Als „Retter Mexikos“ hob die US-Zeitschrift „Time“ Präsident Enrique Peña im Februar 2014 auf das Titelblatt. Denn der ambitionierte Politiker der ehemaligen Staatspartei der Institutionellen Revolution (PRI) wollte Geschichte schreiben, wie schon sein politischer Ziehvater, Expräsident Carlos Salinas (1988-1994), der den Nordamerikanischen Freihandelsvertrag (Nafta) unterzeichnet hatte. Dessen liberale Wirtschaftsreformen wollte Peña 20 Jahre später vollenden, mit ehrgeizigen Infrastruktur-Projekten wie dem neuen Hauptstadtflughafen, der Zerschlagung der Lehrergewerkschaft oder der Öffnung der Erdölindustrie. Doch die Restauration erweist sich als problematisch; das PRI-Modell zwischen Korruption, Autoritarismus und Kooptation, das sich in einem dreiviertel Jahrhundert an der Regierung kultiviert hat, stößt an seine Grenzen. Zur Halbzeit seines sechsjährigen Mandats jedenfalls liegt Peñas Popularität auf einem historischen Tief von 35%.

Der Wendepunkt, der Peñas Image auch international beschädigte, ereignete sich im September 2014 in Iguala, im Bundesstaat Guerrero. Das Verschwinden von 43 Lehramtsstudierenden richtete ein Brennglas auf Brutalität, staatliche Willkür und Unfähigkeit. Nachdem lokale und regionale Behörden den Vorfall zunächst herunterspielten, sorgte internationaler Druck dafür, dass sich die Generalstaatsanwaltschaft des Falles annahm und erhebliche Ressourcen mobilisierte. Zwei Monate später präsentierte Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam die „historische Wahrheit“: Demnach kamen die Studierenden in der Tatnacht in die Ortschaft Iguala, um Busse zu kapern, mit denen sie zu einer politischen Kundgebung in die Hauptstadt fahren wollten – eine übliche Praxis der linksradikalen Lehramtsanwärter. Der linke Bürgermeister von Iguala, José Luis Abarca, fürchtete dieser Version zufolge, sie wollten einen Wahlkampfakt seiner Frau stören und befahl seiner Polizei, ihnen „eine Lektion zu erteilen“. Bei der Verfolgungsjagd auf die Busse tötete die Polizei drei Studierende und drei Passanten und nahm 43 Personen fest. Diese wurden Killern des Drogenkartells „Guerreros Unidos“ übergeben, dem die Familie der Frau des Bürgermeisters angehörte. Die Killer hätten die Studierenden auf einer Müllkippe exekutiert, ihre Leichen verbrannt und die Asche anschließend in Müllsäcke geschaufelt und in den Fluss geworfen, um Spuren zu verwischen. Aus gefundenen Knochenresten konnte das Institut für Gerichtliche Medizin in Innsbruck DNS-Reste extrahieren, die mit zwei der Vermissten übereinstimmen.

Das PRI-Modell zwischen Korruption, Autoritarismus und Kooptation, das sich in einem dreiviertel Jahrhundert an der Regierung kultiviert hat, stößt an seine Grenzen.

Die Version allein wäre zwar schon haarsträubend genug – Politiker und Polizisten, die mit Kartellen zusammenarbeiten und nach Gutdünken morden –, aber sie hatte einen Vorteil: Die Hauptschuld konnte auf den Bürgermeister abgewälzt werden, der der oppositionellen linken Partei der Demokratischen Revolution (PRD) angehört. Doch die „historische Wahrheit“ hat einen Schönheitsfehler: Sie ist unglaubwürdig. Zu diesem Schluss kam jedenfalls ein Team aus hochrangigen internationalen Ermittlern, das auf Bitten der Eltern und auf Intervention der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte eingesetzt wurde. Nachdem die Sachverständigen monatelang Zeugen angehört, Tatorte besucht und 123 Aktenordner gewälzt hatten, erklärten sie die Ermittlungen für schlampig durchgeführt. Beweise seien verschwunden, vernichtet oder nicht in Betracht gezogen und Geständnisse unter Folter erpresst worden. Ferner seien die Versionen zum Tathergang widersprüchlich, die Verbrennung der 43 Leichen auf dem Müllplatz technisch unmöglich und durch Satellitenbilder widerlegt.

Was fehlt, ist ein glaubwürdiges Motiv. Der politische Racheakt ist zu irrational, um wirklich zu überzeugen. Eine Verwechslung ist unwahrscheinlich, denn die Killer befragten nach eigenen Aussagen ihre Opfer, bevor sie sie erschossen. Die Expertengruppe brachte noch eine andere Hypothese aufs Tapet: Möglicherweise sei in einem der entführten Busse eine Ladung Heroin versteckt gewesen. Den Heroinschmuggel in Bussen aus Guerrero hat die US-Antidrogenbehörde DEA schon seit Längerem unter Beobachtung. Doch der fragliche Bus verschwand vom Erdboden und aus den Akten. Unklar ist auch, warum das Militär, das die Vorgänge von seiner Kommando-Zentrale in Iguala aus beobachtete, nicht einschritt. Das Militär durfte von den Ermittlern aber aus „Gründen der Staatssicherheit“ nicht befragt werden. „Wer soll geschützt werden?“, ist die große Frage, die über dem Fall schwebt. Aufgrund der seltsamen Justizbürokratie befassten sich teilweise 14 Gerichte mit dem Fall und behinderten sich gegenseitig. 111 Verdächtige wurden inhaftiert; verurteilt wurde bis dato noch niemand, mehrere Verdächtige wurden aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen.

