Bekanntlich jährt sich in diesem Jahr zum 100. Mal der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die Vergleiche feiern fröhliche Urstände. Für viele Beobachter scheint sich Geschichte zu wiederholen: In der aktuellen Krim-Krise - aber nicht nur hier. So strebe Deutschland in der Eurokrise nach der wirtschaftlichen Vormachtstellung in Europa wie dereinst das Deutsche Reich nach der militärischen Hegemonie. Und selbst die jüngsten Unruhen in Bosnien deuten einige Kommentatoren als ein drohendes Sarajewo des 21. Jahrhunderts und erinnern an die daraus entstehende Kaskade von Mobil- und Gegenmobilmachungen, die direkt in George F. Kennans „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts führte.
Trügerische Analogien
Bisweilen wird die trügerische Analogie sogar auf andere Regionen der Welt übertragen. Da werden Konflikte in Ostasien pauschal mit der Konstellation des Sommers 1914 erklärt. Doch bei allem Respekt für eine historische Perspektive: Diese Art von Schulmeister-Determinismus ist nicht nur geschichtsvergessen, sondern zugleich auch Ausdruck einer historisch-europäischen Nabelschau. Denn in China selbst sind es aktuell zwei ganz andere Gedenktage, die die Öffentlichkeit umtreiben. Auch sie stellen Pekings Versprechen, auf friedliche Weise eine neue Weltmacht zu werden, auf den Prüfstand. Doch mit der Julikrise 1914 und Ernst Jüngers Stahlgewittern haben sie nichts gemein.
Bei allem Respekt für eine historische Perspektive: Dieser Schulmeister-Determinismus ist nicht nur geschichtsvergessen, sondern zugleich auch Ausdruck einer historisch-europäischen Nabelschau.
Vor einem halben Jahrhundert, im Oktober 1964, zündete die Volksrepublik ihre erste Atombombe. Heute ist China die einzige der fünf offiziellen Atommächte, die ihr Arsenal umfassend ausbaut. Der zweite Gedenktag setzt nationalistisch-patriotische Akzente, die in Asien mit größter Aufmerksamkeit verfolgt werden. Im August 1894 brach der neun Monate dauernde erste chinesisch-japanische Krieg aus. Seine Folgen wirken – neben den tiefen Wunden durch den Zweiten Weltkrieg – bis heute nach. Nicht nur im hoch angespannten Verhältnis zwischen Peking und Tokio. Denn vor 120 Jahren verlor China nicht nur den Krieg, sondern zugleich den Großteil seiner Flotte. Und Taiwan wurde japanisch.
Doch zurück zu den Analogien mit 1914. Lässt Peking sich im pazifischen Raum von derselben Verblendung leiten, die die Deutschen 1914 in den Krieg führte? Bricht eine massive regionale Krise vom Zaun, die dem Ersten-Weltkriegs-Jubiläum eine ganz andere Form von Aktualität zu geben droht? Oder wird China klug genug sein, die Region nicht beherrschen zu wollen, sondern auf Ausgleich und Partnerschaft mit seinen großen und kleinen Nachbarn zu setzen? Was wird aus der koreanischen Halbinsel? Was aus Japan, das gegenwärtig wieder verstärkt auf die nationalistische Karte setzt? Wird das Ostchinesische Meer zu einem pazifischen Balkan?
Die Fragen zeigen: Zündstoff ist in der Region zweifelsohne genug vorhanden. Die dahinter stehende Grundfrage lautet deshalb: Ist die Volksrepublik China künftig Gestaltungsmacht und Partner in der internationalen Politik oder eine Bedrohung des Weltfriedens? Ist die VR China willens, internationale öffentliche Güter der Sicherheit bereit zu stellen oder wird sie sich auf sich selbst oder ihr unmittelbares Umfeld beziehen?
