Die jüngsten Friedensverhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern erinnern in vielem an vergangene gescheiterte Gespräche. Wenn man aber die Entwicklungen seit dem Gipfeltreffen von Camp David im Jahr 2000 betrachtet, ist eine Veränderung unübersehbar: Die Parteien der politischen Rechten, die eine Zweistaatenlösung ablehnen, sind in Israel stärker geworden. Und innerhalb der Rechten haben wiederum die national-religiösen Kräfte an Gewicht gewonnen. Obwohl sie nur 8 bis 10 Prozent der Bevölkerung ausmachen, konnten die Anhänger einer national-religiösen Politik vergangenes Jahr bei den Wahlen 20 Abgeordnete in die Knesset entsenden. Dies beweist den starken Einfluss, den national-religiöse Parteimitglieder innerhalb des Likud haben. Zugleich ebtablierte sich durch den Wahlerfolg die ebenfalls national-religiöse Partei Jüdisches Haus unter Naftali Bennett als wichtiger Koalitionspartner.

Aus dieser Entwicklung ergibt sich sowohl eine Gelegenheit als auch eine Verpflichtung, sich mit einer alten Schwachstelle der bisherigen Friedensverhandlungen zu befassen: mit der fast vollständigen Ausblendung religiöser Fragen und religiöser Interessensgruppen. 

 

Wer sind die National-Religiösen?

Wie man diese religiöse Gemeinschaft in die Konfliktlösung einbeziehen könnte, liegt keineswegs auf der Hand. Ihr ideologischer Kern besteht aus Anhängern der Lehre des verstorbenen Rabbi Avraham Yitzhak HaCohen Kook, die glauben, dass Erlösung nur unter der Bedingung möglich ist, dass das ganze Volk Israel im Heiligen Land unter vollständiger jüdischer Souveränität lebt. Der Siedlungsbau ist daher ein wesentliches Element ihres Vorhabens.  

Kooks heutige Anhänger gehören zu den leidenschaftlichsten Gegnern der Zweistaatenlösung und sind die Speerspitze der Siedlungsbewegung. In den Augen internationaler Beobachter waren sie mit ihren Versuchen, das Siedlungsprojekt voranzutreiben, recht erfolgreich. Tatsächlich rührt ihr zunehmend selbstbewusstes Auftreten und erfinderisches Vorgehen aber gerade daher, dass sie sich der Gefahr von Rückschlägen für ihr Projekt bewusst sind. Entgegen dem äußeren Anschein von Erfolg sorgen sich Israels national-religiöse Kräfte nämlich mehr denn je, dass ihr Siedlungsprojekt eine Grenze erreicht hat, die sie in den letzten zwanzig Jahren nicht zu überschreiten vermochten. Zwar sind die bestehenden Siedlungen gewachsen, aber seit 1996 sind so gut wie keine neuen offiziellen Siedlungen gegründet worden. In den über 100 Außenposten – die nach israelischem Gesetz illegal sind – leben kaum mehr als 5000 Siedler. Ihr Konflikt mit herrschendem Recht hat die Befürworter der Siedlungsbewegung in die Defensive gebracht.

Diejenigen, die sich gegen die staatliche Siedlungsbegrenzung aufbäumen, sind in erster Linie junge Aktivisten in illegalen Außenposten.

Besonders seit Israels Rückzug aus dem Gazastreifen 2005 hat sich bei ihnen ein Gefühl der Niederlage breit gemacht. Damals wurden alle Siedlungen im Gazastreifen sowie vier kleinere Siedlungen im Westjordanland in einem unilateralen Akt Israels geräumt. Fast 9000 Siedler wurden in weniger als einer Woche entwurzelt. Die national-religiösen Kräfte sahen, dass 35 Jahre des Aufbaus sehr viel leichter zunichte gemacht werden konnten, als sie hatten glauben wollen. Wer bis zu diesem Tag gemeint hatte, göttliches Eingreifen würde den Rückzug verhindern, musste einsehen, dass sich seine Ziele nicht allein durchs Gebet erfüllen würden, sondern politisches Handeln gefragt war.

