„Meine Herren, bei dem aktuellen Ölpreis kann sich ein Erdölstaat eine Menge erlauben“, erklärte der Ökonom José Guerra vor acht Jahren bei einer Veranstaltung der deutsch-venezolanischen Industrie- und Handelskammer. Er setzte damit ein realistisches Schlusswort unter eine ziemlich schwarzmalerische Veranstaltung, bei der sich die Unternehmer über staatliche Eingriffe beklagten, aber überwiegend noch gute Gewinne einfuhren. Heute stellt sich die Frage, ob der Rubikon überschritten ist. Ein Anzeichen dafür ist die „Carabobo“. Weitgehend unbemerkt vom Rest der Welt legte der Öltanker Ende Oktober im Hafen der Raffinerie José an. Er hatte zwei Millionen Barrel algerisches Rohöl an Bord, das mit venezolanischem Schweröl gemischt auf dem Weltmarkt zu einem höheren Preis verkauft werden sollte. Das erinnert schon an so etwas wie eine Bankrotterklärung für ein Land, das selbst im Öl schwimmt.
Öleinnahmen auf Talfahrt
Mit allen Kräften versucht Venezuela derzeit, die Opec zu einer Förderreduzierung zu bewegen, um den Fall der Erdölpreise zu stoppen. In den vergangenen zehn Jahren hat Venezuela von der Hausse profitiert: Ein durchschnittlicher Fasspreis von 100 US-Dollar ließ genügend Geld in die Kassen schwappen, um die sozialistische Revolution und ihre Nachahmer zu finanzieren. 96 Prozent aller Deviseneinnahmen des Landes stammen aus dem Erdöl. Jetzt aber sank der Preis auf 69 US-Dollar. Und die Fördermenge ist laut Opec von knapp drei Millionen Fass täglich im Jahr 2002 auf 2,3 Millionen gesunken. „In Erdölstaaten ist der gesunde Menschenverstand umgekehrt proportional zum Erdölpreis“, scherzt der Wirtschaftsexperte Francisco Rodríguez. Mit der Tatsache einer 30 Prozent klammeren Staatskasse konfrontiert, verordnete Präsident Nicolás Maduro per Dekret höhere Steuern auf Alkohol, verschärfte die Strafen für Steuerhinterzieher und beförderte vier Milliarden US-Dollar aus dem jüngsten chinesischen Kredit auf die Konten der Zentralbank.
„In Erdölstaaten ist der gesunde Menschenverstand umgekehrt proportional zum Erdölpreis“, scherzt der Wirtschaftsexperte Francisco Rodríguez.
Ohne China wäre es schon längst zappenduster in Venezuela: 50 Milliarden US-Dollar hat Peking dem südamerikanischen Land an Krediten gewährt. Im Gegenzug musste es seine Erdölproduktion verpfänden und sich zu einer täglichen Lieferquote von 330 000 Barrel verpflichten. Die hat Peking nun freundlicherweise heruntergeschraubt. China ist nicht auf kurzfristige Profite aus, sondern auf eine langfristige Versorgung mit Ressourcen. Und Peking hat Milliarden in die venezolanische Schwerölindustrie investiert. Ein Kollaps käme China teuer zu stehen – deshalb kann Maduro weiterhin mit dem Wohlwollen der Chinesen rechnen.
