Die Fragen stellten Alexander Isele und Konstantin Hadži-Vuković.

Bangladeschs Regierungschefin Sheikh Hasina ist nach wochenlangen Protesten zurückgetreten und nach Indien ausgereist. Wie ist die Situation im Land?

Zum einen herrscht ein Gefühl großer Freude vor, in Gesprächen mit Vertretern vor Ort fällt vor allem ein Satz, der die vorherrschende Stimmung beschreibt: Ein Sieg des Volkes. Dass es trotz der schweren Gewalt durch Sicherheitsorgane in den letzten Wochen gelungen ist, sich über alle gesellschaftlichen und politischen Gräben hinweg der Einschüchterung der Regierung zu widersetzen, weiter auf die Straße zu gehen und Hasina somit tatsächlich zum Rücktritt zu zwingen, das ist ein kollektiver, ja identitätsstiftender Moment. Der wird für viele unvergesslich bleiben und könnte eine ganze Generation prägen. Allerdings kam es auch am Montag zu schwerer Gewalt mit wohl weit über 100 Toten. Am Morgen vor dem Rücktritt kamen noch zahlreiche Demonstranten ums Leben und der Armee gelang es bis Montagabend nicht, die Situation nach der Ausreise von Hasina unter Kontrolle zu bringen. Aus zahlreichen Landesteilen gab es Berichte über Plünderung, Brandstiftung und Selbstjustiz. Im Fadenkreuz: Vertreter der abgesetzten Awami-Liga, aber auch Angehörige von Minderheiten, insbesondere Hindus. Zum Gesamtbild gehören aber auch die Bilder von muslimischen Nachbarschaftswachen, die Hindu-Tempel beschützen und sich gegen eine extremistische Vereinnahmung der Revolution zur Wehr setzen.

Sheikh Hasina regierte Bangladesch seit 2009. Warum kam es gerade jetzt zu den Studentenprotesten gegen sie?

Die Proteste gegen die Wiedereinführung einer Quotenregelung, die den Zugang zu Jobs im öffentlichen Dienst regelt, und 30 Prozent der neuen Jobs für die wenigen Nachkommen der „Freiheitskämpfer“ der Unabhängigkeit von 1971 reservierte, tobten seit Wochen. Die Quote steht für viele Bangladeschis exemplarisch für die Klüngelwirtschaft einer kleinen Elite. Die Bewegung war dennoch anfangs keinesfalls gegen das System an sich gerichtet. Dass sie sich zu einem breiten Volksaufstand gegen das System ausweitete, hatte mehrere strukturelle Gründe. Die Awami-Liga und Sheikh Hasina, die lange eigentlich deutlich beliebter war als ihre Partei, hatten über die letzten Jahre bereits stark an gesellschaftlichem Rückhalt verloren. Rapide steigende Lebenshaltungskosten machen weiten Teilen der Bevölkerung bereits seit der Pandemie zu schaffen. Dazu leidet die sehr junge Bevölkerung – das Durchschnittsalter liegt bei 27 Jahren – an einer massiven Jobkrise und einem starren politischen System. 

Die Awami-Liga hatte die letzten Wahlen Anfang des Jahres nur durch massive Repression gewinnen können.

Politisch hatte die Awami-Liga die letzten Wahlen Anfang des Jahres nur durch massive Repression gewinnen können. Die wichtigsten Oppositionsparteien waren von einem fairen Wahlprozess ausgeschlossen. Das System war also schon seit langem im Kern instabil. Die Regierung ging nun mit massiver Gewalt gegen die Proteste vor, die auch aus Gesellschaftsschichten kamen, die die Awami-Liga bisher als das kleinere Übel in einem gewaltvollen und polarisierten politischen System ansahen. Eine Fehleinschätzung. Jede Repressionswelle führte zu einem Anstieg des Zorns in der Bevölkerung, es setzte sich eine Eskalationsspirale in Gang, die die Regierung nicht mehr in den Griff bekam. Statt der Quote gab es nur noch eine Forderung: Die Absetzung von Sheikh Hasina. Angetrieben wurden die Proteste von der GenZ, die das Land demografisch dominiert, doch politisch bisher keine Rolle spielte. Nur wenige Amtsträger der Awami-Liga waren unter 40.

Der Rücktritt von Hasina wurde von General Waqar-uz-Zaman verkündet, der die Bürgerinnen und Bürger aufforderte, die Gewalt zu beenden. Welche Rolle spielte das Militär beim Rücktritt?

Dem Militär kommt, wie auch bei früheren Machtwechseln in Bangladesch, eine Schlüsselrolle zu. Zuletzt hatte das Militär 2007 politisch eingegriffen und eine Übergangsregierung installiert. Sheikh Hasina war es in ihrer zweiten Amtszeit ab 2009 größtenteils gelungen, das Militär als politischen Faktor auszuschalten, indem sie zahlreiche Loyalisten auf höhere Posten berief. Auch uz-Zaman hat über seine Frau familiäre Verbindungen zu Hasina. Dennoch unterscheidet sich die Rolle des Militärs von anderen Sicherheitsorganen des Staates. Im Gegensatz zu Polizei und Grenzschutz hielt sich das Militär bei den Gewaltexzessen gegen Protestierende lange zurück, auch nach einem Schießbefehl der Regierung zur Durchsetzung der Ausgangssperre durch Hasina. Die Institution des Militärs gilt daher – anders als insbesondere die Polizei – als weniger kompromittiert. 