Diejenigen, die sich gegen die staatliche Siedlungsbegrenzung aufbäumen, sind in erster Linie junge Aktivisten in illegalen Außenposten. Sie stellen sich nicht nur gegen den Staat, sondern auch gegen die Kompromisse der Mehrheit der Siedlerbewegung. Ihre Frustration über Israels Vorgehen gegen illegale Außenposten drückt sich häufig in Gewalt und Vandalismus aus. Mit ihren berüchtigten “price tag” Angriffen zielen sie gegen das Eigentum und die Gebetshäuser ihrer palästinensischen Nachbarn, gegen nicht-arabische Kirchen, und auch gegen ihre innenpolitischen israelischen Gegner. In jüngster Zeit kam es gehäuft zu Auseinandersetzungen mit den israelischen Verteidigungskräften, weil das israelische Militär versuchte, ihre Aktivitäten in Schach zu halten.  

Der ideologische Kern betrachtet auch das jüdische Volk und den Staat Israel als heilig.

Der ideologische Kern der national-religiösen Bewegung reagierte auf die halbherzige Siedlungspolitik der Regierung mit dem Ausbau seiner Macht innerhalb des Likud, um so die nationale Entscheidungsfindung von innen zu beeinflussen. Seine Mitglieder lancierten gezielte Kampagnen, um die öffentliche Meinung zugunsten einer anhaltenden israelischen Kontrolle über das Heilige Land zu beeinflussen. Einige ihrer prominenten Führer sahen die Notwendigkeit, eine klare Alternative zur Zweistaatenlösung zu formulieren, und warben nun deutlicher und systematischer denn je für eine Annektion einiger oder aller Teile des Westjordanlands und für die Einbürgerung einiger oder aller dort lebenden palästinensischen Araber.

 

Jenseits der Stereotype

Man sollte jedoch weder Kooks Doktrin noch ihre Anhänger auf ihre Bindung an das Land reduzieren. Ihre theologische Doktrin betrachtet nicht allein das Land als heilig, und nicht alle national-religiösen Anhänger sind, was das Land angeht, gleichermaßen kompromisslos. Vielmehr betrachtet ihr ideologischer Kern auch das jüdische Volk und den Staat Israel als heilig. Die Existenz des Staates Israel ist für sie gar ein Schritt auf dem Weg der Erlösung.  

Entsprechend respektieren Kooks Anhänger Entscheidungen, die von einer jüdischen Mehrheit getragen werden, und lehnen den gewaltsamen Widerstand gegen den Staat ab. Diese Elemente ihrer Doktrin könnten sehr wichtig werden, sollte es zu einem Durchbruch in den Verhandlungen mit den Palästinensern kommen. Bezeichnenderweise haben sich die Jugendlichen, die „price tag“ Angriffe verüben, von dieser Doktrin verabschiedet und halten sich stattdessen an Rabbis, die sich auf die Lehre von Yitzhak Ginsburg, von Chabad oder Meir Kahane berufen. Deren Lehre stellt nicht die Existenz des Staates Israel als Schritt zur Erlösung in den Mittelpunkt, sondern den vermeintlichen qualitativen Unterschied zwischen Nichtjuden (Gentiles) und Juden.

Bedeutsam ist außerdem, dass sich die national-religiöse Gemeinschaft in einen ideologischen Kern und einen Mainstream teilt. Für den ideologischen Kern nehmen Rabbis sowohl religiös als auch  politisch eine überhöhte Rolle ein. Für den Mainstream aber sind Rabbis eher Ansprechpartner in Fragen persönlicher Glaubensausübung. Sie suchen nicht in der Tora nach Orientierung wenn es um nationale Angelegenheiten geht und sind entsprechend pragmatischen Kompromissen gegenüber aufgeschlossener. Ihre Unterstützung für eine Zweistaatenlösung zu gewinnen, ist daher unter bestimmten Umständen möglich.