Doch trotz Pekings Geldspritzen wird die Volkswirtschaft dieses Jahr nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) um drei Prozent schrumpfen und die Jahresinflation über 65 Prozent betragen. Die Finanzierungslücke wird immer größer, und da das Land praktisch sämtliche Konsumgüter importiert, wachsen die Versorgungsengpässe. Vom Kaffee über Milch bis hin zu Windeln und Aspirin – alles ist rationiert, für alles müssen die Venezolaner Schlange stehen. Im Schnitt acht Stunden pro Woche, haben Ökonomen ermittelt. Wenn sie es überhaupt bekommen. Da die staatlich festgesetzten Höchstpreise nicht einmal die Herstellungskosten decken, gibt es viele Güter gar nicht mehr, oder nur zum drei- bis fünffachen Preis auf dem Schwarzmarkt. Die einheimische Währung, die strikten Devisenkontrollen unterliegt, verfällt unterdessen rapide. Während der offizielle Kurs bei 6,3 Bolívar zum Dollar steht, bekommt man auf dem Schwarzmarkt für den grünen Schein 128 Bolívar. Börsenmaklern zufolge gab es einen solchen Kurs zuletzt während der Hyperinflation 1996.
Das heizt die Spekulation an. Durch Schattengeschäfte auf dem Devisenmarkt ist eine potente Klasse neureicher, regimetreuer Millionäre entstanden, die im Volksmund „boliburgueses“ genannt werden. Diese Profiteure sträuben sich mit Händen und Füßen gegen Maßnahmen, die die Wirtschaft sanieren würden: die Freigabe der Währung und drastische Einschnitte im Staatshaushalt und bei den subventionierten Erdöllieferungen an die Bruderländer. Es wäre nicht nur das Ende ihres persönlichen Reichtums, sondern auch die Kapitulationserklärung des Erdölsozialismus.
Machtkämpfe im Inneren
Auch bei der inneren Sicherheit häufen sich die Alarmzeichen. Mit 132 Morden auf 100 000 Einwohner gilt Caracas als zweitgefährlichste Stadt der Welt. Im Herbst wurden bei einer Razzia der Polizei fünf Mitglieder pro-chavistischer Milizen offenbar gezielt ermordet. Daraufhin drohten diese mit einer Rebellion und forderten den Rücktritt des Innenministers Miguel Rodríguez. Maduro gab nach und ersetzte Rodríguez durch Carmen Meléndez, die sofort die gesamte Polizeispitze entließ. Dahinter steckt offenbar ein Streit um die Rolle der schwer kontrollierbaren Milizen.
Auch die Machtkämpfe in der Sozialistischen Einheitspartei (PSUV) werden mit harten Manschetten ausgefochten, die „Säuberungen“ hinterlassen eine Menge Wunden. Als Planungsminister Jorge Giordani im Juni zurücktrat bedauerte er bitter die mangelnden Führungsqualitäten Maduros. Leider hätten kapitalistische Privatinteressen Überhand gewonnen, und die Revolution habe ihren Kurs verloren. Auch aus der PSUV Verstoßene wettern regelmäßig gegen die „korrupte Parteiführung“ und die „hirnlosen Emporkömmlinge“.
81 Prozent aller Venezolaner beurteilen die Situation im Land negativ.
Das alles schlägt für die Regierung negativ zu Buche. Als sie im November die Nachbarschaftskomitees der PSUV wählen ließ, gingen offenbar nicht einmal zehn Prozent der Parteimitglieder an die Urnen. Maduros Popularität fiel dem Umfrageinstitut Datanalisis zufolge auf 30 Prozent. 81 Prozent aller Venezolaner beurteilen die Situation im Land negativ. Zugleich wird die Lage für die Opposition und Kritiker immer ungemütlicher.
Human Rights Watch, Amnesty International oder die Interamerikanische Menschenrechtskommission betrachten die Verschlechterung der Menschenrechtslage schon seit langem mit Sorge. Im September schlossen sich auch die UN an. Die Arbeitsgruppe über willkürliche Festnahmen erklärte, dass die beiden Oppositionspolitiker Leopoldo López und Daniel Ceballos seit Anfang des Jahres zu Unrecht im Gefängnis sitzen und forderte ihre umgehende Freilassung. Maduro überhörte das. Als die beiden daraufhin im Gefängnis protestierten und selbstgemalte Pappschilder aus den vergitterten Fenstern hielten, wurde ihnen für zwei Wochen der Besuch gestrichen. López und Ceballos, Bürgermeister der Stadt San Cristóbal, standen im Februar an der Spitze der Proteste gegen Maduro. Heute sitzen sie im Militärgefängnis von Ramo Verde – einer Art Bunker für politische Gefangene.
