Im Repräsentantenhaus des philippinischen Kongresses drängen sich am 26. Januar 2016 die Abgeordneten um Pia Alonzo Wurtzbach. Die in Stuttgart geborene Schauspielerin ist fünf Wochen zuvor auf dramatische Weise in Las Vegas zur Miss Universe gekürt worden. Die 26-Jährige, die in der Stadt Cagayan de Oro auf der südlichen Unruheinsel Mindanao aufwuchs, ist seitdem in ihrer philippinischen Heimat ein Superstar.
Schon vor ihrem Besuch im philippinischen Parlament hat der entsprechende Ausschuss im Eilverfahren beschlossen, dass sie ihre Einnahmen aus dem Schönheitswettbewerb nicht versteuern muss. Als sie die Abgeordneten mit ihrem Besuch beehrt, machen diese Fotos von ihr. Als es danach an die Arbeit geht, leert sich der Plenarsaal schnell. Bald sind weniger als die Hälfte der Abgeordneten anwesend. Erneut ist das Parlament nicht beschlussfähig.
So kann es wieder nicht über das Bangsamoro Basic Law (BBL) abstimmen, ein Autonomiegesetz für die mehrheitlich von Muslimen bewohnten Gebiete im Süden des Landes. An der Beschlussunfähigkeit ändert sich auch bis zum 3. Februar nichts, dem letzten Sitzungstag dieser Legislaturperiode. Seitdem widmen sich die Politiker dem Wahlkampf. Anfang Mai werden ein neues Staatsoberhaupt und ein neues Parlament gewählt. Die Verabschiedung des BBL in seiner vorgeschlagenen Form ist unwahrscheinlich, die Zukunft des Friedensprozesses unklar.
120 000 Tote, zwei Millionen Vertriebene
Das BBL ist der zwischen der Regierung von Präsident Benigno Aquino III. und der rund 12 000 Kämpfer zählenden Moro Islamic Liberation Front (MILF) vereinbarte nächste Schritt im Prozess zur Befriedung der südlichen Philippinen. Dort kämpfen seit 1971 einst von den Spaniern Moros („Mauren“) genannte Muslime bewaffnet zunächst für einen eigenen Staat, seit einigen Jahren mehrheitlich nur noch für echte Autonomie. Bisher hat der in wechselnder Intensität ausgetragene Konflikt 120 000 Tote gefordert und zwei Millionen Menschen vertrieben.
Die Spanier hatten die Philippinen christianisiert und wie die spätere Kolonialmacht USA die Muslime immer weiter zurückgedrängt, bis sie nur noch eine Minderheit im Süden des Landes waren. Die bis heute mächtige Oligarchie hat den Druck für Landreformen im Norden des Landes immer wieder in eine christliche Besiedlung des Südens umgelenkt. Das hat die dortigen Landkonflikte sowie den Druck auf die Moros verschärft. Kardinal Orlando Quevedo, Ex-Vorsitzender der einflussreichen philippinischen Bischofskonferenz und seit mehr als drei Jahrzehnten Kirchenführer in Mindanao, nennt das an den Moros begangene Unrecht die Hauptursache ihres bewaffneten Aufstandes.
Kardinal Orlando Quevedo nennt das an den Moros begangene Unrecht die Hauptursache ihres bewaffneten Aufstandes.
Seit 1976 gab es mehrere Friedensabkommen. Sie konnten aber den Konflikt nicht befrieden, sondern haben eine Zersplitterung des Moro-Widerstands befördert und so eine Konfliktlösung noch schwieriger gemacht. Von Libyens Gaddafi-Regime vermittelte Abkommen gab es 1976 und 1996 mit der ursprünglichen Moro National Liberation Front (MNLF). Von der spaltete sich nach dem Scheitern des Abkommens von 1977 die MILF ab. 1990 gab es mit der vor allem als terroristisch wahrgenommenen Abu-Sayyaf-Gruppe (ASG) eine weitere Abspaltung. Die ASG machte an Ostern 2000 weltweit Schlagzeilen, als sie westliche Touristen inklusive der Göttinger Lehrerfamilie Wallert auf die südphilippinische Insel Jolo verschleppte und über Monate als Geiseln hielt. 2008 spaltete sich mit den Bangsa Moro Freedom Fighters (BIFF) eine weitere Gruppe ab, jetzt von der MILF.
Diese Splittergruppen, die den Kampf der Moros auch als Deckmantel und Rechtfertigung für kriminelle Aktivitäten nutzen und sich dabei dubioser Verbindungen zum internationalen Dschihad in Form von al-Qaida oder dem „Islamischen Staat“ (IS) brüsten, lehnen die bisherigen Abkommen ab. Zugleich lösen sie selbst immer wieder massive Militäreinsätze aus, die den ohnehin fragilen Friedensprozess gefährden.
