärken und was sind meine Schwächen? Niemand wird bestreiten, dass die Europäische Union ihre Stärken in der Handelspolitik hat, in ihrer Rolle als Wirtschaftsmacht, als Innovationstreiber. Die EU ist einer der größten handels- und wirtschaftspolitischen Akteure der Welt. Diese Stärke haben wir bisher geostrategisch – um diesen Begriff von Frau von der Leyen zu nutzen – zu wenig eingesetzt. Andere machen uns jetzt vor, wie man mit Handelspolitik auch strategische Linien zeichnen kann, wenn Sie an die Auseinandersetzung zwischen China und den USA denken.
Die Europäische Union hat Nachholbedarf, wenn es darum geht, in geostrategischen Fragen mit einer Stimme zu sprechen. In der Außenpolitik haben wir Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts.
Die Europäische Union hat Nachholbedarf, wenn es darum geht, in geostrategischen Fragen mit einer Stimme zu sprechen. In der Handelspolitik spricht die EU mit einer Stimme. Dafür gibt es auch ein Mandat. Der Kommissionspräsident kann sagen: Ich vertrete 500 Millionen Menschen. In der Außenpolitik haben wir dagegen Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts: Jeder Kleinstaat hat ein Vetorecht und kann alles blockieren. Kein Wunder, dass man die Europäische Union als geostrategischen oder geopolitischen Akteur auf der Welt nicht ernst nimmt. Wenn ich durch Asien oder den Nahen und Mittleren Osten reise, stelle ich fest: Niemand redet über Europa, weil wir nicht mit einer Stimme sprechen. Ich denke, das ist für die künftige Kommission und den Rat eine zentrale Aufgabe: Wie können wir die Entscheidungsprozeduren in der Europäischen Union so verbessern, dass wir auch in der Außenpolitik mit einer Stimme sprechen können? Das Stichwort hier lautet: Mehrheitsentscheidungen.
Wie bewerten Sie die aktuelle Rolle Frankreichs in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik? Präsident Macron prescht derzeit mit diversen Initiativen voran.
Man kann dem französischen Präsidenten nicht vorwerfen, dass er seine Präsidentschaft verschlafen habe, ohne Vorschläge zu machen. Ich denke, es ist eher umgekehrt, er hat eine so große Zahl von wichtigen europapolitischen Vorschlägen gemacht, dass die Bundesrepublik Deutschland und andere Mitgliedstaaten Schwierigkeiten hatten, wirklich konstruktiv und weiterführend zu reagieren. Jetzt ist der französische Präsident dazu übergegangen, sehr kritische Vorschläge zu Themen wie Nato, Russland, Ukraine usw. zu machen. Ich habe dazu eine zweigeteilte Meinung. Zum einen finde ich es gut, dass wir durch solche Vorschläge gezwungen werden, wieder grundsätzliche strategische Debatten zu führen. Ist die Nato jetzt „hirntot“ oder lebt sie? Je nachdem entsteht ja Handlungsbedarf. Was ist mit Russland? Wollen wir tatsächlich auf Dauer eine Lage hinnehmen, in der eine konstruktiv gedachte Russlandpolitik von einigen Kalten Kriegern – ich sage das provozierend –ausgebremst wird, einige argumentieren, man könne mit Russland überhaupt nicht mehr verhandeln?
Macron hat diese Fragen aufgeworfen. Ob er sie taktisch klug aufgerufen hat, ist eine andere Frage. Da bin ich skeptischer. Aber wir haben ihm zu verdanken, dass wir nicht in Lethargie erstarren, wir, die gesamte EU, aber insbesondere auch die Bundesrepublik Deutschland, die in den, großen außenpolitischen Fragen in den letzten Jahren doch sehr vorsichtig und zurückhaltend agiert hat – um es diplomatisch auszudrücken.
Deutschland agiert Ihrer Meinung nach in der Außenpolitik also zu träge und zu unentschlossen? Könnte man nicht auch sagen, wir legten eine gesunde Zurückhaltung an den Tag, die anderen auch gut anstünde?