Letztlich ist Iguala kein Einzelfall, sondern traurige Routine. 98 Prozent aller Straftaten in Mexiko bleiben ungelöst und ungesühnt – eine unverhohlene Einladung zu kriminellen Aktivitäten. Entsprechend haarsträubend ist deren Ausmaß: 200 Millionen Korruptionsfälle und 115 291 Menschenrechtsverletzungen haben Organisationen wie Transparency International und Ombudsstellen allein im vorigen Jahr registriert. Die Straffreiheit ist nach den Worten von Ex-Außenminister Jorge Castañeda ein „Instrument der Macht“, mit dem sich die Elite gegen Strafverfolgung absichert und ihrer Rechenschaftspflicht entzieht. Obwohl Mexiko über eine Vielzahl an Kontrollinstitutionen und Gesetze verfügt und etliche internationale Menschenrechtskonventionen ratifiziert hat, bleiben sie meist Makulatur. Von den von Peña nach Iguala versprochenen zehn Reformen wurde einzig die Militarisierung der Krisengebiete durchgeführt – mit „unklaren Resultaten, weil es dazu keine öffentlichen Informationen gibt“, so Edgar Cortés, Präsident des Mexikanischen Instituts für Menschenrechte und Demokratie. Zwei Maßnahmen – eine nationale Notfallnummer und Gesetze gegen Folter und Verschwindenlassen – seien teilweise auf den Weg gebracht. Alle anderen Maßnahmen wie mehr Transparenz, eine stärkere Überwachung der Gemeinden oder die Zusammenlegung der verschiedenen, konkurrierenden Polizeitruppen stecken im Kongress fest oder sind versandet. Das Interesse des politischen Establishments an Transparenz sei gering, so Cortés. Alle Maßnahmen und Gesetze laufen Gefahr, Papiertiger zu bleiben, solange die Armee für die innere Sicherheit zuständig ist und ein unantastbarer Staat im Staate bleibt, und solange weder die Polizei noch die Justiz grundlegend reformiert werden. Diese leiden, wie fast alle staatlichen Institutionen in Mexiko – von der Sportbehörde und dem Verbraucherschutz bis zum Obersten Gericht –, unter einer Politisierung und einer Beutestaats-Mentalität. Ihre von der Exekutive entschiedene oder vom Kongress ausbaldowerte Besetzung dient der materiellen Versorgung von Parteigenossen oder der Beförderung bestimmter Karrieren; Sachkenntnis und Berufsethik sind dabei nachrangig.

98 Prozent aller Straftaten in Mexiko bleiben ungelöst und ungesühnt – eine unverhohlene Einladung zu kriminellen Aktivitäten.

Entsprechende Reform-Vorschläge, die sowohl von Menschenrechtlern als auch von UN-Vertretern immer häufiger gemacht werden, hört die Regierung ungern. Als der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Juan Méndez, konstatierte, dass Mexikos Sicherheitskräfte systematisch foltern, wurde sein Bericht von der Regierung als oberflächlich und verleumderisch diskreditiert. Kurze Zeit später setzte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid Ra’ad Al Hussein, noch eins drauf: „In Mexiko sind 26 000 Menschen verschwunden, und jeden Tag werden es mehr. Dass Polizei, Justiz, die verschiedenen Regierungen und die gesamte politische Elite nicht in der Lage sind, deren Verbleib zu klären und diese Praxis zu unterbinden, ist unerklärlich und zutiefst tragisch.“ Al Hussein bedauerte weiter, dass die Regierung auf Kritik mit Intoleranz reagiere. „Statt den Boten zu töten, sollten wir uns um seine Botschaft kümmern“, erklärte er.

Doch dafür besteht wenig Hoffnung, solange die Elite an ihren Privilegien klebt und vom kurzfristigen Schielen auf die nächste Wahl umnebelt ist, während der Graben, der sie von der Bevölkerung trennt, immer tiefer wird. An Warnzeichen fehlt es nicht, wie die jüngste Umfrage zum Vertrauen der Mexikaner in ihre Institutionen zeigt. Das ist auf einem historischen Tiefststand, und am wenigsten trauen die Mexikaner demnach ihrem Präsidenten, den Gewerkschaften, den Abgeordneten, ihrer Polizei und den Parteien. „Wenn die Politik weiterhin nur auf Krisen reagiert, statt integrale Lösungen für die Probleme des Landes vorzulegen, wächst die Gefahr populistischer Rufe nach einer harten Hand“, so das Zentrum für Entwicklungsforschung (CIDAC).