 

Einbeziehung der national-religiösen Kräfte in den Friedensprozess

Bisher wurde der Friedensprozess hauptsächlich von der israelischen Linken und Mitte vorangetrieben, stets unter Ausschluss der religiösen Rechten. Es ist an der Zeit, diese Herangehensweise zu überdenken und die Sorgen der national-religiösen Kräfte sowie ihre teils berechtigte Kritik an den bisherigen Verhandlungen ernst zu nehmen.

Die national-religiösen Kräfte verweisen in ihrer Kritik auf  (mindestens) vier Fehler der politischen Linken im Friedensprozess. Erstens sei die Linke der Ansicht, es genüge für die Zukunftssicherung Israels, eine jüdische Mehrheit im Staat sicherzustellen, ohne gleichzeitig dafür zu sorgen, dass sich Wohlstand und Charakter der jüdischen Gesellschaft festigen. Zweitens betrachte sie die Religion als eine individuelle Angelegenheit, womit sie die religiöse Dimension des Friedensprozesses auf den freien Zugang zu den heiligen Stätten und die freie Glaubensausübung beschränke und Israels Aufgabe, den besonderen Charakter der Heiligen Stätten zu bewahren, vernachlässige. Drittens stehe die Linke den Siedlern und ihrem Wunsch, eine Verbindung mit dem gesamten Heiligen Land zu erhalten, geradezu feindselig gegenüber, weil sie die Siedler als Hindernis, nicht als Partner im Friedensprozess ansähe. Und viertens gehe sie davon aus, dass eine Versöhnung von Israelis und Palästinensern und eine gegenseitige Anerkennung ihres geschichtlichen Selbstbildes – wenn überhaupt – erst nach der Beilegung des Konflikts möglich sei.

Ein Abkommen mit maximaler Legitimität, das von den national-religiösen Kräften unterstützt oder zumindest geduldet wird, ist nur möglich, wenn sich das bisherige Paradigma in drei Punkten wandelt.

Ein Abkommen mit maximaler Legitimität, das von den national-religiösen Kräften unterstützt oder zumindest geduldet wird, ist nur möglich, wenn sich das bisherige Paradigma in drei Punkten wandelt: (1) Den Kernforderungen der national-religiösen Kräfte muss Beachtung geschenkt werden. (2) Ein zukünftiges Abkommen muss so ratifiziert werden, dass darin eine klare jüdische Mehrheit zum Ausdruck kommt. (3) Bei seiner Umsetzung müssen alle Risiken einer erneuten Konfrontation minimiert werden.

Zu Punkt 1: Sicherlich fiele es Israels national-religiösen Kräften leichter, den Verlust von Land zu verschmerzen, wenn sie gleichzeitig davon überzeugt wären, dass das Abkommen letztlich den jüdischen Charakter Israels sichert. Darauf zu beharren, dass die Palästinenser den jüdischen Charakter Israels anerkennen, wie Netanyahu es tut, könnte den Friedensprozess hingegen scheitern lassen – darauf deuten die aktuellen Verhandlungen hin –, denn die Palästinenser würden dadurch einige ihrer Kerninteressen bedroht sehen. Verpflichtete sich der israelische Staat jedoch dazu, nach einem Friedensabkommen jüdische Bildung und Kultur zu fördern, würde er damit zwar in einigen Teilen der Gesellschaft auf Widerstand stoßen, könnte dafür aber wahrscheinlich umso erfolgreicher die Unterstützung der national-religiösen Kräfte gewinnen und eine wesentlich breitere israelische Mitte-Rechts-Wählerschaft ansprechen als bisher.