Auch gibt es immer wieder einzelne Moro-Kommandeure, die sich mit ihren Getreuen als sogenannte „Lost Commands“ ähnlich wie regierungsnahe Warlords kaum einer organisatorischen Disziplin unterwerfen. Sie führen auf eigene Rechnung Raubzüge durch oder bieten kriminellen Elementen Unterschlupf, wenn es ihnen opportun erscheint. Sie sind eine Herausforderung nicht nur für die Regierung, sondern auch für die Rebellen, deren Friedensbemühungen sie in Misskredit bringen und deren Glaubwürdigkeit sie gefährden.
Nach zwei gescheiterten Abkommen mit der zunehmend kooptierten und korrumpierten MNLF-Führung kam es zu einem ersten, von Malaysia vermittelten Abkommen mit der MILF. Die Regierung von Präsidentin Gloria Magapagal Arroyo versäumte aber, für das Abkommen zu werben. 2008 erklärte dann der Oberste Gerichtshof das Autonomieabkommen mit knapper Mehrheit für ungültig. Die politisch ohnehin angeschlagene und unter Korruptionsverdacht stehende Arroyo ließ daraufhin den Friedensprozess fallen wie eine heiße Kartoffel. In der Folge kam es zu neuen Kämpfen. Von der düpierten MILF, die mehrheitlich weiter an Verhandlungen festhielt, spaltete sich die BIFF ab.
Streit um Autonomieregelung
Unter Arroyos Nachfolger Aquino kam es nach letztlich 17 Jahren Verhandlungen und etlichen Rückschlägen im März 2014 zu einem neuen Abkommen samt Waffenstillstand zwischen MILF und Regierung. Es sieht die Schaffung eines neuen politischen Autonomiegebiets auf der Südinsel Mindanao sowie im südlich-angrenzenden Sulu-Archipel vor. Dieses Mal wollten beide Seiten schrittweise vorgehen. Als nächstes sollte der philippinische Kongress das Autonomiegesetz BBL beschließen. Es sollte dann spätestens an Aquinos letztem Amtstag, dem 30. Juni 2016, feierlich in Kraft treten. Dem sollte dann eine Entwaffnung der Rebellen folgen.
Präsident Aquino, der Lehren aus dem von seiner Vorgängerin und Mutter Corazon Aquino schon 1987 eingerichteten, aber politisch nicht funktionierenden Autonomiegebiet Autonomous Region of Muslim Mindano (ARMM) gezogen hatte, ist durchaus an einer Befriedung mittels echter Kompromisse im Rahmen der philippinischen Verfassung interessiert. Doch dann beging er im Januar 2015 einen verhängnisvollen Fehler, als er grünes Licht für einen Einsatz („Oplan Exodus“) der Antiterroreinheit der Polizei gab.
392 Angehörige der Elitetruppe Special Action Force (SAF) drangen überraschend in ein Gebiet in der Provinz Maguindanao ein. Das stand offiziell unter MILF-Kontrolle und durfte, weil es vom Waffenstillstand abgedeckt war, von staatlichen Sicherheitskräften nicht ohne Zustimmung der MILF betreten werden.
Terrorbekämpfung torpediert Waffenstillstand
Offiziell ging es Aquino darum, zwei gesuchte Terrorverdächtige zu schnappen. Erstens den Malaysier Zulkifli Abdhi bin Hir alias Marwan. Auf den mutmaßlichen Angehörigen der Terrororganisation Jemaah Islamiyan, der am Terroranschlag in Bali im Oktober 2002 mit 202 Toten beteiligt gewesen sein soll, hatten die USA ein Kopfgeld von fünf Millionen US-Dollar ausgesetzt, auf den zweiten Gesuchten namens Basit Usman eine Million US-Dollar. Er ist Führer einer BIFF-Einheit, die Marwan Schutz gewährt haben soll.
Doch aufgrund schlechter Erfahrungen bei bisher neun gescheiterten Versuchen, den Malaysier Marwan zu fassen, informierte die SAF weder die philippinische Armee noch die MILF über den bevorstehenden Einsatz. Auch wurden der Innenminister und selbst der amtierende Polizeichef nicht informiert. Aquino griff vielmehr auf dessen Vorgänger zurück, mit dem er vertraut war. Der war zu der Zeit aber wegen Korruptionsverdacht suspendiert.
Bei dem Einsatz wurde Marwan, der Widerstand geleistet haben soll, erschossen. Usman konnte entkommen. Doch danach lief der Überraschungsangriff völlig aus dem Ruder, weil er eine Übermacht der Rebellen mobilisierte. Die fühlten sich angegriffen und schlugen zurück, während das uninformierte Militär der sich zurückziehenden und mit dem Terrain unvertrauten Elitetruppe der Polizei nicht helfen konnte. Am Ende waren 44 SAF-Angehörige tot, 18 Kämpfer der MILF, fünf der BIFF und fünf Zivilisten. Es war der verlustreichste Einsatz der philippinischen Polizeigeschichte. Schon bald schlug die Armee zurück und tötete nach eigenen Angaben 120 BIFF-Kämpfer. Erneut mussten mehrere tausend Zivilisten fliehen.
