Der neue Regierungschef in Bangladesch steht vor einer schwierigen Aufgabe: Er muss ein Land wieder aufbauen, das sich seit Jahrzehnten demokratisch zurückentwickelt und das unter systematischer Korruption sowie unter einem zerrütteten Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft leidet. Nur 72 Stunden nach dem sang- und klanglosen Rücktritt der autoritären Premierministerin Sheikh Hasina – einst als „Asiens Eiserne Lady“ tituliert und von dem von der Generation Z initiierten Sommeraufstand in Bangladesch ins Exil getrieben – wurde eine Interimsregierung von Nicht-Politikern vereidigt. Regierungschef wurde der einzige Nobelpreisträger des Landes, Mikrokredit-Pionier Muhammad Yunus. Der bezeichnete Hasinas Abtritt als Bangladeschs „zweite Unabhängigkeit“.
Schockierend war, wie rasant sich der Sturz der Premierministerin Hasina vollzog. Was am 1. Juli als friedlicher Protest von Studierenden mit der Forderung nach der Reform einer Quotenregelung für Jobs im öffentlichen Dienst begann, bei der die Stellenvergabe massiv politisch beeinflusst wird, weitete sich innerhalb eines Monats zu einem Massenaufstand gegen die Regierung aus. Auslöser für die Ausweitung war eine Reihe von Fehltritten der Regierung und das brutale Vorgehen gegen wehrlose Demonstranten, bei dem der ganze Machtapparat aufgeboten wurde – bis hin zum Schießbefehl. Zwischen 15. und 21. Juli kam es auf den Straßen der größeren Städte im Land zu kriegsähnlichen Zuständen, als die Regierung mit schwer bewaffneten Einsatzkräften von Polizei, Grenzschutz und der berüchtigten paramilitärischen Schnelleingreiftruppe Rapid Action Battalion tödliche Gewalt anwendete. Die milizähnliche Studentenorganisation Bangladesh Chhattra League, die der zu dem Zeitpunkt noch herrschenden Partei von Sheikh Hasina nahesteht, stand den Einsatzkräften zur Seite.
Mehr als 300 Menschen – die meisten von ihnen junge Protestierende – wurden in diesen Tagen getötet. Parallel wurde vom 18. bis 28. Juli eine generelle Internetsperre verhängt. Als die ersten Fotos und Videoaufnahmen publik wurden, die die unverhältnismäßige Reaktion der Staatsmacht dokumentierten, wurde aus den Studierendenprotesten rasch ein breiter Massenaufstand, dem sich Menschen aus allen Gesellschaftsschichten anschlossen. Sie forderten Hasinas Rücktritt. Zwei Faktoren waren am Ende ausschlaggebend für das Aus der Regierung: Zum einen entzog die einflussreiche Armee des Landes ihr die Unterstützung, und zum anderen hatte das Regime in den Augen der Öffentlichkeit moralisch eine verheerende Niederlage erlitten.
Hasinas autoritäre Herrschaft stützte sich auf zwei Säulen: Verfolgung und Vetternwirtschaft.
Durch den plötzlichen Zusammenbruch des Regimes, das mit eiserner Hand geherrscht hatte, wurde auch dessen verrottetes Fundament sichtbar. Hasinas autoritäre Herrschaft, die 16 Jahre andauerte, stützte sich auf zwei Säulen: Verfolgung und Vetternwirtschaft. Die skrupellose Unterdrückung jeder Art von Dissens erforderte ein fest etabliertes Klientelnetzwerk, das die zunehmend unbeliebte Diktatorin stützte. Dafür drückte Sheikh Hasina bei der systematischen Korruption und Misswirtschaft ein Auge zu. Das Ergebnis: Bangladeschs makroökonomische Stabilität geriet in den vergangenen Monaten ernsthaft ins Wanken – durch zweistellige Inflationsraten, massive Kapitalflucht, geringe Devisenreserven und einen zutiefst verunsicherten Bankensektor. Die jahrzehntelange Aushöhlung der Demokratie und die mangelnde Verantwortlichkeit sind in alle staatlichen Institutionen vorgedrungen und schwächen deren Fähigkeit, für eine demokratische Staatsführung zu sorgen.
Die von Professor Yunus angeführte Interimsregierung – der Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft und Wortführer der Studierenden angehören – übernimmt ein politisch unbeständiges und wirtschaftlich fragiles Land. Zugleich gibt es in weiten Teilen der Bevölkerung die Erwartung, dass Yunus’ Regierung die dringend benötigte makroökonomische Stabilität herstellen und durch nachhaltige Reformen die junge Demokratie von Bangladesch so stärken werde, dass nicht noch einmal ein Autokrat oder eine Autokratin auf den Plan treten kann.
Die Ernennung von Muhammad Yunus sprengt den Regelungsbereich der geltenden Verfassung.
