Obwohl Medienschelte von Präsident Hamid Karsai seit Jahren zum guten Ton gehört, ist seine Bilanz vom Wochenende gar nicht schlecht: Zum ersten Mal in der Geschichte Afghanistans scheidet ein Staatsoberhaupt freiwillig und friedlich aus dem Amt. Die Bürger Afghanistans haben am Samstag in großer Zahl darüber abgestimmt, wer Karsais Nachfolger wird. Klar ist schon jetzt: Der baldige Ex-Präsident wird weiter mit am Tisch sitzen – und das ist eigentlich ganz gut so.
Karsai wird weiterhin gebraucht
So wie sich die Lage in Afghanistan kurz nach den Wahlen darstellt, könnte Karsai nun der Broker einer Art großen Koalition werden. Ohne seine Unterstützung wird eine solche jedenfalls nicht loslegen können. Ersten Meldungen zu Folge soll der Kandidat des Nordens, Abdullah Abdullah, mit geringem Vorsprung vor dem Weltbank-Ökonom Ashraf Ghani liegen. Dahinter liegt weit abgeschlagen Karsais Protegé Zalmai Rassoul. Kein Kandidat scheint genug Stimmen für die absolute Mehrheit erzielt zu haben. Deshalb müssten nun mit Karsai verhandeln, um einen gefährlichen und kostspieligen zweiten Wahlgang zu vermeiden. Karsai, so wird berichtet, habe jedenfalls seit Samstag blendende Laune.
Anders als viele seiner Vorgänger überlebte Karsai seine Amtsperiode nicht nur, er schaffte es auch die widerstreitenden Ethnien zusammenzuhalten und die erste pünktliche Präsidentschaftswahl der ISAF-Zeit durchzuführen. Denn 2004 und 2009, als die Verantwortung dafür noch mehrheitlich bei der internationalen Gemeinschaft lag, kam es jeweils zu verfassungswidrigen Verzögerungen. Eigentlich müsste die internationale Gemeinschaft Karsai also dankbar sein.
Kaum ein anderer Politiker ist so drastisch vom Darling des Westens zum Buhmann vom Hindukusch abgestürzt.
Stattdessen ist der 57-jährige Paschtune längst allen ein Dorn im Auge. Kaum ein anderer Politiker ist so drastisch vom Darling des Westens zum Buhmann vom Hindukusch abgestürzt. So waren am Samstag aus Washington bittere Kommentare zu hören, wo Karsai nicht nur Präsidenten Obama, sondern im Laufe der Jahre auch den Kongress gegen sich aufgebracht hatte. „Er ist eine Fallstudie dafür, wie man die internationale Unterstützung nicht gewinnt“, ätzte der kalifornische Republikaner Edward R. Royce, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Repräsentantenhaus. Andere wünschten mit einem neuen afghanischen Präsidenten endlich einen Neustart der verkorksten Beziehungen herbei.
Doch daraus dürfte nur begrenzt etwas werden. Denn egal wer künftig in Kabul regiert – er wird den seit Dezember 2001 regierenden Karsai tatsächlich stets an seiner Seite haben. Auf dem Gelände des Arg, des afghanischen Präsidentenpalastes inmitten Kabuls, ist ein Gebäude bezugsfertig, in das Karsai mit seiner Frau und drei kleinen Kindern einziehen will. Seine Amtsperiode endet offiziell am 22. Mai. Schon vor Monaten hatte er sich selbst bereits zum lebenslangen Präsidentenberater erklärt.
Ein kluger Schachzug, denn angesichts der Bedrohungen könnte Karsai kaum in ein normales Leben in Afghanistan zurückkehren. Längst ist das geschickte Taktieren und Manövrieren ein Markenzeichen Karsais. Schon macht das Wort einer russischen Lösung die Runde. So wie der russische Präsident Vladimir Putin von 2008 bis 2012 agierte, als er unter seinem handverlesenen Nachfolger Dmitry Medvedev als Premier diente, nur um sich dann wieder als Präsident erfolgreich zur Wahl zu stellen. Laut Verfassung dürfte Karsai 2019 abermals kandidieren.