Vom Orakel des Dritten Weltkriegs
Wie immer vorneweg schwadroniert Jakob Augstein und orakelt sich bereits in den Dritten Weltkrieg: „Ein regelrechtes Reenactment der europäischen Welten-Krise erleben wir gerade im Ost- und Südchinesischen Meer. China schlüpft in die Rolle, die weiland dem Deutschen Reich zum Verhängnis wurde: der internationale Emporkömmling, der nach Anerkennung strebt und sich von Feinden umgeben sieht. Und die USA geben das neue Großbritannien: die internationale Führungsmacht, deren Zenit überschritten ist und die sich im Kampf gegen den neuen Gegner vielleicht erschöpfen wird. Wer will, kann düster in das kommende Jahr blicken: Wie von einer unheimlichen Mechanik wird die Geschichte in die eigene Wiederholung getrieben. Und wir ahnen, dass wir nicht in Sicherheit sind.“ Und auch aus der Edelfeder von Theo Sommer fließen die Kassandrarufe, wenn er befürchtet, dass „die regionalen Großmächte China und Japan schlafwandelnd – wie vor hundert Jahren die europäischen Mächte – in einen verheerenden bewaffneten Konflikt hineinschlittern [könnten]. Der Funke glimmt weiter, der – wie 1914 der Mord von Sarajevo – einen Weltenbrand entzünden könnte.“
Natürlich kann man das Jahr 1914 mit dem Jahr 2014 vergleichen – aber nur als gedankliche Anregung und nicht als zwingende Analogie. Die Welt hat sich seit jenem Sommer 1914 fundamental verändert – und es erscheint fast schon seltsam, dass es nötig ist, diese Tatsache so zu betonen. Denn heute deutet tatsächlich nur wenig darauf hin, dass wir am Rande einer epochalen Katastrophe von Ausmaßen des Ersten Weltkrieges stehen. Das schließt gleichwohl nicht aus, dass sich einige Herausforderungen heute und damals ähneln.
Vor 100 Jahren war es das Deutsche Reich, das auf Kosten des britischen Empire seinen „Platz an der Sonne“ suchte. Heute ist es China, das die USA im pazifischen Raum und darüber hinaus herausfordert. Dabei ist das Land mittlerweile so mächtig geworden, dass sich automatisch antihegemoniale Koalitionen um es herum bilden. Dies hat zugleich den Effekt, dass China zunehmend unter Einkreisungsobsessionen leidet – auch hier ist die Parallele zum Deutschen Reich durchaus gegeben.
Um China bilden sich automatisch antihegemoniale Koalitionen. Dies hat zugleich den Effekt, dass China zunehmend unter Einkreisungsobsessionen leidet.
Zudem wirkt die alte Erbfeindschaft, gewachsen und genährt durch die japanischen Angriffskriege 1894/1895 und 1931–1945, bis heute vergiftend fort. Nicht zuletzt spielen sowohl in China als auch in Japan und in Südkorea interessierte Kreise immer wieder die nationalistische Karte. Vor allem die Erfahrungen mit der japanischen Besatzungsmacht sind politisch leicht zu mobilisieren. So empört sich Peking mit einigem Recht darüber, dass Tokio bis heute Kriegsverbrechen leugnet und bislang noch jeder japanische Ministerpräsident den Yasukuni-Schrein besuchte. Dort wird neben den Seelen der Gefallenen auch der Geister von 14 Hauptkriegsverbrechern gedacht. Eine Provokation.
Erschwerend kommt hinzu, dass es in keiner anderen Region der Welt so viele Grenzstreitigkeiten gibt wie in Südostasien. Im Südchinesischen Meer liegt China mit einem halben Dutzend seiner Nachbarn im Disput über ungeklärte Territorialansprüche. Chinesen und Japaner streiten dabei unter anderem um die winzigen, unbesiedelten Diaoyu-Senkaku-Felsen. Dies bedeutet nicht, dass man schon am Rande eines Krieges stünde - aber von einem friedlichen Nebeneinander ist man noch weit entfernt.
Nicht zuletzt deshalb wachsen Asiens Verteidigungshaushalte stetig an. Die Volksrepublik baut ihre Marinepräsenz massiv aus, während alle Nachbarstaaten, vorneweg Japan, ebenfalls aufrüsten. So wurde erst vor einigen Tagen bekannt, dass Peking seinen Militäretat in diesem Jahr um 12,2 Prozent aufstockt. Während vor fünf Jahren auf die asiatische Region noch ein Fünftel der globalen Rüstungsausgaben entfielen, sind es jetzt schon fast ein Viertel. Nach einer Prognose von Jane’s Defence Weekly wird sich dieser Anteil bis 2020 auf 28,5 Prozent erhöhen.
