„Sozialismus oder Tod“ ist out in Kuba. Seit 2013 wird am 1. Mai, einem der wichtigsten Feiertage der sozialistischen Insel, „für einen florierenden und nachhaltigen Sozialismus“, marschiert. Das ist nicht nur ein rhetorischer Kniff der greisen Führungsriege unter Staatschef Raúl Castro. Auf Kuba findet derzeit eine grundlegende Umgestaltung statt, die spür- und sichtbar ist. Nicht nur in Mariel, wo gerade ein neuer Containerhafen plus Freihandelszone eröffnet wurde – eine brasilianische Investition, die auf den Wegfall des US-Embargos spekuliert.  Noch ist das Ende des Embargos wegen der republikanischen Mehrheit im US-Kongress allerdings Zukunftsmusik, selbst wenn die New York Times die Forderung dieser Tage wieder erhob. Umso wichtiger und interessanter ist die Rolle der Europäischen Union, die Anfang des Jahres nach fast 20 Jahren diplomatischer Eiszeit Verhandlungen über ein  Kooperationsabkommen mit Kuba aufnahm.

 

Neuer Konsum – für manche

Vitrine des Wandels ist die Hauptstadt Havanna, die gerade für die Touristen auf Hochglanz poliert wird und wo schicke Boutiquen mit Luxusmarken und Fußgängerzonen ihren Einzug halten. Aber auch in der Provinz kommen die Veränderungen langsam an. Bei Iván zum Beispiel. Er ist 32, arbeitet im Management eines Hotels in Guardalavaca und hört Musik auf seinem I-Phone. Stolz zeigt mir der Familienvater, der die lange Busfahrt von Holguín nach Havanna mit mir teilt, Fotos von seiner Frau und der zweijährigen Tochter. Iván gehört zur neuen Mittelschicht, die im Zuge der Reformen der vergangenen Jahre entstanden ist. Er verdient im Hotel zwar auch nur wenig mehr als den Durchschnittslohn von umgerechnet 20 US-Dollar pro Monat (den Rest seines Gehalts behält die staatliche Vermittlungsagentur ein, ohne die kein Kubaner bei einem ausländischen Arbeitgeber angestellt sein darf). Aber die Trinkgelder erhöhen sein Lohn um ein vielfaches – und Iván ist ein freundlicher, immer dienstfertiger junger Mann, der viele Freunde unter den zahlreichen kanadischen Stammgästen hat. Manche schenken ihm kaputte oder alte Handys. Die repariert er in seiner Freizeit und verkauft sie. Dadurch kann er sich vieles leisten, was für Staatsangestellte unerreichbar ist: Markenklamotten, ab und zu ein Besuch in einem privaten „Paladar“ (Restaurant), und eben sein I-Phone. Es ist ein älteres Exemplar, gebraucht, mit ein paar Kratzern, aber immerhin. Und die ganzen Apps, für die man eigentlich einen Internetanschluss braucht, dessen zensierter Zugang in Kuba aber nur zu prohibitiven Preisen von sechs US-Dollar die Stunde in großen Hotels und staatlichen Internetcafés möglich ist? Iván lacht. „Wir Kubaner sind erfinderisch und haben Verwandte in den USA.“ Auf USB-Sticks und Festplatten oder über Piraten-Internetanschlüsse in Privathäusern kommt vieles über Umwege auch nach Kuba.

Alle möchten teilhaben am Konsum, doch längst nicht für alle gibt es legale Nischen.

Karina ist Ärztin, hat eine Tochter und arbeitet im Schichtdienst in einem Krankenhaus von Santiago de Cuba. Ihre Wohnung ist eng, dunkel, feucht. Mit ihrem Monatslohn kommt sie mehr schlecht als recht über die Runden. Familienmitglieder auf dem Land bewirtschaften ihre Äcker seit neuestem privatgenossenschaftlich und schicken ihr ab und zu frisches Obst und Gemüse. In ihrer Freizeit backt sie Torten für Feste und verdient sich etwas hinzu. Ihr Mann gibt ausländischen Touristen Tanzstunden. Trotzdem reicht es hinten und vorne nicht. Bisher sorgte der Staat für eine Grundversorgung der Bürger, doch die wird immer mehr zusammengestrichen. Beispiel ist die staatliche Lebensmittelkarte, die den Kubanern Zucker, Reis, Nudeln, Fisch, Brot und Eier oder Hühnerfleisch garantiert. Doch die staatlichen „Bodegas“ gähnen vor Leere, ähnlich sieht es in den staatlichen Apotheken aus. Und nicht alle können auf den schnell wachsenden Privatsektor ausweichen, denn die Preise sind gesalzen: Umgerechnet 6 US-Dollar muss man für ein Kilo Rindfleisch hinblättern. Ein neuer Peugeot 508 kostet in Havanna umgerechnet 193 000 Euro – das Siebenfache des in Europa üblichen Preises. Und dennoch hat der Fuhrpark zugenommen. Alle möchten teilhaben am Konsum, doch längst nicht für alle gibt es legale Nischen. Leidtragende sind vor allem die Älteren, die ein Fünftel der Bevölkerung stellen und mit einer mageren staatlichen Pension von umgerechnet acht US-Dollar auskommen müssen. Frustriert sind auch die Jugendlichen, denen der Wandel nicht schnell genug geht.