Verhängnisvoller Dilettantismus
Spätere Untersuchungen verdeutlichten den Dilettantismus des Einsatzes in Mamasapano. Die MILF-Führung erklärte, nicht gewusst zu haben, dass die BIFF dem gesuchten Marwan dort Unterschlupf gewährte. Unklar blieb, was genau Aquino zu der verhängnisvollen Aktion veranlasst hatte und ob und wieweit US-Militärs beteiligt waren. Denn der Einsatz basierte auf US-Geheimdienstinformationen, Karten und Trainings, wie der bald geschasste SAF-Kommandeur einräumte. US-Kräfte waren auch an der Bergung Verwundeter beteiligt. Das bilaterale Verteidigungsabkommen verbietet US-Kräften aber eine direkte Beteiligung an Einsätzen innerhalb der Philippinen.
Ein Friedensprozess ist kein illustrer Schönheitswettbewerb, sondern die Einsicht in so überfällige wie mühsame politische und gesellschaftliche Kompromisse.
Nach der sogenannten „Mamasapano-Tragödie“ stürzten Aquinos Beliebtheitswerte in Umfragen ab. Auch die Zustimmung zum BBL fiel drastisch. In sozialen Medien wurde mit Fotos der (von Muslimen) verstümmelten Leichen (christlicher) Polizisten sowie einem Handyclip der Tötung eines wehrlosen verwundeten Polizisten durch einen gezielten Schuss aus der Nähe massiv Stimmung gegen das Friedensabkommen gemacht.
Nur wenige Tage nach dem Philippinen-Besuch von Papst Franziskus kippte die Stimmung in großen Teilen der christlichen Bevölkerung gegen den eingeschlagenen Weg im Friedensprozess mit den Moros. Aufrufe forderten gar Rache für die getöteten Polizisten. Ex-Präsident Joseph Estrada verlangte einen „umfassenden Krieg“. Dabei zeigte der tragische Vorfall vor allem, wie wichtig Vertrauensbildung und wie längst überfällig eine Einigung mit den Moro-Rebellen ist.
Anti-muslimische Stimmungsmache
Doch Politikern wie dem Senator Ferdinand Marcos Jr., Sohn des langjährigen früheren Diktators Ferdinand Marcos, bot Mamasapano die Chance, sich mit dem Schüren anti-muslimischer Ressentiments als Verteidiger der Christen zu profilieren. Marcos Jr. brachte einen Änderungsantrag des BBL ein, der hinter das gescheiterte Autonomieabkommen von 1987 zurückfällt und damit ein Affront für die MILF ist.
Nach Kräften blockieren fortan einige Senatoren und Abgeordnete das BBL – wie das wiederholte Verfehlen des Quorums bis zum Ende der Legislaturperiode zeigt. „Viele unserer Abgeordneten zeigen die Voreingenommenheit, die Vorurteile und das Misstrauen der christlichen Mehrheit gegen die Moros im Allgemeinen und das BBL im Besonderen,“ kommentierte Kardinal Quevedo.
Zwar setzte sich Aquino bis zuletzt für das Abkommen ein und traf sich noch Mitte Januar erneut mit MILF-Führer Al Haj Murad Ibrahim. Doch nachdem Aquino die Mamasapano-Tragödie politisch selbst nur knapp im Amt überlebt hat, gilt er längst als „lame duck“. Laut Verfassung darf er ohnehin nicht erneut für das Präsidentenamt kandidieren. Sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin könnte angesichts der öffentlichen Stimmung versucht sein, den Moros bereits gemachte Zugeständnisse zu verweigern. Das dürfte der MILF-Führung erschweren, trotz ihrer Zusage am Friedenskurs festzuhalten. Das könnte radikale Elemente wie die ASG oder BIFF beflügeln und die selbst proklamierte Nähe zur Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) suchen lassen.
Ein Friedensprozess ist kein illustrer Schönheitswettbewerb, sondern die Einsicht in so überfällige wie mühsame politische und gesellschaftliche Kompromisse. Diese werden anfänglich nicht alle Kräfte überzeugen können, sondern müssen trotz erwartbarer Rückschläge durch das Erreichen von Fortschritten, denen sich letztlich niemand verweigern kann, immer wieder für sich werben. Präsident Aquino hat leider eine große Chance leichtfertig verspielt. Dies ist umso tragischer, als er zunächst selbst mit dazu beigetragen hatte, genau eine solche Chance herauszuarbeiten.