Dort sitzt seit 2009 auch General Raúl Baduel. Er war langjähriger Weggenosse des verstorbenen Staatschefs, überwarf sich aber 2007 mit ihm über zunehmende kubanische Einmischung und die Verfassungsänderung, die Chávez´ unbegrenzte Wiederwahl ermöglichte. Das Wiederwahl-Referendum verlor der wutentbrannte Chávez, kurz darauf wurde Baduel wegen fadenscheiniger Korruptionsvorwürfe festgenommen.
Pressefreiheit gegen „Kommunikationshegemonie“
Ähnlich kritisch steht es um die Pressefreiheit. Hatte Chávez noch die Konfrontation mit den oppositionellen Privatmedien gesucht und ihnen Konzessionen entzogen, fährt Maduro eine dezentere, aber umso effektivere Strategie: Er setzt die Medien so lange unter Druck, bis ihre Eigentümer das Handtuch werfen und an neureiche, regierungsnahe Strohmänner verkaufen.
Mittel der Wahl: Die Steuerbehörde, Geldstrafen wegen angeblicher Verstöße gegen das Mediengesetz oder Devisensperren, die den Einkauf von Papier unmöglich machen. „Unseren Erhebungen zufolge werden mittlerweile 80 Prozent aller Medien direkt oder indirekt von der Regierung kontrolliert“, sagt Carlos Correo vom Medienobservatorium „Espacio Público“. Formal freilich sind die meisten von der Regierung unabhängige Privatmedien.
Im Index der Medienfreiheit von „Freedom House“ rangiert das Land auf dem 171. von 197 Plätzen – Tendenz fallend. Der Regierung geht es dabei um „Kommunikationshegemonie“, wie Ex-Informationsminister Andrés Izarra es definiert. Dem Volk solle seine von der Bourgeoisie gekaperte Stimme zurückgegeben werden. Mit diesem Argument erhielten auch die auf Linie gebrachten Streitkräfte und die staatliche Erdölfirma PDVSA einen eigenen TV-Kanal. Und weil die kritische Öffentlichkeit deshalb in digitale Medien und soziale Netzwerke abgewandert ist, geraten nun auch diese ins Visier der Behörden. Die ersten Internetcafés wurden bereits durchsucht, die ersten Blogger verhaftet. Der Vorwurf: Verschwörerische Volksverhetzung.
Ob und vor allem wie die bürgerliche Opposition darauf reagieren kann, ist fraglich. Die Wahlkreise hat Chávez so verändern lassen, dass sie die PSUV bevorteilen. Obwohl die Opposition schon bei den letzten Parlamentswahlen die Stimmenmehrheit erreichte, erhielt sie weniger Sitze als die PSUV – und keinen einzigen Posten im Parlamentspräsidium. Die populistische Wahlmaschinerie der PSUV ist legendär. Die Debatte um die Erneuerung des Wahlrats ist im Parlament blockiert, und es sieht so aus, als würde das chavistische Oberste Gericht die Ernennung an sich reißen. Die Proteste im Februar haben die Opposition gespalten. Der Flügel um López glaubt nicht, dass ein Regimewechsel durch Wahlen herbeizuführen ist, und setzt auf den Druck der Straße. Der moderatere Flügel um den Gouverneur und Ex-Präsidentschaftskandidaten Henrique Capriles dagegen glaubt an den demokratischen Weg. Er lag 2013 nur 1,5 Prozentpunkte hinter Maduro. In den Regionalwahlen einige Monate später sah das allerdings schon anders aus. Immerhin hat das Oppositionsbündnis MUD jetzt das Kriegsbeil begraben und beschlossen, 2015 erneut geschlossen anzutreten.
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