Für viele bleibt Auswandern der einzig denkbare Horizont. Benachteiligt fühlen sich Lehrer und Ärzte, denen private Betätigung verboten ist, denn Bildung und Gesundheit gelten als Säulen des Sozialismus. Trotzdem wird das Verbot unterlaufen. Neulich wurde in Havanna ein Chirurg festgenommen, der in seiner Freizeit wohlhabenden Kunden – meist aus der US-Exilgemeinde – seine Dienste feilbot. Korruption ist ein Riesenproblem des Reformprozesses.

 

Die Bürokratie soll abspecken

Deshalb soll die aufgeblähte Bürokratie abgespeckt werden. Bereits jetzt arbeiten knapp eine halbe Million Kubaner auf eigene Rechnung; weitere 1,3 Millionen Staatsangestellte werden in den nächsten Jahren entlassen werden. Bis 2015, schätzen Ökonomen, wird über ein Drittel aller Kubaner privat arbeiten. Lauter potenzielle Kleinkapitalisten, die der „neuen Mittelschicht“ von Brasilien oder Mexiko zum Verwechseln ähneln: Adidas-Mützen, Lacoste-T-Shirts, Ray-Ban-Sonnenbrillen. Zu den Aufsteigern zählen Manager von Joint-Venture-Unternehmen, Künstler und Musiker, aber auch ehemalige Funktionäre wie Ex-Aussenminister Roberto Robaína, inzwischen stolzer Besitzer des „Chaplin's Café“, einer modern-minimalistischen Kneipe in Miramar. Die Warhol-ähnlichen, schwarz-weiss-roten Gemälde an der Wand stehen zum Verkauf und stammen vom Hausherrn persönlich. „Das ist aus der Not heraus entstanden“, sagt Robaína gut gelaunt und serviert Häppchen mit Lachs und Serrano-Schinken zum Nachmittags-Drink. „Die Führung hat mir eine geplante Ausstellung verboten, deshalb wurde daraus eben eine Kunst-Kneipe“, erzählt der kleine, gedrungene Mann, der eine kometenhafte Karriere vom Jungkommunisten zum Minister hinlegte und als enger Vertrauter Fidel Castros galt. 1999 fiel er in Ungnade. Vermutlich, weil er mit seiner unbürokratisch erfrischenden Art und seinem Hang zu westlichem Luxus seiner Zeit voraus war. Inzwischen gehören Funktionäre und die Kinder der Revolutionäre zu den konsumfreudigsten Zeitgenossen, beispielsweise ist  Fidels Sohn Antonio Cheflobbyist für den Bau eines neuen Golfclubs.

Wie auch immer der weitere Weg Kubas verlaufen wird – am Militär als Macht- und Stabilisierungsfaktor kommt keiner vorbei.

Die politischen Auswirkungen des wirtschaftlichen Umbruchs sind bisher subtil. Noch stellen die neuen Unternehmer nicht die Machtfrage, aber sie kritisieren bürokratische Hürden. Noch herrscht Konsens, das Bildungssystem und die Gesundheit als kostenlose staatliche Dienstleistungen beizubehalten – freilich in besserer Qualität. „Diesmal gibt es keinen Weg zurück“, sagt der Soziologe Haroldo Dilla, bis Mitte der 90er Jahre Wissenschaftler im angesehen Zentrum für Amerika-Studien, wo damals schon Reformszenarien entworfen wurden – bis Fidel das Zentrum auflöste, weil es die „Fünfte Kolonne des Imperialismus“ sei. Heute lebt Dilla in Chile. Die verknöcherte Parteibürokratie, die den Wissenschaftlern damals den Hals brach und auch für das Ende der Karriere Robaínas verantwortlich war, ist dem Soziologen zufolge der größte Hemmschuh: „Der Apparat ist aufgeblasen und bremst. Ihn aufzulösen, wird eine enorme Herausforderung.“ Bisher ist davon keine Rede, denn der Parteiapparat mit seinem Spitzelsystem sorgt für die politische Kontrolle der Bevölkerung. 

Zweites Standbein der Macht ist das Militär. Schon in den 90er Jahren schickte der damalige Verteidigungsminister Raúl Castro seine Kampfgenossen, denen er aufgrund ihrer Disziplin mehr vertraute als den Zivilisten, in Managementkurse ausländischer Berater. Unter ihm wuchs das Militär zum größten Unternehmen der Insel heran. Die Militärs kontrollieren heute einen Großteil der Tourismusbranche – unter anderem die Reiseveranstalter Gaviota und Cubanacán – den Transportsektor, den Infrastrukturbereich und Teile der Landwirtschaft. Die Akademien und Schulen der Militärs sind die Elite-Kaderschmieden des Landes. Wie auch immer der weitere Weg Kubas verlaufen wird – am Militär als Macht- und Stabilisierungsfaktor kommt keiner vorbei. Ein „arabischer Frühling“ ist deshalb nach Auffassung von Kubakennern eher unwahrscheinlich. Selbst wenn Dissidenten inzwischen ins Ausland reisen dürfen, im Inland sind ihnen politische Aktivitäten untersagt. „Wir haben auch keine starke Parteientradition, an die man anknüpfen könnte. Die Parteien vor der Revolution waren korrupt und ineffizient“, sagt der Autor und Journalist Hugo Luís Sánchez. „Kapitalismus ja, aber unter Kontrolle eines autoritären Regimes“, resümiert Dilla das aktuelle Drehbuch der Führung – geschrieben noch ohne die Beteiligung der aufstrebenden Mittelschicht.