Das ist für jede Regierung eine Herkulesaufgabe – erst recht für eine Übergangsregierung, die nicht durch eine Wahl legitimiert ist. In der Vergangenheit wurden Interimsregierungen oder „geschäftsführende“ Regierungen vom Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs geleitet, bestanden aus Technokraten und hatten nur die Aufgabe, freie und faire Wahlen zu organisieren. Diese Regelung, die 1991 in der Verfassung verankert und bis 2008 angewendet wurde, schaffte Hasinas Regierung 2011 durch eine Verfassungsänderung ab. Deshalb sprengt die Ernennung von Muhammad Yunus den Regelungsbereich der geltenden Verfassung. Doch angesichts der Schwere der aktuellen politischen Krise in der Phase nach dem Aufstand bezieht das Interimskabinett seine Legitimation zweifellos aus der von den Studierenden angeführten Protestbewegung. Yunus ist sich dieser neuen Realitäten sehr bewusst. Er hat zwei führende Köpfe der Studierendenbewegung in die Interimsregierung berufen und umgehend den Beitrag der Generation Z zum Sturz des Hasina-Regimes gewürdigt.
Die Verfassung verlangt zwar, dass innerhalb von 90 Tagen Wahlen stattfinden müssen, aber allgemein wird erwartet, dass die Yunus-Regierung deutlich länger im Amt bleiben wird. Die Interimsregierung hat dieses Problem noch nicht offiziell zum Thema gemacht, aber wahrscheinlich wird eine verfassungsrechtliche Lösung geschaffen werden, die als Legitimationsgrundlage für eine Amtszeit von einem oder zwei Jahren dient, damit einige Regierungsaufgaben von übergeordneter Bedeutung bewältigt werden können. Trotzdem muss die Interimsregierung sich darüber im Klaren sein, dass sie ihre Legitimität fortlaufend mit rechtlichen Mechanismen absichern muss, damit ihre Reformagenda eine Berechtigungsgrundlage hat.
Die dringlichste Herausforderung für die Regierung von Muhammad Yunus dürften die wirtschaftlichen Probleme sein. Zuerst muss die Regierung das Land makroökonomisch wieder stabilisieren, indem sie die Inflation wirksam bekämpft und die schwindenden Devisenreserven aufstockt. Im Januar 2023 wurden Bangladesch vom Internationalen Währungsfonds Finanzhilfen von 4,7 MilliardenUS-Dollar gewährt, die aus der Erweiterten Kreditfazilität und dem Resilienz- und Nachhaltigkeitsfonds des Währungsfonds kommen und die die makroökonomische Stabilität sichern sollen. Auf kurze bis mittlere Sicht wird die Regierung möglicherweise alternative Quellen für die Staatsfinanzierung ausfindig machen und unpopuläre Maßnahmen wie eine rigide Sparpolitik und staatliche Ausgabenkürzungen beschließen.
Die politische Landschaft nach der Revolte ist komplex und unbeständig.
Die zweite Herausforderung ist die Etablierung eines neuen Gesellschaftsvertrags zwischen Regierung und Bevölkerung. Die politische Landschaft nach der Revolte ist so komplex und unbeständig, dass sie sowohl Chancen auf einen Neubeginn als auch die Gefahr neuerlicher Unruhen birgt. Kaum eine Woche im Amt, steht die Regierung Yunus schon jetzt unter gewaltigem öffentlichem Druck, die richtige Balance zwischen politischen Erfordernissen und den Forderungen der Bürgerinnen und Bürger zu finden. Die politischen Parteien drängen darauf, so schnell wie möglich Wahlen abzuhalten, während die Bevölkerung einhellig der Meinung ist, zuerst sollten grundlegende institutionelle und politische Reformen auf den Weg gebracht werden. Parallel muss die Interimsregierung auch für mehr Recht und Ordnung sorgen, die öffentliche Sicherheit gewährleisten und die religiösen Minderheiten schützen. Wenn es ihr in den kommenden sechs bis neun Monaten nicht gelingt, die allgemeine Sicherheitslage und die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen spürbar zu verbessern, könnte dies an der Legitimationsgrundlage der Interimsregierung zehren.
Außenpolitisch müsste die Regierung Yunus die von Hasina betriebene Abhängigkeit von Indien beenden und die angeschlagenen Beziehungen zu den westlichen Demokratien und insbesondere zu den USA reparieren. Dass Indien aufgrund des Verlusts seines engsten Verbündeten in einer ihm feindlich gesonnenen Region in großer Sorge ist, lässt sich daran ablesen, dass in Delhi leidenschaftlich über die Rolle der CIA und Washingtons bei der Herbeiführung des Sturzes von Sheikh Hasina diskutiert wird. Diese Theorien sind nicht nur Spekulation, sondern verkennen auch die neuen Realitäten in Bangladesch und die Erwartungen und Ansprüche der dortigen Bevölkerung. Unterdessen hat Pakistan, Erzfeind der USA und Indiens, der Interimsregierung umgehend seine Unterstützung angeboten. Wenn Indien den Demokratisierungsprozess nicht unterstützt und weiterhin an der alten Regierungspartei festhält, riskiert es, dass in Südasien die Entfremdung weiter um sich greift.
Nach 15 Jahren, in denen die Demokratie sich zurückentwickelt hat und die staatlichen Institutionen systematisch geschwächt wurden, wird es vielleicht schwer sein, wieder eine demokratische Regierungsführung und funktionierende Institutionen aufzubauen. Möglicherweise ist dies von einer nicht durch Wahlen legitimierten Technokratenregierung gar nicht zu leisten. Doch Muhammad Yunus’ Interimsregierung hat eine Chance, die sich jeder Generation nur einmal bietet: Sie kann zumindest das Fundament für diejenigen legen, die nach ihr kommen.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld