Wie bereits viele Experten festgestellt haben, liegt der Pax Americana der letzten Jahrzehnte auf der Intensivstation. Nach den ersten 150 Tagen der „America-First“– oder eher „Amerika-Allein“ – Präsidentschaft von Donald Trump scheint es, dass auf die traditionell stabilisierende Rolle der USA kein Verlass mehr ist. Während die Dominanz der USA auf der internationalen Bühne – und damit der Status Amerikas als weltweit „unersetzliche Nation“ – ins Wanken gerät, wird diese Bühne immer stärker von anderen Staaten und sogar nichtstaatlichen Akteuren bestimmt. Was bedeutet dies für die sogenannte liberale internationale Ordnung?
Diese wachsende Multipolarität steht nicht unbedingt im Widerspruch zu einem integrativen und hilfreichen globalen System. Aufstrebende Mächte wie China sind durchaus in der Lage, verantwortlich zu handeln. Und auch die Europäische Union, die momentan ihr Selbstvertrauen wiederzugewinnen scheint, kann immer noch eine konstruktive Rolle spielen.
In der Theorie der internationalen Beziehungen wird der „liberale Internationalismus“ dadurch gekennzeichnet, dass er Offenheit und Ordnung fördert und sich in multilateralen Organisationen verkörpert. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs boten diese Prinzipien die ideologische Grundlage für Abkommen wie das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen, aus dem später die Welthandelsorganisation entstand.
Aufstrebende Mächte wie China sind durchaus in der Lage, verantwortlich zu handeln.
Die Globalisierungsbemühungen im Rahmen des liberalen Internationalismus, der eng mit dem geopolitischen Westen und insbesondere mit Großbritannien und den USA in Verbindung stand, wurden durch den Kalten Krieg ernsthaft beschädigt. Nach dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 kam dann eine Zeit unumstrittener US-Vorherrschaft, die den Weg für die Verbreitung westlicher Regierungsstrukturen frei machte. Aber diese Verbreitung geschah nicht so schnell oder so umfassend wie gedacht.
Heute ist die Welt immer noch zersplittert. Die Anschläge in den USA vom 11. September 2001 führten dazu, dass sich viele Länder eng um Amerika sammelten. Dadurch wurde aber auch ein tiefer liegender Trend hin zu vermehrten Störungen durch unerwartete Akteure sichtbar – ein Trend, der in den folgenden fünfzehn Jahren nur noch stärker wurde.
Die Unterschiede zwischen den Ländern waren auch wirtschaftlicher Natur. Nicht einmal die „Große Rezession“ von 2007-2009 war so global, wie in den Industriestaaten oft angenommen wird. Im Jahr 2009, als das weltweite BIP insgesamt zurückging, wuchsen die Volkswirtschaften der beiden bevölkerungsreichsten Länder, China und Indien, um über 8 Prozent.
Die Länder, in denen sich die liberale Ordnung heute auflöst, sind gleichzeitig diejenigen, die das größte politische Kapital in den Aufbau dieser Ordnung investiert haben. Der Brexit Großbritanniens und die Wahl von Trump in den USA spiegeln die wachsende Wut über bestimmte wirtschaftliche und soziale Effekte der Globalisierung wider, darunter beispielsweise die Auslagerung von Arbeitsplätzen und der Produktion. Diese Wut hat zur Wiederbelebung einer Art von Nationalismus geführt, dessen Grundlage darin besteht, andere Menschen auszuschließen. Das westfälische Souveränitätsdenken kommt wieder in Mode, und es gibt bereits Prognosen, dass die Zeit der großen Machtblöcke wiederkommen könnte. Vertreter dieser Ansicht verweisen oft auf das Verhältnis zwischen den USA und China, das ihrer Meinung nach am ehesten für Spannungen sorgen könnte.
Aber diese Sichtweise ist zu pessimistisch. Auch wenn Chinas atemberaubender Aufstieg in den westlichen Hauptstädten sehr misstrauisch betrachtet wird, könnte sich das Land als weniger revisionistisch erweisen als befürchtet. So hat sich die chinesische Regierung kürzlich von der Trump-Regierung distanziert, indem sie betonte, das Pariser Klimaabkommen, aus dem sich die USA zurückziehen wollen, weiter zu unterstützen. In seiner wegweisenden Rede vom Januar beim Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums in Davos präsentierte sich Präsident Xi Jinping als standhafter Verteidiger der Globalisierung. Seiner Meinung nach müssen die Länder damit aufhören, „ihre eigenen Interessen auf Kosten anderer durchzusetzen“.
Die Länder, in denen sich die liberale Ordnung heute auflöst, sind gleichzeitig diejenigen, die das größte politische Kapital in den Aufbau dieser Ordnung investiert haben.
Die chinesischen Politiker sind sich der Tatsache sehr bewusst, dass ihr Land enorm von seiner tiefen Integration in die Weltwirtschaft profitiert hat. Und sie sind nicht bereit, die Grundlage ihrer Legitimität im Land aufs Spiel zu setzen: das Wirtschaftswachstum. Die Neue-Seidenstraße-Initiative (Belt and Road Initiative, BRI) – die Xi als „Projekt des Jahrhunderts“ bezeichnet hat – spiegelt getreu die Strategie Chinas wider, seine strategischen Verbindungen mit dem Rest von Eurasien und mit Afrika zu stärken und damit seine „soft power“ zu vergrößern.
Dabei geht China allerdings nicht so weit, die Grundlagen der liberalen Ordnung offen in Frage zu stellen. Im Rahmen der bemerkenswerten politischen Verlautbarung im letzten Monat auf dem BRI-Forum in Peking verpflichteten sich über dreißig Länder und internationale Organisationen zu „Frieden, Gerechtigkeit, sozialem Zusammenhalt, Integration, Demokratie, guter Verwaltung, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten, Geschlechtergleichheit“ und der Stärkung der Frauen.
Diese Verlautbarung zu wörtlich zu nehmen oder die neomerkantilistischen Tendenzen und illiberalen innenpolitischen Regeln Chinas zu ignorieren, wäre ein Fehler. Aber gleichzeitig ist das Reich der Mitte kein Monolith, dessen Werte sich völlig von denen des Westens unterscheiden. Eine derartige Vereinfachung ist weder für China noch für die USA angemessen, wo Hillary Clinton mehr Stimmen erhalten hat als Trump, oder für Großbritannien, wo diejenigen, die für den Verbleib in der EU waren, nur ganz knapp verloren haben.
In dieser Zeit der Unsicherheit und Disharmonie kann die EU eine führende Rolle übernehmen. Die Vertreter einer liberalen Ordnung, die trotz ihrer Defizite immer noch das attraktivste und flexibelste Paradigma für die internationalen Beziehungen ist, können nach Emmanuel Macrons Sieg in Frankreich neue Hoffnung schöpfen.
Eine vereinigte EU kann auch Reformen anstoßen, die dazu beitragen, die multilateralen Institutionen wiederzubeleben und ihnen zu neuem Schwung zu verhelfen. Wenn wir den Entwicklungs- und Schwellenländern die Hände reichen, ist es nicht zu spät, um eine wahrhaft globale Ordnung aufzubauen. Im Gegensatz zu der Zeit nach 1989 dürfen wir aber diese Arbeit diesmal nicht unvollendet lassen.
(C) Project Syndicate