Im Gegensatz zu Polizei und Grenzschutz hielt sich das Militär bei den Gewaltexzessen gegen Protestierende lange zurück.

Als sich am Sonntag und Montagmorgen abzeichnete, dass sich trotz Ausgangssperre eine große Anzahl Menschen einem Marsch auf Dhaka anschließen würde, stand die Militärführung vor der Wahl, den Protest auf Befehl der Regierung mit einer weiteren Gewalteskalation niederzuschlagen oder aber Hasina gegen ihren Willen zu evakuieren. Die Militärführung entschied sich für Letzteres und konnte so ein weiteres Blutbad sowie eine mögliche gewaltsame Erstürmung des Wohnsitzes von Hasina verhindern. Nachdem Hasina das Land per Militärhubschrauber verlassen hatte, war die Regierung im Kern zusammengebrochen. Demonstranten erstürmten ohne nennenswerte Gegenwehr den Wohnsitz von Hasina und das Parlament.

Justizminister Anisul Huq nennt die Lage im Land „explosiv“. Wie kann ein politischer Übergang gelingen?

Die alte Ordnung ist zusammengebrochen, eine Neue hat sich zur Stunde noch nicht herausgebildet. Das Militär zeigt sich bisher bei der Durchsetzung des Gewaltmonopols überfordert. Dabei wäre es nun wichtig, die Straße nicht organisierten Gewaltakteuren zu überlassen und insbesondere auch Vergeltungsexzesse gegen Vertreter der Regierungspartei zu unterbinden. Gleichzeitig muss ein ernsthafter juristischer Prozess der Aufarbeitung der Gewalt in die Wege geleitet werden, wie es uz-Zaman bereits angekündigt hat. 

Um die Vorherrschaft über das Erbe der Revolution ringen nun mehrere Machtzentren – allen voran die Studentenvertreter, ohne deren Beteiligung eine Übergangsregierung nur wenig politisches Kapital besäße, was wiederum zu neuerlichen Protesten führen dürfte. Die Studentenvertreter gaben bereits bekannt, dass sie den Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus als Chefberater ihrer geplanten Übergangsregierung gewinnen konnten. Weitere Namen sind noch nicht bestätigt, geplante Ankündigungen wurden mehrmals verschoben.

Welche weiteren Machzentren gibt es? 

Dazu kommt die größte Oppositionspartei BNP, eine Mitte-rechts-Partei, die sich in der Geschichte von Bangladesch mehrmals mit der Awami-Liga an der Macht abwechselte, jedoch als kaum weniger korrupt gilt. Auch der BNP wurden zu ihrer Amtszeit schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Die Grande Dame der Partei und langjährige Rivalin von Sheikh Hasina, die schwer kranke ehemalige Ministerpräsidentin Khaleda Zia, wurde bereits aus dem Gefängnis entlassen. 

Die islamistische Jamaat möchte ebenfalls eine Rolle spielen. Sie verfügt über einen hocheffizienten Parteiapparat und eine große Zahl an protesterfahrenen Unterstützern und spielte eine wichtige Rolle bei der Überwindung der Ausgangssperre, dürfte aber dennoch eher überschaubaren Rückhalt in der Gesamtbevölkerung genießen. Die Regierung von Sheikh Hasina hatte die Jamaat erst kürzlich verboten. 

Auch Vertreter der Awami-Liga und Loyalisten der alten Regierung im Militär ringen um Einfluss. Am Dienstag distanzierten sich in der Tageszeitung Prothom Alo bereits mehrere hochrangige Vertreter der Awami-Liga von Hasina. Die Armeeführung lud unmittelbar nach der Flucht Hasinas Vertreter von BNP, Jamaat sowie den progressiven Politiker Jonayed Saki zu Konsultationen ein.

Wie wird im wichtigsten Nachbarland Indien auf den Sturz der Regierung reagiert?

Delhi dürfte versuchen, Sicherheitsgarantien von den neuen Machthabern in Dhaka zu erhalten und politisch seinen Einfluss spielen zu lassen. Das Land gehört zu den engsten Unterstützern der Awami-Liga und hielt bisher eine schützende Hand über Hasina. Indien verfolgt eigene Sicherheitsinteressen in Bangladesch. Das Land ist für die Sicherheitsarchitektur der sogenannten Seven Sister States im Nordosten Indiens, für die Absicherung der Himalaya-Grenze zu China sowie für die maritime Sicherheit im Golf von Bengalen von großer geopolitischer Bedeutung für Delhi. Indien fürchtet nun einen Einflussgewinn Pakistans und Chinas sowie eine mögliche Machtübernahme der islamistischen Jamaat. Auch die BNP ist in Delhi verhasst, ihr wird die Unterstützung von Separatisten in den Seven Sister States vorgeworfen. Der eskalierende Bürgerkrieg im benachbarten Myanmar verschärft die Sicherheitsbedenken in Delhi, genauso wie Berichte über Gewalt gegen Hindus in Bangladesch. Hindunationalistische Medien fordern bereits eine militärische Intervention. Doch angesichts der grassierenden anti-indischen Stimmung in Bangladesch wäre das nicht nur ein Bruch der Souveränität des Nachbarlandes, sondern auch ein Desaster mit Ansage.