Karsai: Von der Marionette zum Apostaten
Kritik, auch heftige, an Hamid Karsai ist berechtigt - und in Afghanistan unumwunden und überall zu hören. Dennoch gilt er vielen Afghanen als ein nationaler Führer, der den USA und ihren arroganten Emissären endlich die Stirn bietet. Blickt man zurück, fällt auf, dass sich Karsais Beziehungen zum Westen, dessen Marionette und Lieblingsafghane er anfänglich war, im Takte der Misserfolge der NATO-Mission am Hindukusch verschlechterten. Eisig wurde es, als Karsai lautstark und wiederholt die Rolle der NATO in Afghanistan kritisierte und begann, sich immer heftiger über die Drohneneinsätze gegen Terroristen zu beschweren. Schließlich entließ er Dutzende, als gefährlich geltende Häftlinge aus afghanischen Gefängnissen, die die USA in ihrem Kampf gegen den Terror inhaftiert hatten. Aufgebracht reagierte man von Washington bis Brüssel, als Karsai sich schließlich im Herbst 2013 weigerte, ein mühsam ausgehandeltes bilaterales Sicherheitsabkommen mit den USA zu unterzeichnen.
Kritik an Karsai ist berechtigt - und in Afghanistan überall zu hören. Dennoch gilt er vielen Afghanen als ein nationaler Führer, der den USA und ihren arroganten Emissären endlich die Stirn bietet.
Dabei begegneten ihm die Afghanen selbst von Anfang an kritischer als seine internationale Fangemeinde in Washington. Dass Karsai im Oktober seine Unterschrift für das überlebenswichtige Abkommen verweigerte, war für viele in Kabul nur noch der Schlussstein einer selbstsüchtigen Präsidentschaft. Man warf ihm vor, aus persönlicher Ehrenrettung heraus das Schicksal Afghanistans zu verspielen. Viele junge Afghanen sehen in ihm auch den Vater der grassierenden Korruption im Staat. Damit liegen sie nicht ganz falsch.
Als Meister des Netzwerkens hat Karsai, dessen Vater Stammesführer des mächtigsten paschtunischen Popalzai Stammes war und unter dem letzten afghanischen König diente, ein engmaschiges Kontaktenetz übers Land gezogen. Darin eingewoben sind Milizenführer, die mit CIA-Spezialeinheiten zusammenarbeiten und lokale Machthaber rund um Kandahar, der Paschtunen-Hochburg im Süden des Landes. Dazu gehört auch der weitläufige und äußerst geschäftstüchtige Karsai-Clan, geführt von Karsais Brüdern und Halbbrüdern, die lukrative Öl- und Gaslizenzen sowie große Immobilieninvestments kontrollieren.
Karsai ist kein Demokrat im westlichen Sinne. Eher bedient er sich der Herrschaftstechniken eines traditionellen Stammesführers. Er gilt als äußerst emotional, aber auch als kühler Taktiker. Er versteht es, auf andere Ethnien und Gegner zuzugehen, oder gegnerische politische Gruppen zu spalten. Das Karsai’sche Patronage-Geflecht wurde dabei auch zum Nährboden einer monströsen Korruption, die von Milliardenzuwendungen aus dem Ausland angefacht wird. Diese Korruption wiederum ist Ursache dafür, dass Afghanistans Institutionen schwach und das Vertrauen der Bürger in ihren Staat wackelig geblieben sind.
Karsais gemischte Bilanz
Wenn Karsai nun offiziell aus dem Amt scheidet, wird seine Bilanz daher gemischt ausfallen: Stabilität, ja, bessere Lebensverhältnisse, nein. Die wieder erstarkten Taliban haben Karsai einen Strich durch viele Rechnungen gemacht. Dass der Friedensprozess auf ganzer Linie gescheitert ist, ist dabei aber zumindest anfänglich nicht Karsais Schuld. Das Scheitern geht zur Hälfte auf das Konto der USA, die alle anfänglichen Gelegenheiten, als die Taliban völlig geschwächt waren, ungenutzt ließen. Sie ignorierten Karsais Forderungen nach einer politischen statt einer militärischen Lösung.