Zwei Regelungen in der Ausgestaltung des Abkommens könnten seine Akzeptanz fördern: Den israelischen Juden müsste erlaubt werden, heilige Stätten unter palästinensischer Kontrolle zu besuchen und dort zu beten, und es müsste ihnen ein Wohnrecht im zukünftigen Palästinenserstaat gewährt werden. Beides würde den national-religiösen Widerstand gegen ein Abkommen schwächen – erst recht, wenn diese Rechte mit der Bedingung verknüpft würden, dass die Palästinenser die religiöse und historische Verbindung der Juden mit dem Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer anerkennen, wie es bereits in der Palästinensischen Unabhängigkeitserklärung von 1988 angedeutet wurde. Den Palästinensern Hoheitsrechte über den Tempelberg zu gewähren, wäre für national-religiöse Gläubige angesichts der zentralen Bedeutung dieses Ortes im jüdischen Messianismus eine theologische Niederlage und entsprechend heftig wäre ihre Reaktion. Gelänge es, die Frage der Souveränität zu umgehen – zum Beispiel, indem man sich darauf einigte, dass Gott allein die Hoheitsgewalt zukommt oder indem man die Frage ganz unter den Tisch fallen ließe –, dann könnte man den Widerstand auf national-religiöser Seite erheblich mindern.

Zu Punkt 2: Ein zukünftiges Friedensabkommen müsste so gestaltet werden, dass die Unterstützung durch eine israelische Mehrheit darin deutlich wird. Da der ideologische Kern der national-religiösen Gemeinschaft das „Volk Israel“ heiligt (ein theologischer Begriff, der Juden meint und nicht israelische Staatsangehörige), gibt es eine Tendenz, sich den Entscheidungen der jüdischen Mehrheit zu beugen. Eine solche Mehrheit könnte man über eine absolute Mehrheit in der Knesset herstellen oder über ein israelisches Referendum. Ein solches wäre für die national-religiöse Gemeinschaft noch aussagekräftiger, denn sie will davon überzeugt werden, dass es unter Israels Juden eine Mehrheit für das Abkommen gibt. Eine Mehrheit unter Einschluss von Israels arabischen Bürgern würde sie aber nicht in demselben Maße respektieren. Weil aber demokratische Normen verbieten, dass einer Gruppe der Bevölkerung ein stärkeres Gewicht gegeben wird als anderen, wäre diese Form der Ratifizierung wahrscheinlich sowohl bei Juden wie auch bei Arabern umstritten. Hier müsste man nach einer kreativen Lösung suchen.

Viele Forderungen der national-religiösen Kräfte sind zweifellos problematisch für Teile der israelischen Gesellschaft und die Palästinenser.

Zu Punkt 3: Bei der Umsetzung des Abkommens dürfte man keinesfalls so abrupt und konfrontativ vorgehen wie 2005 bei Israels Abzug aus Gaza und den vier Siedlungen im nördlichen Westjordanland. Man müsste im Voraus dafür sorgen, dass für die Umgesiedelten Unterkünfte und finanzielle Hilfen bereitstehen. Außerdem täte die israelische Regierung gut daran, die Siedlungen nur schrittweise zu räumen. Der Staat könnte beispielsweise die Siedlungen, die geräumt werden sollen, nur notdürftig weiterversorgen und gleichzeitig den Siedlern bereits fertiggestellte Wohnanlagen auf israelischem Staatsgebiet anbieten oder in von Israel auf Basis eines Abkommens annektierten Gebieten. Ein Wohnrecht für diejenigen Juden, die auch unter palästinensischer Verwaltung dort bleiben wollen, würde den Widerstand gegen den Umsiedlungsprozess sicher weiter abschwächen.

Viele Forderungen der national-religiösen Kräfte sind zweifellos problematisch für Teile der israelischen Gesellschaft und die Palästinenser. Wenn jedoch das Einverständnis der national-religiösen Kräfte für das Zustandekommen eines Abkommens unerlässlich ist – und darauf weist zur Zeit alles hin –, dann gilt es, beiden Seiten Anreize zu bieten und ein beiderseitig annehmbares Abkommen zu entwickeln. Für den Friedensprozess wird es höchste Zeit, die national-religiösen Israelis nicht mehr nur als Störfaktoren zu betrachten, sondern einen ehrlichen Versuch zu starten, sie in die Suche nach einem Weg zum Frieden einzubeziehen.