Zudem haben wir es in Ost- und Südasien mit den fünf Nuklearmächten China, Russland, Indien, Pakistan und Nordkorea und den zwei beinahe Nuklearmächten Japan und Südkorea zu tun, die in bedrohliche hegemoniale Rivalitäten verstrickt sind. Hinzu kommt der irrationale Faktor des Regimes in Nordkorea.
Die Vereinigten Staaten als Gegengewicht
Dabei versetzt das machtpolitische Ausgreifen Chinas nicht nur Japan und Korea in Aufregung. Auch die Philippinen und Vietnam liegen mit Peking wegen Territorialstreitigkeiten über Kreuz und sehen in der Militärpräsenz der Vereinigten Staaten eine stabilitätspolitische Rückversicherung. Dabei gilt: Je aggressiver China eigene Interessen und Ansprüche durchzusetzen versucht, desto enger lehnen sich die Staaten der Region an die Vereinigten Staaten an.
Durch sein martialisches Auftreten untergräbt Peking jedoch selbst seine strategischen Ziele und fördert unfreiwillig dass, was es eigentlich verhindern will: Amerika wird wieder zur gefragten asiatisch-pazifischen Gleich- und Gegengewichtsmacht. In Ost- und Südostasien wird Obamas „Hinwendung nach Asien“ deshalb in einigen Ländern mit Erleichterung gesehen und die verstärkte US-militärische Präsenz in der Region – selbst vom ehemaligen Kriegsgegner Vietnam – ausdrücklich begrüßt.
In Ost- und Südostasien wird Obamas „Hinwendung nach Asien“ deshalb mit Erleichterung gesehen und die verstärkte US-militärische Präsenz in der Region – selbst vom ehemaligen Kriegsgegner Vietnam – begrüßt.
Vor diesem Hintergrund ist das Verhältnis der Vereinigten Staaten zum selbstbewussten Aufsteiger China der Schlüssel zu einer gedeihlichen Zukunft – nicht nur in Asien. Die beiden Länder arbeiten zusammen, sie liegen im Wettbewerb miteinander und sind zugleich – nicht nur als Schuldner und Gläubiger – vielfältig miteinander verflochten. Mehr denn je gilt es deshalb zu verhindern, dass Rivalität und Machtkonkurrenz die Oberhand über die Zusammenarbeit gewinnen.
Ist es ausgeschlossen, dass sich 2014 Ähnliches wie 1914 wiederholt? Ziel vorausschauender und kluger Diplomatie muss es sein, dies zu verhindern. Der Erste Weltkrieg war die Folge eines vollständigen – bewussten – Versagens der Diplomatie, einem besser jetzt als später, dem Anstacheln zum militärischen Abenteuertum. Und genau das macht den entscheidenden Unterschied zur Gegenwart aus: Die Welt, das Denken und die Strukturen der internationalen Diplomatie haben sich in den letzten hundert Jahren grundlegend verändert. Internationale Institutionen haben zu einer Verrechtlichung und damit auch zu größerer Transparenz und Berechenbarkeit der internationalen Beziehungen geführt.
Eines der Hauptprobleme Südostasiens ist, dass es dort belastbare institutionelle Arrangements – anders als in Europa – in Form von ASEAN und APEC nur in Ansätzen gibt. Vor Rückfällen in nationalistische Macht und Gleichgewichtspolitik ist man dort – wie auch aktuell in der Ukraine – deshalb noch lange nicht gefeit. Es ist daher Aufgabe nationaler, regionaler und internationaler Diplomatie, sich nicht fatalistisch in ein angenommenes Schicksal zu ergeben, sondern verantwortungsvoll und mit großem Engagement die Konflikte politisch zu regeln. Deshalb: 2014 ist nicht 1914. Die Realität ist schon kompliziert und gewaltträchtig genug.
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