Als Präsident muss Karsai sich vorwerfen lassen, dass er trotz der investierten Unsummen der internationalen Gemeinschaft wenig für einen besseren Lebensstandard der meisten Afghanen getan hat. Karsai wurde nie dabei ertappt, von sozialer Gerechtigkeit zu sprechen oder Kritik am neoliberalen Wirtschaftssystem zu üben, dass auf Drängen der USA am Hindukusch etabliert wurde. Doch auch dieses macht es dem Land heute nahezu unmöglich, eine eigene Wirtschaft in Gang zu bringen. Karsai hat es zwar verstanden den Interessensausgleich im eigenen Land zu moderieren, doch die Beziehungen zu den Nachbarstaaten haben zugleich unter seiner oft beklagten aufbrausenden Unberechenbarkeit und Vorliebe für Verschwörungstheorien gelitten. Hier hat er dem traditionellen Transit- und Handelsland Afghanistan keinen guten Dienst erwiesen.
Dabei wird die westliche Rolle in dieser Entwicklung gerne unterschlagen. Längst ist vergessen, dass Karsai in Washington einst als der Che Guevara Afghanistans gefeiert worden war, der 2001 über die pakistanisch-afghanische Grenze gefahren kam, lediglich ein Satellitentelephon und ein paar CIA-Kontaktnummern in der Tasche, während in Kabul amerikanische Raketen das Taliban-Regime zerschossen. Karsai knüpfte schnell Kontakte und war als der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. US-Präsident Bush lud Karsai, damals gerade 45 Jahre alt, als Vorzeigehelden zu seiner ersten State-of-the-Union-Ansprache nach den Terrorattacken auf das World Trade Center ein.
Dies kam nicht von ungefähr: Karsai war bereits im Dezember 2001 durch Washington im kleinen Kreis inthronisiert worden. Er erschien nahezu als Musterafghane. Er sprach perfekt Englisch, war pro-westlich eingestellt konnte glaubwürdige Witze über Starbucks vom Stapel lassen und hatte sogar schon einmal Thanksgiving in den USA gefeiert. Und doch: Anfänglich hatte er damit zu kämpfen, dass in Kabul in Wahrheit Washingtons Emissär Zalmay Khalilzad, ebenfalls ein Paschtune, regierte.
Es war und ist naiv zu glauben, dass ein starker Mann alleine die komplexen Probleme eines durch 30 Jahre Krieg und Bürgerkrieg zerstörten Landes lösen könnte.
Nur wenige Jahre später machte sich international Frust über die Probleme breit, die Karsais Amtszeit bis zum Ende geprägt haben: Seine persönliche Unsicherheit, seine oft unkonzentrierte und spekulative Art, und schließlich seine angeblich insgesamt gespaltene Persönlichkeit. Die später bei Wikileaks aufgetauchten Kabelberichte aus den Jahren 2004 bis 2010 legen beredt Zeugnis darüber ab, wie die internationale Gemeinschaft zunehmend genervt auf ihren einstigen Darling reagierte, der immer öfter zu widersprechen wagte.
Dennoch: Karsai wurde 2004 als der Hoffnungsträger ins Amt gewählt. Er präsentierte sich damals mit einem Reformprogramm und dem Vorhaben, die Koalitionen mit den blutbefleckten Warlords zu beenden. Die Afghanen waren weniger begeistert. Karsai verfehlte die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang, so dass die internationale Gemeinschaft Druck ausüben musste, um seine Gegner vor dem zweiten Wahlgang zum Aufgeben zu drängen. Das Spiel wiederholte sich 2009. Zudem war dies eine Wahl, die als massiv gefälscht in die afghanische Geschichte eingegangen ist.
Es war und ist naiv zu glauben, dass ein starker Mann alleine die komplexen Probleme eines durch 30 Jahre Krieg und Bürgerkrieg zerstörten Landes lösen könnte. Doch Karsais Nachfolger wird Aufgrund des Abzuges der internationalen Truppen mit neuen und vielleicht bedrohlicheren Herausforderungen ringen müssen. Karsai, wenn er fair spielt, als Verbündeten und Mitstreiter an der Seite zu wissen, kann dem Land Stabilität bringen. Abschreiben sollte man den unbequemen Karsai deshalb auf keinen Fall.