Wir können uns nicht als eine große Schweiz definieren, die sich sozusagen hinterm Berg verbirgt, und die große Weltpolitik findet woanders statt. Die Weltpolitik hat die Tendenz, zu uns zu kommen, wie wir am Syrien-Konflikt gesehen haben, mit hunderttausenden von Flüchtlingen, die nicht nur in Deutschland die politische Landschaft verändert haben. Die Krisen kommen zu uns, wenn wir uns ihrer nicht annehmen. Wir haben in Deutschland ein ganz grundsätzliches Problem noch nicht überwunden. Wir haben uns nach der Wiedervereinigung eingeredet, dass jetzt ein paradiesischer Zustand eintritt. Unser Staatsziel schien erreicht. Das war die Überwindung der Teilung, so stand es auch im Grundgesetz. Wir glaubten, dass wir fortan - diesen Satz kennt ja jeder in Deutschland - nur noch von Freunden umgeben sein würden. Jetzt entdecken wir allmählich, dass das so nicht stimmt. Wir haben zwar neun Nachbarn, und das sind auch alles Freunde. Aber wenn diese Freunde sich in ihrer Nachbarschaft umschauen, sehen sie Terror, Migrationsdruck, Konflikte und auch Krieg, wenn man an die Ukraine oder Syrien denkt.
Wir können uns nicht als eine große Schweiz definieren, die sich hinterm Berg verbirgt, und die große Weltpolitik findet woanders statt.
Unsere Bürgerinnen und Bürger müssen lernen, dass die Zeiten vorbei sind, in denen wir glauben konnten, dass wir ein dauerhaft stabiles Umfeld haben. Plötzlich bricht die Weltordnung auseinander.
Wir befanden uns in einem Halbschlaf des Gefühls, das jetzt eigentlich alles gut sei. Die Frage der Außenpolitik, der Verteidigung, des Schutzes nicht nur unserer eigenen Grenzen, sondern der unserer Bündnispartner, diese Frage haben wir vernachlässigt. Da besteht Nachholbedarf. Was ist jetzt unser Ziel, wenn wir das ursprüngliche Ziel, nämlich die Wiedervereinigung, erreicht haben?
Wie fällt Ihre Antwort auf diese Frage aus?
Nachdem wir die Wiedervereinigung erreicht haben, muss deutsche Politik nun dem vereinten Europa dienen. Das steht so gleich zu Anfang im Grundgesetz: dem Frieden in einem vereinigten Europa dienen. Das heißt, wir müssen unsere Kraft und unsere Fähigkeiten, unsere Möglichkeiten und unseren Wohlstand der Entwicklung, Festigung und Weiterentwicklung der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union widmen. Unsere Parteien haben durchaus solche Formulierungen in ihren Programmen. Ich sehe nicht, dass unsere außenpolitische, wirtschaftspolitische, auch sicherheitspolitische Energie klar auf dieses Ziel ausgerichtet ist. Ich glaube, die Bürgerinnen und Bürger sehnen sich nach einer solchen klaren Zielansprache.
Wo sehen Sie die Nato in fünf bis zehn Jahren? Sie sprachen es an, sie ist im Moment dem Vorwurf ausgesetzt, sie sei hirntot oder zumindest nutzlos.
Erstens ist die Nato natürlich nicht hirntot. Sie lebt. Sie hat eine ganze Reihe von Gebrechen. Aber sie handelt. Militärisch handelt sie sogar sehr aktiv. Die NATO ist besser imstande, unseren östlichen Nachbarn sicherheitspolitisch Rückversicherung anzubieten.
Ich persönlich halte die Nato aus deutscher Sicht für unverzichtbar, solange wir nicht den ewigen Landfrieden mit Russland und anderen Mächten geschlossen haben. Das sehe ich im Augenblick aber leider ganz und gar nicht. Ich sehe eher weitere krisenhafte Zuspitzungen. Und ich kann nicht erkennen, dass es kurz- und mittelfristig eine Alternative gibt zu der Schutzfunktion der USA, die wir qua Nato für unseren Teil des Kontinents in Anspruch nehmen können. Wir können Stunden und Tage über strategische Autonomie Europas sprechen. Aber es führt kein Weg daran vorbei: Die Bundesrepublik Deutschland wird keine Nuklearmacht sein, sie wird das auch nicht sein wollen. Im Ernstfall können wir uns auch nicht selbst verteidigen. Ergo brauchen wir die USA – selbst wenn es in manchen Punkten stressig geworden ist. Deswegen sind wir gut beraten, wenn wir trotz allen Ärgers die Nato und die transatlantischen Beziehungen pfleglich behandeln. Es ist in unserem eigenen Interesse. Wir brauchen die Nato mehr, als die USA sie brauchen.